Die neuen Entwicklungsmöglichkeiten, deren Anfang beim Übergang zum Landleben liegt, finden ihre volle Ausprägung bei den höheren Säugetieren. Der Aspekt der Angewiesenheit hat sich nun von der früheren Ausrichtung an der Welt im allgemeinen schwerpunktmässig zu einer Orientierung an der Mitwelt verschoben: Es kommt zur Bildung einer sozialen Identität, die die einzelnen Lebewesen an eine Gruppe von Artgenossen und -genossinnen bindet. Der Aspekt des Vermögens seinerseits hat sich vom direkten Bezug der Individuen zur unmittelbaren Umgebung gelöst und zu ersten Formen von im sozialen Verband kommunikativ vermitteltem Wissen über einen ausgedehnteren Lebensraum weiter entwickelt. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ermöglicht den Individuen, davon zu profitieren.
Die biologische Evolution erreicht auf dieser Stufe die Ebene eines eigenständigen praktischen Bewusstseins, das sowohl mit dem sozialen Milieu wie auch mit den ökologischen Gegebenheiten, also mit der Mitwelt im engeren und weiteren Sinne in Beziehung steht. Praktisch wird das Bewusstsein deshalb, weil es nun auf ontogenetischem selektivem Lernen aufbaut, das das früher dominierende genetisch geprägte, also phylogenetisch gelernte Verhalten ergänzt, auflockert und zum Teil auch ersetzt. Dies entspricht einem grossen Sprung in Richtung Flexibilisierung: Die Lebewesen sind dank ihrer Lernfähigkeit relativ anpassungsfähig und können mit einem grösseren Spektrum von Gegebenheiten zurechtkommen. Eine wichtige organische Grundlage für diese Art der Entwicklung ist der weitere Ausbau des zentralen Nervensystems im Verein mit weiter spezialisierten Sinnesorganen. Dabei spielt die Entwicklung des Grosshirns eine entscheidende Rolle. Dieses zeichnet sich gegenüber dem älteren Zwischenhirn durch eine grosse Flexibilität aus: Einzelne motorische Elemente können fast beliebig zu Verhaltenssequenzen zusammengesetzt
werden,121Siehe Råberg 1987, 81-83.
und umgekehrt können auch einzelne Sinneseindrücke je nach Bedarf zu verschiedenen Mustern gruppiert werden.
Motivational gesehen ist ein Lebewesen jetzt stark auf einzelne andere Individuen derselben Art, allenfalls auf das ganze soziale Kollektiv ausgerichtet. An der Basis dieser Entwicklung steht der Fortpflanzungstrieb, die Sexualität, die das Verlangen eines Individuums hervorruft, sich mit einem andern Vertreter oder einer andern Vertreterin der gleichen Art zu vereinigen und zu
identifizieren.122Siehe Kummer 1992.
Der genetische Trieb hat aber schon jetzt eine weitaus reichhaltigere Bedeutung als nur die der Reproduktion; das Sexualverhalten ist einfach die sichtbarste Form der Kooperation zwischen den Geschlechtern einer
Art.123Kummer 1992, 335.
Im Laufe der Evolution äussert sich dieser Trieb immer mehr als eine allgemeine soziale Kraft, die auch ein wachsendes Streben nach Solidarität
hervorruft.124Von Ditfurth 1982, 108. Es ist also nicht mehr so, dass ein Lebewesen einfach nur auf äussere Reize reagiert, sondern auch so, dass es diese aktiv sucht. Dazu zitieren Varela, Thompson und Rosch Maurice Merleau-Ponty (Die Struktur des Verhaltens. Berlin 1976, 13): "Da alle Bewegungen des Organismus stets durch äussere Einflüsse bedingt sind, kann man durchaus, wenn man so will, das Verhalten als eine Wirkung der Umwelt behandeln. Doch da alle Reize, die der Organismus aufnimmt, ihrerseits erst ermöglicht wurden durch die vorausgehenden Bewegungen, die schliesslich das Rezeptionsorgan den äusseren Einflüssen aussetzen kann, könnte man geradesogut sagen, das Verhalten sei die Primärursache aller Reize. So wird die Reizgestalt durch den Organismus selbst geschaffen, durch seine eigentümliche Art und Weise, sich den äusseren Einwirkungen auszusetzen" (Varlea, Thompson und Rosch 1992, 239).
Råberg spricht davon, dass die primitiven Reflexe des reproduktiven Triebs zu einerm qualitativen Artbewusstsein verfeinert würden.
Der sozial vermittelte Wissensbestand, der eine ausgedehntere Raum- und Ressourcennutzung ermöglicht, kommt dank der auf Kooperation und Informationsaustausch aufbauenden sozialen Organisation zustande. Betrachten wir als Beispiel die von Hans Kummer untersuchten Mantelpaviane
Äthiopiens:125Kummer 1992, 302.
