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Bewusstsein

Vernünftig werden heißt weiblich werden! Beitrag zu einer evolutionären Bewußtseinsökologie

Dieter Steiner
Dieser Artikel ist erschienen in Wolfgang Zierhofer und Dieter Steiner (Hrsg.): Vernunft angesichts der Umweltzerstörung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, S.197-264.
1. Einleitung: Die Krise ist männlich ... (S. 197-205)
Die Frage, was Vernunft angesichts der ökologischen Krise bedeuten kann, möchte ich in diesem Beitrag so aufgreifen, daß ich sie mit der Geschlechterproblematik in unserer Gesellschaft in Verbindung bringe.1
Ich baue dabei auf Gedankengut auf, von dem ich gewisse Aspekte schon in einem früheren kürzeren Papier dargestellt habe (Steiner 1993b). Dank schulde ich meinen MitarbeiterInnen für fruchtbare Diskussionen über das Thema des Textes im allgemeinen und über frühere Versionen desselben im besonderen: Huib Ernste, Jakob Weiss, Corine Mauch, Dagmar Reichert, Alec Schaerer und Joachim Schütz, vor allem aber Wolfgang Zierhofer.
Ein historischer Rückblick zeigt, daß sich die letzten vier- oder fünftausend Jahre der abendländischen Kulturgeschichte durch die Kontinuität eines Patriarchates, also einer Herrschaft der Männer über die Frauen auszeichnen. Diese Entwicklung hat sowohl einen sozial- wie auch einen bewußtseinsökologischen Aspekt, d.h. es gibt ein Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Strukturen einerseits und Bewußtseinszuständen und daraus entspringenden Handlungsweisen andererseits. Die patriarchale Ordnung der gesellschaftlichen Strukturen äußert sich wie folgt: Der evolutionär ältere Bereich des Verwandtschaftlichen und Familiären, heute des Privaten, ist den Frauen zugewiesen, während die evolutionär jüngeren Bereiche des Politischen und des Ökonomischen den Männern (deren „Erfindung" sie ja auch sind) vorbehalten sind. Ebenso sind Frauen von der Mitwirkung in Wissenschaft und Philosophie weitgehend ausgeschlossen. Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich hier eine Trendwende ab. Als bewußtseinsmäßiges Korrelat zur Geschlechterdifferenz auf der strukturellen Ebene sehe ich eine eher weiter gefaßte „Vernunft" auf der weiblichen und ein eher enger gefaßter „Verstand" auf der männlichen Seite. Diese Unterscheidung hat einen Bezug zur bekannten Kontrastierung einer „instrumentellen" mit einer „kommunikativen" Rationalität, wie wir sehen werden.
Diesen geschlechtsbasierten Differenzierungen ist ein gewisser Grad von Natürlichkeit nicht abzusprechen. So hat, wie Günter Dux2
S. Günter Dux 1992, 164ff.
ausführt, die in den genannten gesellschaftlichen Strukturen zum Ausdruck kommende „Innenpositionalisierung der Frau" und die „Außenpositionalisierung des Mannes" ihre Basis in der Physiologie der Geschlechter. Damit ist aber eben nur eine Basis, eine Anlage angesprochen. In der gesellschaftlichen Entwicklung hat sich daraus eine übersteigerte Polarisierung ergeben, die keinesfalls einer evolutionären Notwendigkeit entsprechen kann.3
Interessanterweise kann eine solche Polarisierung schon bei den kulturell noch „unverdorbenen" Verwandten von uns, den Tierprimaten, beobachtet werden. Nach Hans Kummer zeigt das Verhaltensrepertoire von weiblichen und männlichen Individuen zwar Verschiedenheiten, aber auch eine starke Überlappung. Die üblichen sozialen Konstellationen bewirken dann aber eine Übersteigerung der anlagemäßig an sich geringen Unterschiede. Hauptaspekt des männlichen Verhaltenssyndroms ist der „Aggress". Darunter ist nicht Aggressivität (was ein engerer Begriff darstellt) zu verstehen, sondern „das energisch tätliche Herantreten an die Umwelt". Im Unterschied dazu ist der Hauptfaktor des weiblichen Syndroms „der pflegerische soziale Zusammenhalt" (Kummer 1980, 146).
