Als zweiten Ansatz betrachten wir die von Jürgen Habermas entwickelte Theorie des kommunikativen
Handelns.27S. Habermas 1988. Kurze, übersichtliche Darstellungen seiner Theorie finden sich bei Reese-Schäfer 1991b und bei Wolfgang Zierhofer 1993.
Im Gegensatz zur Kohlbergschen Theorie wird hier die Möglichkeit einer Integration der Vernunft nicht in einer „natürlichen" Entwicklungssequenz des Subjektes gesehen, sondern in der Anstrengung eines intersubjektiven Prozesses. Aber auch das Projekt von Habermas kann als Blick auf die Zukunft interpretiert werden, wenn auch in anderem Sinne: Für ihn steckt in der Aufklärung und in der Modernisierung ein bisher noch brachliegendes Potential, das auf seine Ausschöpfung wartet. Seine Realisierung soll es uns ermöglichen, einen Weg aus der Misere zu finden. Es geht also um eine Fortsetzung der Aufklärung, um die Vollendung der Moderne. Das genannte Potential besteht in einer kommunikativen Rationalisierung unserer Gesellschaft, die an die Stelle der bisherigen instrumentellen Rationalisierung treten bzw. diese unter ihre Fittiche nehmen soll. Die kommunikative Rationalität ist ein Vermögen menschlicher Individuen, das seine empirische Basis in ihrer intersubjektiv geteilten
Lebenswelt28Dazu Habermas (1988, 107): „Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt. Ihre Lebenswelt baut sich aus mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundsüberzeugungen auf. ... Die Lebenswelt speichert die vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen; sie ist das konservative Gegengewicht gegen das Dissentrisiko."
hat. Die an ihr Teilhabenden müssen immer schon den gegenseitigen Willen zur Verständigung aufbringen, wenn ein Zusammenleben überhaupt möglich sein soll. Allerdings ist der lebensweltliche Horizont immer durch vorgefaßte und unhinterfragte Prämissen eingeengt. Eine kommunikative Rationalität auf höherer Ebene kommt dann zustande, wenn sie sich von inhaltlichen Fixpunkten freimachen kann (bzw., wenn sie von solchen ausgeht, die sie jederzeit in Frage stellen kann), und lediglich eine Verständigungsbereitschaft voraussetzt. Damit aber haben wir mit dem zu tun, was Klaus Eder das „Paradox der Kommunikation"
nennt:29S. Eder 1988, 17.
Sie zerstört kulturelle Selbstverständlichkeiten und ist doch zugleich - damit Kommunikation weiterlaufen kann - auf diese angewiesen.
Der Ausweg, den die Idee der kommunikativen Vernunft als möglich erachtet, besteht darin, den heute so oft auf das Instrumentelle eingeengten Horizont der handlungsleitenden Orientierung durch eine integrative Verknüpfung aller drei Rationalitäten, der theoretischen, der praktischen und der expressiv-evaluativen, zu erweitern. Dabei hat allerdings bei der diskursethischen
Variante,30Auch Habermas' Kollege Karl-Otto Apel hat eine Diskursethik entwickelt (s. Apel 1990). Zu Berührungspunkten und Verschiedenheiten zwischen Habermas und Apel s. den Beitrag von Wolfgang Zierhofer in diesem Band, zu Apel im speziellen Reese-Schäfer 1990.
d.h. also wenn es um die kommunikative Behandlung ethischer Fragen geht, die moralische Dimension einen ausgezeichneten Status, wenn auch auf erhöhter, metaethischer Ebene. Jedenfalls: Kommunikatives Handeln soll eine gesamtgesellschaftliche einheitliche Rationalität auf intersubjektiver Basis möglich machen. Darüber hinaus ist zweitens wichtig, daß die Integration über Menschen läuft, die als Teilnehmende an einem Diskurs in Form von Sprechhandlungen, die sich jeweils auf eine der drei Dimensionen beziehen, miteinander
interagieren.31Dies steht in fundamentalem Gegensatz zu Niklas Luhmanns Sicht einer multidimensionalen Gesellschaft, in der verschieden orientierte Teilsysteme beziehungs- und menschenlos nebeneinander stehen, in der damit eine Konkurrenz von Systemrationalitäten stattfindet (s. Luhmann 1986). Zu diesem Gegensatz s. Reese-Schäfer 1992, 133 und Johannes Weyer 1993, 18.
