Wir haben die mythische Stufe der Kultur- und Bewusstseinsentwicklung als eine kennengelernt, bei der es keine Trennung zwischen menschlicher Gemeinschaft und nicht-menschlicher Mitwelt gab. Beide Seiten hatten nicht nur ihren gleichberechtigten Platz, sondern standen in enger Beziehung zueinander. Davon waren die religiösen Vorstellungen betroffen, aber sicher auch das praktische Alltagsbewusstsein, das wohl in wesentlichen Zügen in jene eingebettet war. Seither hat aber eine schrittweise Separierung der beiden Mitwelten stattgefunden, und zwar in dem Sinne, dass eine zunehmende anthropozentrische Fixierung auf die soziale Seite mit einer zunehmenden Verdrängung der biophysischen Seite aus dem Bewusstsein einherging. Dies war deshalb möglich, weil die zivilisatorische Entwicklung es immer mehr Menschen ermöglichte, ohne unmittelbaren und lebensnotwendigen Kontakt zur Natur zu leben. Jedenfalls war das für die gesellschaftlichen Eliten der Fall. Zwar erforderten bis in dieses Jahrhundert hinein für einen Grossteil der Bevölkerung landwirtschaftliche und in abgeschwächtem Masse auch handwerkliche Tätigkeiten noch einen Umgang mit der biophysischen Aussenwelt, und während diese Lebensweise sicher noch gewisse Aspekte einer mythischen Kultur konservieren konnte, blieben sicher auch dort die rationalisierenden Anstrengungen der kirchlichen und adligen, später behördlichen, Obrigkeit nicht ohne Einfluss.
Heute scheint die weitherum vorherrschende Meinung die zu sein, dass jegliche Bedeutungen, die Erscheinungen der natürlichen biophysischen Mitwelt zugesprochen werden, nichts mit dem eigentlichen Wesen dieser Erscheinungen zu tun haben, sondern immer und unweigerlich einer sozio-kulturellen Symbolik entstammen. Mit andern Worten, es wird die Auffassung vertreten, der Mensch könne zwar eine soziale oder kulturelle Identität annehmen, aber nicht eine raumbezogene Identität, die durch die Beziehungen des betreffenden Menschen zu seiner biophysischen Aussenwelt entsteht. Allerdings gibt es zu dieser Frage eine innergeographische Kontroverse, auf die ich mich hier nicht im Detail einlassen will, von der ich aber doch einige Punkte mindestens erwähnen möchte. Die Kritiker, die die Idee einer raumbezogenen Identität ablehnen, führen dagegen ins
Feld:153Vgl. Markus Nauser 1993.
Eine solche mag in vorindustriellen Gesellschaften möglich gewesen sein, für die heutige Gesellschaft ist sie aber irrelevant; soziale Strukturen und Prozesse sind unabhängig von biophysisch-räumlichen Gegebenheiten; bei beobachtbaren Formen von "Regionalbewusstsein" oder dergleichen handelt es sich um Manipulation von oben; soziale Systeme der Moderne bauen immer mehr statt auf Interaktion auf Kommunikation auf, die grundsätzlich ein aräumliches Phänomen ist. Nun, ich denke diese Liste zeigt sehr schön die Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, aber nicht unveränderbare Zustände, die etwa auf einer Art von menschlichen oder gesellschaftlichen Konstanten beruhen würden. Tatsächlich wird ja die Möglichkeit einer raumbezogenen Identität für frühere Phasen der kulturellen Evolution eingeräumt; und wir haben oben an die mythische Sicht auf die biophysische Aussenwelt erinnert. Natürlich kann man sich fragen, ob nicht schon hier die Interpretation dieser Aussenwelt gänzlich gesellschaftlichen Ursprungs ist und damit einer Fiktion entspricht. Ich glaube nicht, dass dies ausschliesslich der Fall ist, obschon ja die Natur mit menschenähnlichen Wesen bevölkert wird. In ihnen kommt aber die menschliche Erfahrung der Unverfügbarkeit von Naturkräften zum Ausdruck, und diese hat einen eminent ökologischen Charakter. Jedenfalls aber: Heute haben wir in dieser Hinsicht sicher ein Problem.