Dasselbe gilt dann parallel für die Ebene von Bewußtsein und Handlung, indem sich ursprünglich wohl geringfügige Verhaltensunterschiede unter sozialen Zwängen immer stärker differenziert haben. Angesichts des Umstandes, daß sich der Mensch offenbar zu einem instinktarmen Lebewesen entwickelt hat, dürften heute biologische Unterschiede sowieso kaum mehr mit angeborenen Verhaltensweisen, sondern viel eher mit Dispositionen für Weisen der Welterfahrung zu tun haben.4
Dazu meint etwa Jutta Voß: „... mein Leib und meine Leiberfahrung sind die einer Frau. Es gibt keinen Mann, der je erfahren könnte, wie Frauen ihre Menstruation erleben ..." (Voß 1990, 20). Wenn die empirisch beobachtbaren Unterschiede zwischen Mann und Frau höchstens partiell eine geschlechtsspezifische Basis haben, dann gibt es Gründe, die nahelegen, „weiblich" und „männlich" in Anführungszeichen zu setzen, andere, dies nicht zu tun. Der Einfachheit halber habe ich mich für das zweite entschieden.
Ich verstehe nun die Krise der Gegenwart als ein Resultat dieser geschlechtermäßig polarisierten Kulturgeschichte. Daß im speziellen die Problematik der Umweltzerstörung damit zusammenhängt, scheint plausibel, wenn wir bedenken, daß durch die gesamte abendländische Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft, also aus männlicher Sicht, die Gleichstellung von Frau und Natur den Normalfall darstellt.5
Vgl. Geneviève Lloyd 1985.
„Durch die alte Gleichsetzung der Natur mit einer Nahrung spendenden Mutter berührt sich die Geschichte der Frauen mit der Geschichte der Umwelt und des ökologischen Wandels".6
Carolyn Merchant 1987, 12.
Für das männliche Bewußtsein hatte die Gleichung Frau = Natur die Funktion, seine Höherstellung zu begründen. Positiv gesehen ist sie dann nicht unsinnig, wenn ein weiter Begriff der Natur gemeint ist, einer, der sich auf die evolutionäre Kontinuität von Biologie zu menschlicher Kultur bezieht. So gesehen kann man umgekehrt mit Marilyn French dann auch sagen: „Für den Mann ist es natürlich, unnatürlich zu sein".7
Marilyn French 1985, 115. French zitiert mit diesem Satz Robin Fox 1975, 54: "It is ... natural to man to be unnatural ...", der eigentlich mit "man" den Menschen allgemein und nicht nur den Mann meint.
Die genannte Unterscheidung von „Verstand" und „Vernunft" möchte von der heute gängigen Gleichsetzung der beiden Begriffe mit dem der „Rationalität" Abstand nehmen. Als Synonyme beziehen sich alle drei auf ein eingeengtes Verständnis der psychischen Fähigkeiten des Menschen, auf eines, das ihre Bedeutung im Prinzip auf das reduziert, was auch „Intelligenz" genannt wird. So etwa sagt Nicholas Rescher: „Rationalität besteht in dem angemessenen Gebrauch der Vernunft, um Probleme auf die bestmögliche Weise zu lösen. Sich rational zu verhalten, heißt, von der eigenen Intelligenz Gebrauch zu machen, um herauszubekommen, was in den jeweiligen Umständen am besten zu tun ist."8
Nicholas Rescher 1993, 1-2.
Mit der Distanzierung von diesem eingeengten Verständnis möchte ich zunächst an der Kantischen Gegenüberstellung von Verstand und Vernunft anschließen: Der „Verstand [ist] ... das diskursive9
Dabei meint „diskursiv" „dasjenige Denken ... , das Schritt für Schritt vorgeht, das von einer Vorstellung zu einer andern Vorstellung logisch fortschreitet und das Ganze ... aus seinen Teilen aufbaut" (Alexander Ulfig 1993, 91).