Voraussetzung eines Habermasschen Diskurses ist die Bereitschaft der Beteiligten, sich gegenseitig als Personen, die vernünftig argumentieren können, anzuerkennen. Jede gemachte Aussage muß begründbar sein und Geltungsansprüche erfüllen: Wahrheit im Falle der instrumentellen, Richtigkeit im Falle der moralischen, und Aufrichtigkeit im Falle der expressiven Dimension. Weiter muß Herrschaftsfreiheit gewährleistet sein, was heißt, daß Beziehungsasymmetrien zwischen Beteiligten, die außerhalb des Diskurses real existent sind, sich nicht in irgendeinem einschränkenden oder behindernden Sinne auswirken dürfen. Ein Diskurs, der sich nach diesen Regeln abwickelt, stellt dann das Mittel dar, um hinsichtlich der praktischen Behandlung eines Problems aufgrund eines Vorranges des besseren Argumentes schlussendlich zu einem Konsens zu kommen. Die Habermassche Theorie baut also, wie die Kohlbergsche, auf Universalisierbarkeit
auf,32Insofern haben sie durchaus etwas Gemeinsames. Dazu meinen Reese-Schäfer und Karl Theodor Schuon (1991, 8): „Eine moderne Ethik kann ... zusätzlich zum formalen Verallgemeinerungsprinzip auch inhaltliche Moralprinzipien begründen, etwa Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Frieden, Erhaltung des Lebens usw. Diese müssen allerdings jeweils durch das Verallgemeinerungsprinzip ausweisbar sein. Sowohl die Diskursethik als auch die Gerechtigkeitstheorie können in diesem Sinne der 'Familie Kantischer Ethiken' zugeordnet werden."
aber nicht in einem inhaltlichen, sondern bloß in einem methodischen Sinne, und zwar in zweifacher Hinsicht: Es ist allseitige Akzeptanz erstens hinsichtlich der in ihm zur Anwendung gelangenden Regeln und zweitens hinsichtlich des Diskursergebnisses gefordert.
Hat der Habermassche Ansatz das Potential, den von uns als nötig erachteten Grad von Bewußtseinsintegration zu leisten? Zunächst besteht sein Vorteil darin, daß er eine solche Integration nicht schon auf der substantiellen Ebene herbeiführen möchte, wie das bei Kohlberg der Fall ist. Wir haben festgestellt, daß dessen Versuch, das Integrative in dem zu finden, was in einem diskursiven Bewußtsein im inhaltlichen Sinne als universell gültig angesehen werden kann, der Gefahr formalistischer Verkürzung ausgesetzt ist (also einer dem Universalitätsanspruch entgegenlaufenden Tendenz). Habermas bietet hier eine weitaus größere Flexibilität an. Damit eine Integration stattfinden kann, müssen nicht schon Individuen ganz bestimmter Art vorausgesetzt werden. Im Gegenteil, es ist lediglich ein Rahmen vorgegeben, in den sich, jedenfalls theoretisch, Individuen ganz verschiedener Art eingeben können. So gesehen hängt dann das Ausmaß, in dem ein diskursives Verfahren integrativer Natur sein kann, davon ab, welchen Grad von Bewußtseinsintegration die beteiligten Personen selbst schon mitbringen. Es sind alle Möglichkeiten offen, aber ebenso offen bleibt dann natürlich die Frage, wie diese Personen zu einem integrierten Bewußtsein gelangen können, bevor sie in den Diskurs eintreten.
Sofern DiskursteilnehmerInnen ein integriertes Bewußtsein mitbringen, stellen sich dann beim Habermasschen Konzept allerdings umgekehrt Fragen, die das rahmengebende Verfahren betreffen. Wie weit erlaubt dieses bewußtseinsintegrierten Individuen, sich auch tatsächlich integrativ schöpfend und integrativ wirkend einzugeben? Indem die kommunikative Vernunft sich auf alle drei Bereiche, den theoretischen, den praktischen und den ästhetischen, beziehen soll, und indem diese Bereiche ihre Wurzel in den drei Bewußtseinsebenen von Figur 1 haben, wird beansprucht, daß eine Integration geleistet wird. Aber: Dadurch, daß der Bezug auf diese Bereiche erstens sprachlich erfolgen und zweitens in argumentativer Form vorgetragen werden muß, wird die oben genannte Flexibilität wieder beträchtlich eingeschränkt. Was für die Kohlbergsche Theorie auf der substantiellen Ebene zum Problem wird, tut dasselbe für die Habermassche Theorie auf der Verfahrensebene: Der zwecks Universalität benötigte Formalismus hat nur wirklich universellen Charakter, wenn es gelingt, alles, was kommuniziert werden soll, in ihn einzubetten. Falls dies aber nicht möglich
ist:33Ich nehme an, es kann nicht gelingen. Ich bin mir damit auch des Dilemmas bewußt, in dem ich selbst stecke: Ich stelle die Forderung nach Bewußtseinsintegration auf, muß aber, um sie vertreten zu können, mit der Ausdrucksweise eines schriftlichen Aufsatzes auskommen. Zwar kann ich die Metapher einer Figur und die plakative Wirkung von ausgewählten Zitaten einbringen, aber ansonsten muß ich versuchen, mittels Argumenten schlecht und recht voranzukommen.