Lässt sich daran etwas ändern? Es braucht in einem gewissen Sinne eine Rekonstruktion evolutionär älterer Zustände, natürlich nicht dem Inhalt, sondern nur dem Prinzip nach, was dann letztlich eine ökologische Anbindung an Rahmenbedingungen ermöglichen würde, die für die Sicherung unserer Lebensgrundlagen unabdingbar
sind.154Siehe Lang 1993, 254-256.
Erinnern wir uns, neben dem schon genannten mythischen Zeitalter, an das, was wir oben über die fortgeschrittenen Säugetiere (als Beispiel nannten wir die Paviane) gesagt haben: Ein Wissen über den weiteren Lebensraum kommt bei ihnen über soziale Kommunikation zustande; damit stehen wir am Anfang einer Entwicklung, die die biophysische Aussenwelt immer mehr "vergesellschaftet" und ihr Eigensein vergisst. In diesem Anfangsstadium ist aber diese Gefahr noch nicht vorhanden, da das vorhandene Wissen von den Individuen notwendigerweise immer wieder einem ökologischen Test unterworfen werden muss und allenfalls in implizit korrigierter Form wieder zurück in die Gruppe kommt. Etwas Ähnliches traf auch in der neueren Menschheitsgeschichte noch auf jene Segmente der Bevölkerung zu, die traditionelle Formen von Landwirtschaft betrieben. Und etwas Entsprechendes, nämlich eine individuelle, persönliche Erfahrbarkeit, muss auch beim modernen oder postmodernen Menschen wieder möglich werden. Mit Bezug auf eine schon alte, grundlegende buddhistische Auffassung zu dieser Problematik meint Diana Paul: "Die Sprache erfüllt eine nützliche soziale und zwischenmenschliche Funktion, indem sie uns erlaubt, miteinander zu kommunizieren, Beziehungen zu knüpfen und die gegenseitige Verständigung in unserer Gesellschaft zu fördern. Die Wirklichkeit jedoch muss ganz persönlich und direkt erfahren werden und nicht durch das Medium der
Sprache."155So meint z.B. Gebhard: "Vieles spricht dafür, dass das menschliche Verhältnis zur Umwelt und zur lebendigen Natur in weiten Teilen unbewusst ist" (Gebhard 1990, 10).
Insofern die direkte Erfahrung natürliche Komponenten in der biophysischen Aussenwelt betreffen soll, liegen die Hindernisse, die sich einem solchen Anliegen in den Weg stellen, offensichtlich beim Grad der Urbanisierung, die die heutige Zivilisation erreicht hat. Diese betrifft sowohl das gesellschaftliche wie auch das biophysische Milieu; das eine ist das Spiegelbild des andern. In einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen im Alltag naturfern leben, können sich Gewohnheiten ergeben, die in hohem Grade unökologisch sind, Gewohnheiten, die aber als normal erscheinen und deshalb auch nicht hinterfragt
werden.156Siehe Råberg 1987, 85.
An der Entstehung solcher "Normalitäten" können Systemzwänge (vgl. Abschnitt 5.1), aber auch freie Wahl beteiligt sein. Ein prominentes, ökologisch schädliches Beispiel für die heutige Situation ist die motorisierte Mobilität. Allerdings ist dies auch ein Beispiel, bei dem der Grad der Sensibilisierung für die damit verbundene Problematik schon weit fortgeschritten ist, so dass ein Wandel möglich erscheint. Allgemein kann eine durch das diskursive Bewusstsein gesteuerte Aufklärung zur Überwindung schädlicher Gewohnheiten führen, jedenfalls solange diese in jedem Fall auf die lokalen Gegebenheiten Rücksicht nimmt und nicht einfach im obigen Sinne diesen Gegebenheiten aus einer generellen Theorie abgeleitete Massnahmen aufpfropfen will. Das Gegenstück dazu besteht in der Naturverdrängung urbanisierter Landschaften mit ihren Asphalt- und Betonwüsten. Wenn ich aber in meinem Alltag Natur nicht offensichtlich und regelmässig erfahren kann, kann ich an der Wahrnehmung der biophysischen Aussenwelt auch keine ökologisch sinnvolle Orientierung erlangen. Beide Seiten, die gesellschaftlich induzierten Gewohnheiten und die aus dem Lot geratenen Kunstlandschaften, ver- und bestärken sich gegenseitig. Eine Gesellschaft schafft ihr eigenes biophysisches Milieu, und dieses wird, wie Alfred Lang dies ausdrückt, zu ihrem externen Gedächtnis und kann so einen lang andauernden Einfluss in der Zukunft
haben.157Vgl. Gebhard 1994, 9.