Erkenntnisvermögen, das ... auf die sinnliche Anschauung ... angewiesen ist. ... [Er] ordnet mittels der Begriffe die Anschauung (bzw. das Mannigfaltige der Erscheinungen) zu einer Einheit ...", und: „... die Vernunft ... bezieht sich ... auf das Ganze, auf den universellen Zusammenhang aller Wirklichkeit und allen Geschehens ...; sie ist die Fähigkeit bzw. das Vermögen des Erfassens von übergreifenden Ordnungs- und Sinnzusammenhängen ...".10
Ulfig 1993, 459 bzw. 456.
Die Betonung ist hier auf der Vernunft als einer Quelle der Orientierung und nicht als einem Hilfsmittel zur Problemlösung. Es ist möglich, daß ein Problem verschwindet oder anders aussieht, wenn eine solche Orientierung vorhanden ist.
In einem zweiten Schritt aber geht es mir darum, eine zusätzliche Erweiterung des Vernunftbegriffs ins Auge zu fassen, nämlich eine, die das, was üblicherweise als ihr Gegenstück verstanden wird, das „Andere der Vernunft"11
Die Rede vom „Andern der Vernunft" weist auf den Leitgedanken der abendländischen Philosophie hin, wonach in Gefühlen keine Erkenntnissicherheit zu gewinnen ist. Heute aber wird die Bedeutung der Gefühle wiederentdeckt und damit verändert sich die genannte Position. S. dazu Heinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann 1993.
gerade einschließt. Gerhard Huber kommt uns hier entgegen, wenn er sagt, das Wort „Vernunft" sei auf das zu beziehen, was sprachlich in ihm steckt, nämlich das „Vernehmen".12
Vgl. Gerhard Huber 1990, 110.
Das Vernehmbare aber kann nicht nur aus dem im obersten Bewußtsein angesiedelten Denken stammen, sondern es kommt ebenso sehr oder sogar eher aus dem Wesenhaften, das uns „in der lebendig erfahrenen Natur, im künstlerischen Gebilde, in der mitmenschlichen Beziehung"13
Huber 1981, 139.
begegnet. Einem solchen Vernunftverständnis ist „so etwas wie eine religiöse Bedeutung eigen, gesetzt, ‚religiös' heiße die Bindung an ein Überlegenes ..., wovon der darum Wissende abhängig ist und dem er zu entsprechen sucht".14
Huber 1981, 140.
Figur 1: Modellhafte Darstellung der menschlischen Bewusstseinsebenen mit ihren psychischen Funktionen und zugeordneten Rationalitätstypen
Figur 1: Modellhafte Darstellung der menschlischen Bewusstseinsebenen mit ihren psychischen Funktionen und zugeordneten Rationalitätstypen
Als Grundlage für die Strukturierung der bewußtseinsökologischen Aspekte der folgenden Ausführungen benutze ich die in Figur 1 gezeigte modellhafte Skizze der Einteilung der menschlichen Psyche in die drei Ebenen des diskursiven Bewußtseins, des praktischen Bewußtseins und des Unbewußten.15
Vgl. Anthony Giddens 1988, 57.
In den drei Ebenen sind die Funktionen des Erkennens und Denkens, des Wahrnehmens und Tuns bzw. des Fühlens und Bewertens angesiedelt. Mit Pestalozzi können wir von „Kopf, Hand und Herz" reden. Zugang zur eigenen inneren Welt (inkl. zu seinem Leib) hat der Mensch über eine Verknüpfung der verschiedenen Ebenen, zur äußeren Welt über das mit „Merk- und Wirkorganen"16
Dies sind Begriffe, die von Jakob von Uexküll in seiner Funktionskreis-Lehre der Beziehungen zwischen Lebewesen und Umwelt verwendet werden (s. z.B. Uexküll 1980, 188ff.) Zur humanökologischen Bedeutung dieser Lehre s. Parto Teherani-Krönner 1992, 34ff.