Müßte dann nicht die Frage nach der Möglichkeit einer Modifikation des Verfahrens in Abhängigkeit vom Inhalt gestellt werden? Allgemeiner gesagt, wäre dann zu überlegen, wie weit sich die prozedurale und die substantielle Ebene gegenseitig beeinflussen dürfen oder sollten.
Bevor wir diese kritischen Punkte in detaillierterer Weise weiter verfolgen, möchte ich aber doch betonen, daß der Habermassche Ansatz ungeachtet der damit verbundenen Probleme für unser Anliegen einen wichtigen Schritt darstellt. Zwar entspricht er einer Idealvorstellung, aber diese ist derart aus der realen menschlichen Verfassung und der realen menschlichen Situation herausdestilliert, daß ihm hinsichtlich einer potentiellen Praktikabilität wohl ein beachtlicher Reifegrad zukommt. Schließlich leben wir in einer Kultur, in der wir uns angewöhnt haben, hauptsächlich sprachlich miteinander zu kommunizieren und auch wissen, daß wir aufgefordert werden können, für das, was wir sagen, Gründe anzugeben. Insofern wir uns dann aber gleichzeitig andere Formen des Umgangs miteinander abgewöhnt haben, wird dies natürlich eben auch zu unserem Problem, ein Problem, von dem auch der Habermassche Diskurs nicht verschont bleibt. Hinsichtlich des Themas der Umweltzerstörung stellt ein diskursethisches Programm aber zweifellos einen Fortschritt dar und zwar deshalb, weil der wissenschaftlich-technische Zugang zu Problemen mit wachsender Komplexität immer mehr mit Unsicherheiten behaftet ist. Es ist immer weniger möglich, zuverlässig Aussagen zu machen; aus Expertenwissen wird Expertenmeinung. Es sind in dieser Situation auf alle Fälle demokratisch-politische konsens-orientierte Entscheidungsverfahren gefragt. Reese-Schäfer sagt denn auch: „Die Orientierung am Diskurs war noch nie in der Geschichte in solchem Maße verbreitet wie heute. Die Verhältnisse drängen zu den Diskursen." Die Diskursethik ist eine „Ethik der
Demokratie".34Reese-Schäfer 1991a, 15. Diese Tatsache läßt natürlich auch negative Interpretationen offen, z.B.: Die Dinge sind nicht mehr von sich aus klar; es muß über alles geredet werden.
Letztlich wäre es auch ein untauglicher Versuch, schon auf der theoretischen Ebene entscheiden zu wollen, ob die Idee des Diskurses für unser Anliegen etwas bringen kann oder nicht. Viel hängt davon ab, wie das Resultat der Transformation in die Praxis aussieht, und dies ungeachtet der Probleme, die wir schon im Bereich der Theorie erkennen mögen.
Kehren wir zur Diskussion dieser Probleme zurück. Es stellt sich also die Frage, ob sich eine kommunikative Vernunft nicht auf einen extensiveren Gebrauch von Sprache müßte abstützen können. Die Sprache als menschliches Ausdrucks- und Kommunikationsmittel geht in ihrer Entstehung auf die Urzeiten der Menschwerdung zurück und hat alle Phasen der nachfolgenden Bewußtseinsentwicklung mitgemacht. Es liegen in ihr, wie wir natürlich bestens wissen, viel mehr Möglichkeiten als nur die argumentative verborgen. In „natürlichen" lebensweltlichen Kontexten spielt ja auch ein narrativer Sprachgebrauch noch eine große Rolle. Es ist deshalb nicht ganz abwegig, wenn auch paradox, daß Diether Lauenstein in seiner Betrachtung der „Denkmodelle des Abendlandes" bei Habermas von einem „Bühnenmodell"
redet.35S. Diether Lauenstein 1976, 17.
Dies kann in einem sozusagen umgekehrten Sinne verstanden werden: Die Teilnehmenden an einem Diskurs müssen sich in einem gewissen Sinne als SchauspielerInnen gebärden, gerade weil sie nicht, wie Theater-SchauspielerInnen dies tun würden, Geschichten darstellen, sondern weil sie in Abweichung von einem normalen Alltagsverhalten sich nur mittels eines argumentativen Rollenverhaltens eingeben dürfen.