Der Streitpunkt also: Kann der Mensch derart in ein Verhältnis zu den natürlichen Aspekten der Aussenwelt treten, dass er in ihnen einen eigenen Sinn oder gar Wert sehen kann? Die vorherrschende Meinung ist offenbar: Nein, dies ist nicht möglich. Alles, was wir darin sehen, ist gesellschaftlich bestimmt. Demgegenüber bin ich der Ansicht, dass es mögliche unvermittelte Zugänge zur Natur gibt, dass diese Möglichkeit aber heute entweder verschüttet ist oder aber übersehen und verdrängt wird. Natürlich ist die gesellschaftliche Bestimmung gegenwärtig markant oder dominant, aber nicht, weil dies notgedrungen so sein muss. Es stellt sich somit die Frage, was es mit der Möglichkeit eines Zuganges zur Natur auf sich hat. Im Abschnitt 3.1 haben wir eine mystische Komponente (Zugang zur eigenen inneren Natur) von einer ästhetischen Komponente (Zugang zur äusseren Natur) unterschieden. Bei dem, was uns vorschwebt, müssen wohl beide zusammenwirken und in beiden Fällen ist das Unbewusste angesprochen, also die Bewusstseinsebene, auf der wir die Welt im Sinne eine Weltverbundenheit erfahren
können.158H.F. Searles: The Nonhuman Environment in Normal Development and Schizophrenia, New York 1960.
Die Möglichkeit des Wiederfindens eines Zugangs zur natürlichen Mitwelt ist also nicht bloss eine Angelegenheit der Reorientierung des praktischen Bewusstseins, sondern in ausgesprochenem Masse auch eine der Verbindung zum Unbewussten, so dass mit den letzten Bemerkungen also bereits eine Überleitung zum Abschnitt 5.3 angesprochen ist. Eines ist dabei klarzustellen: In keinem Fall geht es darum zu behaupten, wir könnten eine Art des Zugangs zur Natur finden, die uns offenbart, was und wie die Natur wirklich ist, was immer das heissen mag. Es geht darum zu sagen, dass es die Möglichkeit einer Beziehung zur Natur gebe, die relativ unbelastet von gesellschaftlichen Vorgaben sein könne, und dass diese Möglichkeit ausgeschöpft werden sollte, da sie für die Entwicklung einer ökologischen Identität des kindlichen wie auch des erwachsenen Menschen eine konstitutive Bedeutung hat.
Umgekehrt: Wenn wir nicht fähig sind, in der Natur eigenständige Werte zu entdecken, wenn alle unsere Erfahrungen nur mittels einer durch sozio-kulturelle Symbolik geformten Brille gemacht werden, dann sind wir immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen und damit in der Tat orientierungslos. Dem stehen Erlebnisse wie etwa das von Wilson berichtete (vgl. Abschnitt 3.1) gegenüber. Natürlich kann man sagen, in solchen Erlebnissen kämen Aspekte eines Gegenbildes der gegenwärtigen Gesellschaft zum Ausdruck und damit seien auch sie letztlich gesellschaftlich bestimmt. In einem gewissen Sinne ist dies richtig, denn tatsächlich handelt es sich ja um das in unserer Zivilisation sonst weitgehend verdrängte Unbewusste, das sich meldet. Der springende Punkt aber ist der: Mit dem Durchbrechen der Verdrängung kommt nicht einfach Fehlendes als komplementäre Ergänzung des vorherrschenden Bewusstseins an die Oberfläche, sondern es handelt sich auch um eine spontane Äusserung aus psychischer Tiefe mit einem eigenständigen, autonomen Charakter.