verbundene praktische Bewußtsein, das eine zweifache Ausrichtung auf eine biophysische und eine soziale Umwelt hat. Den drei Bewußtseinsebenen können wir die klassische Dreiteilung in eine „theoretische(-kognitive)", eine „praktische(-moralische)" und eine „ästhetische(-evaluative" bzw. „-expressive)" Vernunft (oder Rationalität) zuordnen, nämlich: die theoretische Vernunft dem diskursiven Bewußtsein, die praktische Vernunft dem praktischen Bewußtsein und die ästhetische Vernunft dem Unbewußten.17
Wenn unter „Ästhetik" „die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung" (Ulfig 1993, 43) verstanden wird, ist klar, daß eine ästhetische Rationalität nur durch ein Zusammenwirken von einem nach außen gerichteten praktischen Bewußtsein und dem Unbewußten entstehen kann. „Die Ästhetik als Wahrnehmungstheorie ... hat eben damit zu tun, daß man sich durch Umgebungen und Gegenstände affektiv betroffen fühlt ..." (Gernot Böhme 1989, 11). Andererseits kann aber Gefühlhaftes auch einer Eigenleistung des Unbewußten entspringen und ohne Kontakt mit der Außenwelt zustande kommen.
Nach dem üblichen Verständnis von Rationalität wäre diese Zuordnung zunächst so zu verstehen, daß jeder Typ mit Phänomenen zu tun hat, die in der jeweils genannten Bewußtseinsebene ihren Ursprung haben.
Es ist offensichtlich, daß sich eine zusammenhängende, umfassende Vernunft aus einer Kombination der drei genannten Rationalitäten ergeben muß. Dabei wäre aber zu fragen, ob nicht in Abweichung vom gerade genannten üblichen Verständnis jede Teilvernunft direkt auf die ihr entsprechende Bewußtseinsebene mit den assoziierten psychischen Funktionen bezogen werden sollte, und zwar, um verlustreiche Projektionen von Inhalten aus den „unteren" Bewußtseinsebenen in die „oberste" Ebene zu vermeiden. Eine solche Projektion liegt vor, wenn in eingeengter Sichtweise, wie sie z.B. von Rescher vertreten wird, jede Teilvernunft in identischer Weise als eine Fähigkeit gesehen wird, Rechenschaft abzulegen bzw. eine Begründung dessen zu liefern, was man tut.18
S. Rescher 1993, 5. Mit seiner Auffassung ergeben sich Anknüpfungspunkte an die Theorie der kommunikativen Rationalität von Jürgen Habermas, mit der ich mich in Abschnitt 3.2 befassen werde.
Im folgenden werde ich auch unter der modifizierten Perspektive den Begriff „Rationalität" für die Bezeichnung der drei Vernunftteile beibehalten. „Rational" ist dann nicht nur eine diskursiv operierende Denkfähigkeit, sondern sind auch die mit dem praktischen Bewußtsein und dem Unbewußten verbundenen psychischen Funktionen.19
Zum Vergleich sei auf die Auffassung von Carl Gustav Jung verwiesen, wonach auch das Fühlen als eine rationale psychische Funktion betrachten werden sollte (s. Jolande Jacobi 1971, 15). Ich möchte natürlich nicht behaupten, daß es völlig klar ist, was es bedeuten könnte oder sollte, wenn wir sagen, eine expressiv-evaluative Rationalität müsse mit dem Fühlen direkt statt mit dem argumentativen Sprechen darüber zu tun haben. „Direkt" ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, weil ja das Fühlen auf alle Fälle eine Ausdrucksform braucht, wenn es mitgeteilt werden soll. Aber wir können uns vorstellen, daß dies dann eine Ausdrucksform nicht-sprachlicher Art sein könnte.
Die Bedeutung der verschiedenen Bewußtseinsebenen erhellt sich weiter, wenn wir sie in Anlehnung an Bernd Biervert und Josef Wieland sowie Martin Buber mit je einem Beziehungstyp assoziieren: Das Unbewußte mit dem Typ Mensch-Kosmos bzw. Ich-Welt (in religiöser Interpretation Ich-Heiliges oder -Göttliches), das praktische Bewußtsein mit dem Typ Mensch-Mensch oder Mensch-Mitwelt (Mitwelt = andere Lebewesen, Landschaften usw.) bzw. Ich-Du, und das diskursive Bewußtsein mit dem Typ Mensch-Ding bzw. Ich-Es.20
Vgl. Bernd Biervert und Josef Wieland 1990, 12 und Huber 1975 (bezüglich Buber). Daß eine Ich-Du-Beziehung auch für den Zugang zur biophysischen Umwelt gilt, ist ausdrücklich eine Vorstellung von Buber. Sie deutet auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Ausweitung des Bereichs unserer moralischen Verpflichtungen (s. dazu z.B. Huber 1984). Im Falle der Mensch-Ding- bzw. Ich-Es-Beziehung kann auch eine Ding-Ding-Beziehung, die gewissermaßen die Eigenbewegung der Dinge thematisiert, eingeschlossen sein.