Ist es verantwortbar, einen narrativen Gebrauch der Sprache aus einem „vernünftigen" Diskurs auszuschließen? Gregory und Mary-Catherine Bateson würden dies
verneinen.36Vgl. Gregory Bateson und Mary-Catherine Bateson 1987.
Die Probleme, die wir in unserem Verhältnis zu Welt und Umwelt haben, fußen nach ihnen zu einem guten Teil auf der Tatsache, daß die wissenschaftliche Sprache sich zu einer „Dingsprache" entwickelt hat. Sie hat die Anlagen des Verstandes, die in Richtung Ich-Es-Denken tendieren, bis ins Extrem ausgenützt. Während sie für eine Beschreibung der nicht-lebendigen Welt angemessen sein mag, ist sie dies für die der lebendigen Welt gar
nicht.37Die Konsequenz wird von Bateson und Bateson so beschrieben: „Not only do we misread and mistreat meadows, oceans, and organisms of all kinds, but our mistreatments of each other are based on errors of the general order of not knowing what we are dealing with, or acting in ways that violate the communicative web" (Bateson und Bateson 1987, 191).
Sprachlich ausgedrückte Metaphern in Form von Geschichten oder
Gedichten,38Vgl. z.B. die Diskussion der „poetischen Interaktion" von John McCumber 1985.
aber auch nicht-sprachliche Metaphern könnten bedeutend ganzheitlichere Weisen des Weltverstehens darstellen. Als Illustration zu diesem Punkt eignet sich der Bericht von Jack Zimmerman and Virginia Coyle über einen Hopi-„Diskurs": „The pueblo's elders called a council to decide what to do about the federal government's proposal for a land trade involving mineral rights. A fire burned in the pit at the center of the kiva's dirt floor, around which the 12 elders gathered. ... The elders sat quietly for a while, until the chief unwrapped a bundle he had placed in front of him. He took out the talking stick ... The council began as the talking stick was passed around the circle, each of the elders relating a tale or a portion of the tribal history. Then the men sat quietly together, without discussing the matter at hand directly or apparently coming to any decision. After a prolonged silence they nodded, rose, and left the kiva. In the silence they had each ‚seen the truth of the council' and in this way evoked the appropriate
decision."39Jack Zimmermann und Virginia Coyle 1991, 79.
Ich denke, daß das, was bei dieser Geschichte entscheidend ist, von Gebser treffend beschrieben wird: „Es gilt ... von jeder Aussage ..., die sich des Wortes bedient: daß ... das Gesagte allein nicht entscheidend ist. Entscheidend wird es erst - und Ent-Scheidung bedeutet Aufhebung des Scheidenden - durch die Mitbeachtung des im Gesagten Verschwiegenen. Nur dort, wo das Nichtgesagte seine stumme Mitsprache hat, erhält das Gesagte jene Tiefung und Polung, die es in die Spannung des wirkenden Lebens tragen. Bloßes Schweigen ist magische Gebanntheit; bloßes Reden ist rationaler Leerlauf. Nur dort hat das Wort Wert und ist nicht mehr bloß Macht (also magisch) oder Formel (also rational), wo sich der Sprechende von diesen Zusammenhängen Rechenschaft
gibt."40Gebser 1949, Bd.1, 111.
Alasdair MacIntyre erinnert uns daran, daß in der ganzen Zeit der „klassischen Kulturen" von der griechischen Antike bis zur Renaissance das Erzählen von Geschichten das Hauptmittel der moralischen Erziehung
war.41Vgl. MacIntyre 1985, 121.
Nun, der Ältestenrat der Hopi bestand aus Männern. Aber das Beispiel zeigt damit, daß ein männliches Bewußtsein in einem traditionalen Kontext noch integrativer, in gewissermaßen weiblichem Stil, funktionieren
konnte.42An dieser Stelle sei vermerkt, daß Göttner-Abendroth der Hopi-Gesellschaft einen „matriarchalen" Charakter zuschreibt, allerdings ohne dies näher zu erläutern (Göttner-Abendroth 1988, 88).
Umgekehrt stellt sich die Frage, inwieweit eine Argumentationskultur eine typisch männliche Kultur ist. Entspringt das Konzept der kommunikativen Rationalität bzw. der Diskursethik überhaupt einem typisch männlichen Denken? Habermas selbst ist überzeugt von der Universalität und damit auch von der Geschlechtsneutralität seines Konzeptes und er nennt auch das Kriterium dafür, daß er so überzeugt sein darf: Er muß „nachweisen können, daß unser Moralprinzip nicht nur die Vorurteile des erwachsenen, weißen, männlichen, bürgerlich erzogenen Mitteleuropäers von heute
widerspiegelt."43Habermas 1991, 12.