Diese treffen sich abends an grösseren Schlaffelsen zu einer Herde von über 100 Individuen, lösen sich aber jeweils morgens in Banden von etwa 50 Mitglieder auf, von denen jede ihr eigenes Streifgebiet hat, in dem auch eine Anzahl von permanenten Wasserstellen vorkommen. Um die Nahrungssuche angesichts der in der Halbwüste spärlichen Ressourcen effizient gestalten zu können, teilt sich eine Bande nochmals in Klans von je rund 15 Individuen auf. Diese treffen sich aber um die Mittagszeit wieder an einer Wasserstelle. Wie können die den verschiedenen Klans angehörenden Tiere, die sich bald nach dem Aufbruch aus den Augen verlieren, wissen, welches der heutige Treffpunkt ist? Der Aufbruch ist zuerst gemeinsam und die Richtung, in der er stattfindet, zeigt die Wasserstelle an, die gemeint ist. Bei diesem Fernentscheid mögen ältere, erfahrenere Tiere eine entscheidende Rolle spielen. Wie Kummer ausführt, können Bienen mit ihrem ausgeklügelten Tanz die Richtung zu einer Nahrungsquelle zwar viel genauer angeben, aber dieses Verhalten ist genetisch vorprogrammiert und damit inflexibel. Bei den Pavianen hingegen geht es um eine von grosser Lernfähigkeit gestützte Beurteilung spezieller Situationen. "Sie kennen ihre Artgenossen einzeln und nutzen deren individuelle Eigenarten. Das können Bienen nicht. Die Mantelpaviane, die morgens auf dem Felsen über den Aufbruch entscheiden, sind auf dem Weg zum Wissen, was der andere
denkt."126Diese Tatsache spiegelt sich, so meint Råberg, auch noch im späteren menschlichen Verhalten wider, und zwar in einer Tendenz oder schon eher in einer gewissen Notwendigkeit, das persönliche subjektive Programm so in eine kollektive Struktur einzupassen, dass eine soziale Identifikation entstehen kann. Das schliesst natürlich nicht aus, dass die Nahrungsversorgung absoluten Vorrang bekommt, wenn diese aus Überlebensgründen dringlich wird.
Die Tendenz zur Expansion des genutzten Lebensraumes hat vermutlich mit einer Reihe verschiedener Faktoren zu tun. Zum Beispiel kann vermutet werden, dass die variable Topographie terrestrischer Landschaften eine vielfältige und differenzierte Reizwelt darstellt, die die Lebewesen einlädt, sie auch zu erkunden, ihren Reichtum zu entdecken. Das ist möglich, weil diese Lebewesen unterdessen dazu geeignete Sinnes- und Erfolgsorgane entwickelt haben. Speziell dem Sehsinn und den Gliedmassen als Fortbewegungswerkzeug kommt eine grosse Bedeutung zu. Der Sehsinn ermöglicht im Unterschied zum Tastsinn eine Fernerkundung, was von Ditfurth dazu veranlasst, vom Tastsinn als einem "zuständlichen" und vom Sehsinn als einem "gegenständlichen" Sinn zu reden. Ein Lebewesen muss nicht mehr auf Wahrgenommenes in der Aussenwelt unmittelbar reagieren. Führten die Organismen vorher eine stark passive Existenz, bei der es immer wieder um Anpassung an äussere Einwirkungen ging, wird jetzt zusätzlich ein aktives Agieren möglich. "Aus dem Objekt wird ein Subjekt", meint von
Ditfurth.127Kummer 1992, 163 ff. (besonders 168).
Kummer betont, dass die von ihm untersuchten Paviane ein zweiseitiges praktisches Bewusstsein entwickeln und unterhalten müssen: "Ein soziales Lebewesen muss sich an zwei Fronten bewähren, an der sozialen Front gegenüber den Mitgliedern seiner Gruppe und an der ökologischen Front gegenüber den Härten des Klimas, der widerspenstigen Nahrung und den
Raubfeinden."128Siehe Richard Leakey 1994, 54 f.
Bedeutsam ist dabei, dass er von einem "sozialen Lebewesen" redet, was anzeigt, dass der Ausrichtung an der sozialen Mitwelt das Primat vor der Beschäftigung mit dem Lebensraum zukommt. Insofern auf diese Weise der Lebensunterhalt der einzelnen Gruppenmitglieder gesichert wird, kann der genetische Trieb als ein grundsätzlicheres bio-ökologisches Prinzip als der nutritive Trieb betrachtet
werden.129Siehe dazu Michael C. Corballis 1991.
Das heisst aber auch, dass wir uns hier auf der ersten Stufe einer Entwicklung befinden, auf der ökologisches Wissen nicht mehr durchgehend und voll von allen einzelnen Individuen, sondern zum Teil durch einen kommunikativ moderierten Prozess getragen wird. Im ökologischen Wissen treten damit erste Anzeichen von Distanzierung, Abstraktion und Konstruktion zutage. Es werden aber auch erste Spuren von "Arbeitsteilung" sichtbar. Um noch einmal Kummers Mantelpaviane als Beispiel beizuziehen: Ein Familie besteht üblicherweise aus einem älteren Mann, mehreren Frauen, den Jungen und allenfalls einigen männlichen Mitläufern. Die zentralen Frauen gehen dabei ziemlich völlig in ihren sozialen Rollen auf, während die peripheren Frauen, die keinen so eindeutigen sozialen Platz finden können, sich auf den Erwerb ökologischen Wissens
konzentrieren.130Vgl. Portmann 1956, 68 ff.