Dabei wäre zu bedenken, daß wir bei der Betrachtung früherer Phasen der menschlichen Entwicklung die Rede von einem „Ich" von der modernen Vorstellung eines ausgewachsenen Subjektes weg zu einem mehr metaphorischen Gebrauch des Begriffs zurückbuchstabieren sollten.
Unbewußtes, praktisches Bewußtsein und diskursives Bewußtsein bilden, in dieser Sequenz, eine evolutionäre Folge. Das erstere (jedenfalls das sog. kollektive Unbewußte, das uns hier besonders interessiert) besteht nach Jung aus der „Summe der Instinkte und ihrer Korrelate, der Archetypen" (der Urbilder),21
Jung 1976, 21.
umfaßt also stammesgeschichtlich erworbene und genetisch verankerte Verhaltens- und Erfahrensweisen. Wenn es stimmt, daß Materie und Psyche die Außen- und Innenansicht ein und derselben bewußtseinstranszendenten Wirklichkeit sind,22
Vgl. Marie-Louise von Franz 1970, 244.
dann ist anzunehmen, daß das Unbewußte in der Erweiterung seines kollektiven Aspektes letztlich Anschluß am „Unus Mundus", der Einheitswirklichkeit, hat. Insofern es so im Universellen wurzelt, wird die obige Rede von der Mensch-Kosmos-Beziehung auch verständlich. Im Zugang zu uns selbst finden wir Zugang zur Welt.23
Wir erleben das, was Gabriel Marcel „Mysterium" nennt (s. zu diesem Begriff z.B. die Exegese von Sonia Kruks 1990, 34ff.).
Das praktische Bewußtsein bildet sich durch ontogenetisches Lernen sowohl in der biophysischen wie der sozialen Umwelt, was sich auf die Tradierung von Informationen, aber auch auf eigenbestimmte Exploration beziehen kann. Dies geschieht immer in der Begegnung mit einer ganz bestimmten Umwelt und kann sich somit immer nur auf Besonderes beziehen. Das diskursive Bewußtsein schließlich kann sich mittels abstrahierendem, erinnerndem und antizipierendem Denken auf eine imaginierte Welt beziehen. Es besitzt damit ein Verallgemeinerungsvermögen und kann so versuchen, das Partikuläre wieder in Richtung Universalität zu verlassen. Mit dem expliziten Formalismus, den es dabei verwendet, sind aber nur vordergründige Teilwahrheiten darstellbar. Michael Polanyi hat sich ausführlich mit diesem Phänomen beschäftigt: Aus explizitem Wissen kann nur dann ganzheitliches Wissen werden, wenn es in einen impliziten Hintergrund eingebettet ist.24
Vgl. Michael Polanyi 1958 und 1985, Polanyi und Harry Prosch 1975 und Steiner 1991.
Wenn wir uns vorstellen, daß der letztere im praktischen Bewußtsein und im Unbewußten angesiedelt ist, haben wir damit auch von dieser Seite einen Hinweis auf die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens der verschiedenen Bewußtseinsebenen.
Evolutionäre Folgen zeichnen sich dadurch aus, daß ein jeweils neueres Phänomen sich aus einem älteren ausdifferenziert und sich von ihm in gewissem Umfang emanzipiert, daß es aber für seinen Weiterbestand gleichzeitig auf eine andauernde Einbettung in seinen Ursprung angewiesen ist. Im Sinne dieser Einbettung stellt die genannte Folge also auch eine Hierarchie dar. Wir dürfen annehmen, daß eine evolutionär-ökologische Verträglichkeit nur dann gewährleistet ist, wenn eine solche Hierarchie respektiert bleibt und ihre Komponenten in Wechselwirkung miteinander bleiben. Eine Betrachtung der abendländischen Bewußtseinsgeschichte zeigt, daß offenbar genau dies nicht der Fall ist. Erstens löst sich die Vernunft in ihre Bestandteile auf und verliert so ihre integrierende Kraft. Zwar sind nach Jürgen Habermas diese Bestandteile in der Lebenswelt „noch auf intime Weise verschränkt", aber die neuzeitlichen Expertenkulturen lassen die „Vernunft in ihre Momente zerfallen".25
Jürgen Habermas 1984, 522.