Habermas läßt sich meines Wissens auf diesen Nachweis in einem expliziten Sinne nicht ein, läßt aber andererseits keinen Zweifel offen, daß er erbringbar ist. Andere sind nicht so sicher. Frank Rotter z.B. behauptet, Habermas werte die aufgrund der Untersuchungen von Gilligan primär Frauen zugeordnete Kompetenz ab und sehe im Bereich der Fürsorglichkeits- und Verantwortlichkeitsethik eigentlich nur Umsetzungsprobleme des rational Entschiedenen, oder aber Aspekte, die mit dem nicht moralisierungsfähigen Teil des Praktischen zu tun
hätten.44Dazu Frank Rotter: „Es ist dann nicht schwer, die (relative) Irrelevanz jener Probleme herzuleiten, die man zuvor bereichskonstitutiv ausgeschlossen hat" (Rotter 1992, 80).
Umgekehrt bekommt Habermas Unterstützung (allerdings vielleicht eine, die weiter geht, als ihm angenehm ist) von Ulrich, der, wie wir schon gesehen haben, der kommunikativen im Gegensatz zur instrumentellen Rationalität gerade einen weiblichen Charakter attestieren
möchte.45Vgl. Ulrich 1987.
Ist das Problem der notwendigen Verweiblichung unserer Kultur damit schon gelöst? Nun, es ist nicht abzustreiten, daß das Kommunikative an sich etwas Weibliches an sich hat. Tatsächlich darf ja vermutet werden (wir haben oben auf die Urworte hingewiesen), daß Sprache in „weiblichen Milieus", d.h. im Zusammenhang mit den engen sozialen Beziehungen im stabilen Kern von archaischen Gruppen, in dem für Kinder gesorgt wird und die Frauen dominieren, entstanden
ist.46Frühere (männliche!) Urgeschichtsforscher brachten demgegenüber oft die Sprachentwicklung mit der Werkzeugherstellung (Erfordernis einer abstrakten Denkfähigkeit) und der Jagd (Erfordernis von Koordination) in Verbindung, also mit Tätigkeitsbereichen, die als männlich gelten.
Beim Kommunikativen in der Form, wie es bei Habermas vorgesehen ist, werden solche Substrate aber beträchtlich ausgedünnt.
Die ursprüngliche Weiblichkeit der Sprache hilft uns deshalb heute nicht weiter, da mehrere Tausend Jahre Patriarchat auch im Bereich von Kommunikation und Sprache ihre Spuren hinterlassen haben. Diese betreffen Sprachformen und Gesprächsstile, die männlich geprägt sind. Dazu kommt, daß die Linguistik als (traditionell wiederum männlich geprägte) Wissenschaft, wie Susanne Günthner und Helga Kothoff betonen, sich mit der reinen Analyse und Beschreibung der Sprache selbst begnügt und kein Interesse für die sprechenden Menschen und deren sozio-kulturelles Umfeld
zeigt.47Vgl. Susanne Günthner und Helga Kothoff 1991.
Diese Ausblendung der gesellschaftlichen Einbettung reduziert die Bedeutung der Sprache auf ein grammatikalisches Zeichensystem, das kontextfrei untersucht werden kann. Es ist dem weiteren Blick einer feministischen Linguistik vorbehalten geblieben, auf solche Verzerrungen und Verkürzungen aufmerksam zu
machen.48Vgl. Senta Trömel-Plötz 1983 und Luise F. Pusch 1984.
Für unser Anliegen ist bedeutsam, daß sie, wenn sie nicht ausgeräumt werden können, ganz klar ein Hindernis für die Etablierung einer „idealen Sprechsituation" im Sinne von Habermas
darstellen.49Die ideale Sprechsituation setzt voraus, daß alle Sprechende die gleiche Chance haben, sich mit verschiedenen Arten von Sprechakten am Diskurs zu beteiligen, bzw. nur solche Sprechende sind zum Diskurs zugelassen, die diese gleiche Chance haben. S. dazu die Details in Habermas 1984, 177ff. oder Reese-Schäfer 1991b, 19-20.
Eine „Rationalisierung der Lebenswelt" wäre offenbar zuallererst hinsichtlich der Sprache erforderlich.
Die feministische Linguistik hat herausgearbeitet, wie sexistisch die herkömmliche deutsche Sprache ist: Sie verwendet z.B. männliche Formen auch dort, wo Frauen mitgemeint sind, und bewerkstelligt so „die sprachliche Vernichtung der
Frau."50Pusch 1984, 11.