Der Hinweis auf die Expertenkulturen zeigt, daß parallel zu diesem Zerfall auch Spaltungserscheinungen im Bereich gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse auftreten. Zweitens tendiert das menschliche Bewußtsein zur kopflastigen Eindimensionalität, indem sich das diskursive Bewußtsein in Form des Verstandes zur alleinigen Herrschaft aufschwingt und einer „teilhaften Rationalität des Technischen, Szientifischen und Ökonomischen"26
Huber 1990, 110.
zum Durchbruch verhilft. Und drittens bedeutet diese Dominanz des „Kopfes", insofern er in einem einseitigen Verhältnis zu den älteren Bewußtseinsschichten steht, eine invertierte Hierarchie.27
Diese Situation der Inversion wird bei Polanyi und Prosch und Alisdair MacIntyre zwar nicht bis ins Ästhetische, aber bis zum Moralischen zurückverfolgt und als „moralische Inversion" (Polanyi und Prosch 1975, 18) bzw. „moralische Unordnung" (MacIntyre 1985, 2) thematisiert.
Spätestens die wachsende Dramatik der Krise der Gegenwart läßt uns bewußt werden, daß uns das, was wir oben als eigentliche Vernunft bezeichnet haben, abhanden gekommen ist.
In Abwesenheit anderer Orientierungspunkte aber kann sich die theoretische Rationalität an nichts anderem als an ihren eigenen Regeln ausrichten.28
Was eine derartige Reduktion bedeutet, zeigt sich auch schön am Rationalitätsverständnis von Rescher. Er sagt nämlich: „... obwohl ein Geschöpf, das unfähig ist, Emotionen zu verspüren, nicht als ein menschliches Wesen gelten kann, gibt es keinen Grund, weshalb es nicht als ein rationales Wesen gelten sollte" (Rescher 1993, 2). Das heißt aber doch umgekehrt, daß ein Konzept von nicht-menschlicher (um nicht zu sagen unmenschlicher) Rationalität auf den Menschen angewendet wird.
„Die Herrschaft der Regel" ist der Titel eines Buches von Bettina Heintz, in dem sie zu zeigen versucht, daß die algorithmische Aufbereitung mentaler Prozesse im Computer, die heute in der Künstlichen Intelligenz mündet, der gleichen Art von Bewußtseinszustand entstammt wie die schon früher entstandene tayloristisch-fordistische Zergliederung der Arbeitswelt.29
Bettina Heintz 1993a.
Die theoretische Rationalität mit ihrer Fähigkeit, in abstrakter Denkweise Zeichen, im Extremfall mathematische Symbole, zu manipulieren, ermöglicht von Haus aus eine Tendenz Richtung Instrumentalisierung. Problematisch wird dieser Umstand, wenn die Zeichen auf etwas in der Außenwelt verweisen und dieser Zusammenhang dazu benützt wird, die abstrakte Manipulation ohne irgendeine Kontrolle durch weitergreifendes Orientierungswissen in konkrete Handlungen umzusetzen. Eine instrumentelle Rationalität im handgreiflichen Sinne bekommen wir also dann, wenn ein Zusammenwirken von „Kopf" und „Hand" derart vorliegt, daß eine abstrahierend-manipulative Einstellung der konkreten Praxis aufgezwungen wird. Mit dem so akkumulierten Verfügungswissen können wir immer mehr, wissen aber immer weniger gut, was wir sollen. Das „Zugleich von wissenschaftlich-technischem Fortschritt und moralischer Impotenz"30
Huber 1978, 114.
stellt einen pathologischen Zustand dar, der Zerstörung ermöglicht. Dies umso mehr, als das vorhin genannte Regelhafte vor allem auch die „symbolischen Interaktionsmedien"31
Vgl. Talcott Parsons 1980.
der modernen Gesellschaft, in erster Linie Macht und Geld, alimentiert. Die damit ermöglichte anonyme Verknüpfung von Einzelhandlungen leistet aber einer „organisierten Unverantwortlichkeit"32
Untertitel des Buches „Gegengifte" von Ulrich Beck 1988.