Die Kritiker dieser Kritik weisen dann, wie eben „richtige" konservative Linguisten, auf die Willkürlichkeit der Sprachzeichen hin und sagen, daß es schließlich nicht auf die Form eines Ausdrucks, sondern nur darauf ankomme, was mit ihm gemeint sei. Das Problem ist aber, daß dies je nach Situation gerade nicht klar ist. Mal sind die Frauen mitgemeint, mal nicht. Dazu Pusch: „Ich stelle fest: Meine Muttersprache ist für Männer bequem, klar und eindeutig. Das Reden über Männer ist völlig problemlos in dieser Männersprache. Schwierig, kompliziert und verwirrend ist nur das Reden über Frauen. Mutter Sprache ist auf meine Existenz etwa so gut vorbereitet wie Vater Staat auf die Existenz von
Behinderten."51Pusch 1984, 7.
Mit den sexistischen Sprachformen werden etablierte Klassifizierungen und Diskriminierungen reproduziert und bestätigt. Dies aber, so Pusch, kann zu einem Überlebensproblem werden: „Es ist für alle Menschen existentiell wichtig, von anderen Menschen wahrgenommen, beachtet und in ihrer Identität bestätigt zu
werden."52Pusch 1984, 24.
Noch gravierender und schwieriger zu lösen sind vermutlich die Probleme, die mit dem unterschiedlichen Gesprächsverhalten von Frauen und Männern zusammenhängen. Günthner und Kothoff bringen dies mit Differenzen in der Sozialisierung von Mädchen und Knaben
zusammen,53Vgl. Günthner und Kothoff 1991.
Daniel N. Maltz und Ruth A. Borker reden davon, daß Frauen und Männer unterschiedlichen soziolinguistischen Subkulturen mit unterschiedlichen Sprachverhaltensweisen
entstammen.54Vgl. Daniel N. Maltz und Ruth A. Borker 1991.
Das Resultat erinnert an den Gegensatz zwischen einer „weiblichen" und einer „männlichen" Stimme bei
Gilligan.55Vgl. Abschnitt 3.1.
Der weibliche Sprachstil ist kooperativer, zurückhaltender, harmoniefördernder und personenbezogener, der männliche dagegen konfrontativer, selbstbezogener und
sachorientierter.56Aber auch hier gilt, daß damit nicht exklusive Geschlechtsspezifität verbunden ist. Frauen verfügen auch über Elemente des männlichen Stils und umgekehrt.
Männer unterbrechen Frauen sehr viel mehr als
umgekehrt,57Vgl. Don Zimmermann und Candace West 1975. Auch hier gibt es dazu einen Sozialisierungshintergrund: Nach Esther Greif 1980 unterbrechen Väter ihre Kinder häufiger als Mütter. Beide Elternteile unterbrechen Töchter mehr als Söhne, und den Töchtern wird allgemein etwas weniger Rederecht gewährt.
oder sie tendieren dazu, Äußerungen derselben zu ignorieren. Das Ganze ist deshalb von Bedeutung, weil die Wahrnehmung einer Person, z.B. die Einschätzung ihrer Kompetenz, sehr stark von ihrem Gesprächsstil beeinflußt ist, und dieser Umstand gereicht den Frauen zum Nachteil: „Der Ellbogenstil führt zum Erfolg, nicht der dialogische Stil vieler Frauen. ... Mädchen und Frauen verhalten sich mehr in Richtung unserer demokratischen Ideale - aber sie unterliegen trotzdem oder gerade
deshalb."58Günthner und Kothoff 1991, 37.
Im besten Fall, so Maltz und Borker, entstehen einfach kommunikative
Fehlschläge.59Maltz und Borker 1991, 52.
Wir haben uns nun mit verschiedenen Facetten des Problems befaßt, daß ein Diskurs, der sich erstens nur auf Sprache und zweitens nur auf Argumentation abstützt, sein Ziel, ein uneingeschränkter Diskurs sein zu wollen, verfehlen muß. Selbstverständlich ist diese Feststellung auch mit der Frage der Beteiligung der „unteren" Bewußtseinsschichten verknüpft. Fügen wir noch einige Erwägungen an, die speziell von diesem Ende her mit der Diskurs-Idee verbundene Probleme zu orten versuchen. Ein erster Punkt bezieht sich auf die Rolle des praktischen Bewußtseins. In der heutigen politischen Debatte um die Umweltproblematik fehlt es weitgehend an grundlegenden moralischen Navigationshilfen, etwa solchen, die aus kulturellen Erfahrungen der Vergangenheit über einen verantwortbaren Umgang mit der Umwelt erwachsen könnten. Wissen, das sich über Generationen angesammelt hat - was besonders wichtig sein könnte, wenn es den Umgang mit der Natur betrifft - , kann nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres auf die diskursive Ebene umgesetzt
werden.60Z.B. meint Paul Messerli in bezug auf die Bedeutung von Erfahrungswissen für die Erhaltung eines ökologischen stabilen Alpenraumes: „Es ist ... undenkbar, daß die Wissenschaft je ersetzen kann, was Bergbauerngenerationen über manches Jahrhundert konkreter Naturbearbeitung an lokalem Wissen und Erfahrung akkumuliert haben ..." (Messerli 1989, 12).
Wenn wir aber solche Erfahrungen, die vielleicht dann eben nicht im üblichen Sinne für alle einsichtige Begründungen zulassen, vernachlässigen, verzichten wir freiwillig auf eine Stütze, die hinsichtlich der Frage von Umweltverträglichkeit von größter Bedeutung sein könnte. Und wenn die direkte Erfahrung dessen, was Umweltübernutzung bedeutet, sich nicht bemerkbar machen kann, ist es denkbar, daß etwa der diskursiv abgehandelte Wunsch nach weiterer Steigerung des materiellen Wohlstandes verallgemeinerbar
ist.61Die angesichts der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit aufkommende Diskussion um die Notwendigkeit weiteren Wirtschaftswachstums deutet durchaus in diese Richtung.
Umgekehrt betrachtet: Habermas deutet an, daß er nur einen Umgang mit der Natur als möglich erachtet, der einen von der theoretischen Rationalität angeleiteten instrumentellen Charakter
hat.62S. zu dieser Frage auch die Beiträge von Peter Dews und Robin Eckersley in diesem Band.
Das kommunikative Prinzip kann nur für Beziehungen zwischen Menschen spielen, was dann auch bedeutet, daß irgendeine Art von „Konsens" mit der Natur ausgeschlossen ist: „Er [Habermas] unterscheidet zwischen Arbeit und kommunikativem Handeln, vermeidet so, die Idee der Herrschaftsfreiheit nur einschließlich der unplausiblen Annahme einer Versöhnung mit der Natur denken zu
können."63Rotter 1992, 79. Habermas selbst sagt: „Offensichtlich können wir aber um der Aufhebung vermeidbarer gesellschaftlicher Repression willen auf die lebensnotwendige Ausbeutung der externen Natur nicht verzichten. Der Begriff einer kategorial anderen Wissenschaft und Technik ist so leer wie die Idee der Versöhnung grundlos" (Habermas 1987, 177).
Nun läßt sich dem Ziel der Unterordnung der instrumentellen unter die kommunikative Rationalität entsprechend entgegnen, die instrumentelle Haltung der Natur gegenüber beziehe sich zunächst nur auf die theoretisch-kognitive Ebene und die wirkliche Form einer nachfolgenden Praxis könne durch eine diskursethische Behandlung der Frage variiert werden. Würde das heißen, daß bei der letzteren auch die „unteren" Bewußtseinsebenen sich bemerkbar machen können, wäre damit die evolutionäre Hierarchie zum Teil wiederhergestellt. Gerade dies aber ist sehr fraglich; mit Oswald Schwemmer werden wir weiter unten eine Übereinstimmung in der Denkart zwischen wissenschaftlichem und universalethischem Argumentieren
diagnostizieren,64Vgl. Abschnitt 3.3.
was dann, wenn die Diagnose stimmt, auf die genannte Situation bezogen bedeutet, daß eine Art von Kognitivismus durch eine zweite Art von Kognitivismus angeleitet wird. Wie weit kann aber eine derartige kognitivistische Abgehobenheit einem ökologisch sinnvollen Zugang zur Umweltproblematik zuträglich sein? Gerade auch hier, wenn es um Fragen des Umgangs mit der Natur und der dabei sinnigerweise beteiligten Bewußtseinsebenen geht, stellt sich die Frage, ob nicht eine Abhängigkeit des Verfahrens vom Inhalt, der von ihm behandelt wird, postuliert werden müßte. Rückwirkungen auf die Verfahrensebene bei einer Mitwirkungsmöglichkeit des nicht-diskursiven Bewußtseins würden dann aber nicht nur die Diskursethik, sondern auch die Wissenschaft betreffen. Die oft gestellte Frage nach einer „neuen Wissenschaft" wäre in einem solchen Zusammenhang zu betrachten.