Vorschub und führt zu systemischen Prozessen, die eine Eigengesetzlichkeit entwickeln.33
Der Historiker Christian Meier hat hierfür den Begriff des „autonomen Prozesses" geprägt. Dieser „entsteht durch ein Umschlagen von Handlungssummen in eine Eigendynamik" (Meier 1978, 42). Das Ganze läuft dann wie von selbst ab: „Die Beteiligten, die es in Gang halten, sind ihm unterworfen. Ihre eigenen Aktionen, Reaktionen und Anschlußreaktionen greifen so machtvoll und intensiv - sich multiplizierend und potenzierend - ineinander, daß das daraus resultierende Geschehen sich verselbständigt, eigene Kraft entfaltet und in den Beteiligten so viel Dynamik hervorruft, daß sie, was sie auch wollen, nur immer zur allgemeinen Bewegung beitragen können" (Meier 1978, 18).
Mein Ausgangspunkt war die Aussage, es bestehe eine Verbindung zwischen der ökologischen Krise und der Geschlechterproblematik in unserer Gesellschaft. Weiter war von der Gegenüberstellung eines männlichen und eines weiblichen Bewußtseinstyps die Rede, wobei dem ersteren der Begriff des „Verstandes", dem letzteren der der „Vernunft" entspreche. Mit den obigen Ausführungen ist nun klar geworden, daß, nach meinem Verständnis, der männliche Typ einen Zustand charakterisiert, in dem eine starke Desintegration der verschiedenen Bewußtseinsebenen und ein Primat der diskursiven Ebene vorliegen, der weibliche Typ dagegen einen, in dem noch ein stärker integriertes und ausgeglicheneres Wechselspiel zwischen diesen Ebenen vorhanden ist. In der folgenden Darstellung mache ich den Versuch, zunächst in knapper Form den zur heutigen Krisensituation führenden evolutionären Hintergrund etwas auszuleuchten, um dann in ausführlicherer Weise Ansätze zu möglichen Auswegen abzutasten. Dazu verwende ich eine humanökologisch inspirierte Sichtweise.34
Eine neuartige Humanökologie ist als Reaktion auf die genannte Krise seit den 80er-Jahren in Entstehung begriffen. Ich verstehe ihre Aufgabe als eine dreifache: 1. interdisziplinäre Verknüpfungen zwischen fachspezifischen Wissensbeständen herzustellen, 2. in transwissenschaftlicher Weise wissenschaftliches Bemühen in einen Kontext philosophischer Reflexion einerseits und lebensweltlicher Belange andererseits zu stellen, und 3. auf Vergangenheit und mögliche Zukunft des jeweils Untersuchten eine evolutionäre Perspektive anzuwenden (s. dazu Steiner 1993a).
Ich werde auf beide früher genannten Aspekte hinweisen, den bewußtseins- wie den sozialökologischen. Letztlich gilt unser Interesse aber mehr den ersteren, ganz einfach deshalb, weil Strukturen sich nicht von selbst ändern, Menschen aber immer eine Bewußtseinsveränderung anstreben können.
2. Zum Fortgang der Desintegration (S.205-218)
2.1 Archaisches und Magisches Bewusstsein (S.205-207)
2.2 Mythisches Bewusstsein (S.207-210)
2.3 Mentales Bewusstsein I (S.210-214)
2.4 Mentales Bewusstsein II (S.214-218)
3. Wege zur Reintegration (S.218-249)
3.1 Vorversicherung I: Bei einer postkonventionellen Gerechtigkeitsmoral (S.219-227)
3.2 Vorversicherung II: Bei einer kommunikativen Vernunft (S.227-237)
3.3 Rückversicherung I: Beim Gemeinschaftlich-Besonderen (S.238-244)
3.4 Rückversicherung II: Beim Kosmisch-Allgemeinen (S.244-249)
4. Zum Ausklang: ... die Zukunft weiblich (S.249-255)
Literatur (S.255-264)

Mensch und Lebensraum: Eine Geschichte der Entfremdung. Ein Essay in evolutionärer Bewusstseinsökologie

Dieter Steiner
Dieser Artikel ist erschienen in Dieter Steiner (Hrsg.): Mensch und Lebensraum. Fragen zu Identität und Wissen. Westdeutscher Verlag, Opladen1997, S. 41-120.