Unter den „unteren" Bewußtseinsebenen ist letztlich das Unbewußte die große Unbekannte, aber auch eben derjenige Bereich, von dem sich vermuten läßt, er sei die Quelle einer ästhetischen Rationalität, die uns wieder zu einer tragfähigen Art von Mensch-Kosmos-Beziehung verhelfen könnte. Abgesehen vom schwierig zu beurteilenden Problem der „Echtheit" einer sich daraus ergebenden Orientierung stellt sich grundsätzlich die Frage, wie das „Herz" sich an einem Diskurs beteiligen kann. Hier ist offensichtlich, daß subjektive Aussagen über Bedürfnisse oder Gefühle durchaus Teil eines kommunikativen Handelns sein können. Allerdings lassen sie sich nicht in der gleichen Weise begründen, wie sich Aussagen über Fakten oder Normen begründen lassen. Genau dies empfindet Marita Strasser als Problem, etwa im Zusammenhang mit der momentan aktuellen Frage der Patentierung biotechnisch erzeugter Lebewesen, einer Frage angewandter
Ethik.65Vgl. Marita Strasser 1991.
Wie sie darlegt, lassen sich prinzipielle Argumente, die sicher immer mit gefühlsbetonten Werthaltungen verbunden sind, nicht ausreichend begründen. Im Gegensatz zur Idee von Wissenschaft schließt die Idee des Diskurses eine Beteiligung des Sentimentalen zwar nicht im Prinzip
aus,66Im Vergleich dazu: Adam Smith postulierte in seinem früheren Werk noch die gefühlsmäßige Motivation moralischen Tuns, während dann Immanuel Kant eine derartige Grundlegung völlig verwarf. Indem eine Diskursethik diese Möglichkeit zunächst offen läßt, ist sie ein Schritt in der richtigen Richtung, nämlich hin zu einer fortgesetzten Aufklärung, die die Dialektik der bisherigen Aufklärung überwindet.
aber es ist wiederum das gewählte Verfahren, das den Möglichkeiten einer wirklichen Beteiligung einschränkende Bedingungen auferlegt.
Zusammenfassend: Der Habermassche Diskurs ist bisher unter den konkreten Empfehlungen zur Überwindung der Krise der umfassendste Vorschlag. Auch sind, von dieser Idee angeregt, verschiedene Varianten von praktikablen Konfliktlösungsverfahren in Entwicklung
begriffen.67Vgl. Hans-Joachim Fietkau und Helmut Weidner 1992.
Insofern die Existenz der drei Bewußtseinsebenen in Form der klassischen drei Rationalitäten anerkannt und ihr Zusammenwirken gefordert wird, läßt sich der Begriff der kommunikativen „Vernunft" nach unserem Kriterium der Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft rechtfertigen, insofern allerdings besagtes Zusammenwirken durch eine Projektion aller Bewußtseinsinhalte auf die Verstandesebene zustande kommen soll, auch wieder nicht. Damit aber hat das Konzept einen reduktionistischen Aspekt und kann in diesem Sinne nur eine schwache Form von Integration bewerkstelligen. Hinsichtlich unseres Themas der Geschlechterproblematik heißt dies, daß ihm eher die Eigenschaft „männlich" als „weiblich" (wie dies Ulrich
postuliert68Vgl. Abschnitt 2.1.
) zukommt. Daraus ergeben sich eine Reihe von Problemen. Sie haben erstens mit der Form der Kommunikation (sprachlich-argumentativ) zu tun, die verlangt ist, und zweitens in einem tieferen Sinne damit, daß sprachliche Kommunikation allein zu keinen Einsichten führt; Einsichten kommen woanders
her.69Renatus Ziegler in einer Diskussion im Sommer 1993. Um deutlich zu machen, was mit dieser Aussage gemeint ist: Wenn A etwas sagt und B zuhört, kann ungeachtet der mitgelieferten Begründungen die Einsicht, daß das was A sagt, wahr oder richtig oder aufrichtig sein könnte, nur bei B selbst entstehen und nicht irgendwo in der mitgeteilten Information versteckt sein.
Somit können wir nicht erwarten, daß das, was Menschen in einem Diskurs beschließen, auf echter Orientierung beruhen wird. Es ist deshalb vermutlich bezeichnend, daß bisherige Versuche, Habermassches Gedankengut in die Praxis umzusetzen, kaum auf sehr grundlegende Fragen unserer Zeit gezielt haben, sondern eher auf mit unserer Sachzwangkultur zusammenhängende Entscheidungsprobleme, z.B. solche, die den Standort von Mülldeponien
betreffen.70Über einen Versuch, der sich explizit auf Habermas beruft und mit der Wahl eines Mülldeponiestandorts zu tun hat, berichtet z.B. Thomas Webler 1993.
Was es also hinsichtlich der Lösung der grundsätzlichen Probleme, die am Grund unserer Umweltprobleme stehen, leisten kann, ist fraglich. Es deshalb zu verwerfen, hieße allerdings das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Frage, die aber gestellt werden muß, ist die nach den Möglichkeiten, Art und Reichweite von Diskursen zu verändern bzw. zu erweitern.