1. Einleitung (S. 40-43)
2. Unten und Oben, Innen und Aussen: Die bewusstseinsökologische Grundsituation (S.43-54)
2.1 Das Kreuz: Die vier Pole der Orientierung (S.43-46)
2.2 Natur und Geist: Partner oder Widersacher? (S.46-49)
2.3 Eine mittlere Ebene als Vermittlungsstelle: Das praktische Bewusstsein (S.49-54)
3. Welt, Mitwelt, Umwelt: Die drei Bewusstseinsebenen und ihre Beziehungsfähigkeit (S.54-67)
3.1 Die Welt und Ich (S.56-60)
3.2 Ich und Du, Du und Ich (S.60-63)
3.3 Ich und die Welt, Ich und Es (S.63-67)
4. Fische, Paviane, Menschen: Evolutionäre Hintergründe (S.68-86)
4.1 Identität und Wissen als zwei divergierende Entwicklungstendenzen (S.68-73)
4.2 Holistisch-kontemplative Lebensweise (S.73-76)
4.3 Sozial-kommunikative Lebensweise (S.77-80)
4.4 Subjektiv-kognitive Lebensweise (S.80-86)
4.4.1 Die archaische Stufe138
Vgl. Günter Dux 1990, 93.
(S.83)
4.4.2 Die magische Stufe139
"Nach Durchmessung der eigenen Seele ... findet der mythische Mensch den andern Menschen ... Auf dem Umweg über das Erwachen zu sich selber erwacht das Du ...," sagt Gebser (1949, 114).
(S.83-84)
4.4.3 Die mythische Stufe140
Vgl. Gebser 1949, 123 ff.
(S.84)
4.4.4 Die mentale Stufe143
Ich verwende hier den Begriff der "Umwelt" in Gegenüberstellung zu dem der "Welt" im gleichen Sinne, wie dies Picht tut (siehe unten). Nach der in dieser Arbeit angestrebften Terminologie müssten wir genauer davon reden, dass es um eine Vergewaltigung der Mitwelt geht und dass diese erst durch diese Vergewaltigung zur blossen Umwelt wird.
(S.85-86)
5. Vergewaltigung, Verdrängung, Veränstigung: Zu den heutigen Problemen (S.87-98)
5.1 Diskursives Bewusstsein: Die Welt vergewaltigt die Umwelt146
In Steiner 1996a habe ich zu diesem Phänomen ausführliche Stellung bezogen. Ich stelle dabei dem Trend zur Globalisierung die Notwendigkeit einer Regionalisierung entgegen. Im gleichen Band widerspricht Rolf Weder (1996a) als Vertreter der Mainstream-Ökonomie dieser Ansicht. Es sei im Gegenteil die globale Marktwirtschaft, die dank internationaler Arbeitsteilung und der Ausnutzung komparativer Vorteile einen effizienten Ressourcengebrauch und damit eine Lösung der ökologischen Probleme ermögliche. Zusätzlich zur Darstellung der eigenen Position liefern die beiden Autoren auch eine kurze gegenseitige Kritik derselben (Steiner 1996b und Weder 1996b).
(S.87-90)
5.2 Praktisches Bewusstsein (S.90-94)
5.3 Das Unbewusste: Angst vor ihm und Angst mit ihm (S.94-98)
6. Leere und Fülle (S.98-113)
6.1 Ökologisch relevante Charakteristikia der buddhistischen Bewusstseinslehre (S.99-106)
6.2 Überbrückende Hinweise auf einige westliche Ansätze (S.106-113)
6.2.1 Zu Haben und Sein, zu Machen und Wirken, zum kleinen und zum grossen Selbst (S.107-111)
6.2.2 Zu Kind und Kunst (S.111-113)
Literatur (S. 113-120)