Von der vorher skizzierten Beziehung zur Welt im allgemeinen und in einem zusammenhängenden Sinne gelangen wir hier auf der Ebene des praktischen Bewusstseins zur Beziehung zu einer ganz bestimmten, partikulären Aussenwelt, zur Aussenwelt eben, die mir über mein Leibsein mit den zugehörigen Möglichkeiten der Sinneserfahrung und des aktiven Eingreifens zugänglich ist. Über die direkte Begegnung mit konkreten andern Lebewesen kann diese Aussenwelt zur Mitwelt werden. Dabei gibt es allerdings ein Primat des menschlich-sozialen Bereichs vor dem nicht-menschlichen Bereich. Das ist zunächst natürlich und deshalb auch nicht sehr überraschend; schliesslich sind auch andere Lebewesen in erster Linie auf ihre Artgenossen und -genossinnen fixiert. Ich vermag also, andere Menschen als mir gleichartige Wesen wahrzunehmen und mit ihnen in ein Ich-Du-Verhältnis einzutreten, während die Ausdehnung der Mitwelt-Einstellung auch auf nicht-menschliche Lebewesen mir bedeutend schwerer fällt. Ein entsprechendes Potential ist aber zweifellos vorhanden, wird aber vor allem in unserer westlichen Zivilisation in besonders starkem Masse unterdrückt und dadurch zu einem wesentlichen Aspekt der ökologischen Krise. Unsere Beziehung zur nicht-menschlichen Mitwelt muss daher zu einem grundlegenden Thema einer ökologischen Gesellschaft werden. Jedenfalls aber: Die Ebene des praktischen Bewusstseins vermittelt eine kommunikativ-soziale Orientierung.
Dass es leichter ist, in einem konkreten menschlichen Gegenüber ein "Du" erkennen zu können, dazu hilft natürlich die Möglichkeit der sprachlichen Kommunikation, aus der ein Gemeinsamkeits-Gefühl entstehen kann. In der direkten Begegnung kann ich wahrnehmen, dass im Gegenüber ein anderes "Ich" steckt, das generell die gleichen Bedürfnisse wie ich selbst hat, nämlich die eigene Existenz zu wahren und nach Möglichkeit qualitativ zu verbessern, im einzelnen aber diese Verbesserung vielleicht auf andere Weise zu erreichen versucht. In der direkten Begegnung steckt also das Potential der gleichgewichtigen Reziprozität bei gleichzeitiger Anerkennung beidseitiger Verschiedenheit: Beide können wir einsehen, dass die angestrebte Qualitätsverbesserung in einem kooperativen Zusammenwirken besser erreichbar ist als je allein, bzw. dass eine solche Verbesserung ohne soziale Beziehungen mit Ich-Du-Charakter eigentlich gar nicht möglich ist.
In der grammatischen Metapher von Shotter gesprochen, die er in seiner sozialpsychologischen Studie verwendet, haben wir es beim Ich-Du-Verhältnis mit einer Beziehung zu tun, an der erste und zweite Personen beteiligt sind. Dies steht im Gegensatz zum Fall, in dem die andere Person mir nicht mehr ein echtes Gegenüber ist, sondern sich in Distanz zu mir befindet; sie kann dann zu einer dritten Person oder sogar zu einer Sache, einem "Es" werden. Umgekehrt kann es mir selbst passieren, dass ich mich in diesem Status wiederfinde. Dies zeigt, dass die Ich-Du-Beziehung auf der Ebene des praktischen Bewusstseins nicht ohne weiteres aus dem Charakter dieses Bewusstseins heraus gegeben ist. Zwar ist anzunehmen, dass sie einst bei den egalitären vor- und frühgeschichtlichen Gesellschaften eine kulturelle Selbstverständlichkeit darstellte; für die nachfolgenden Gesellschaftsformen mit ihren verschiedenen Arten von Herrschaftssystemen war dies nicht mehr gegeben. Bei der diagnostizierten Übermacht des geistigen Pols, der für unser Bewusstseinsmodell eine Vorherrschaft des diskursiven Bewusstseins mit seiner - wie wir noch sehen werden - Ich-Es-Charakteristik bedeutet, ist es naheliegend, dass diese auch auf unsern Umgang mit andern Menschen abfärbt. Dies zeigt, dass das, was auf dem Niveau des praktischen Bewusstseins passiert, eben nicht von ihm allein geprägt ist, sondern auch von der Art und Weise abhängig ist, wie die andern Bewusstseinsebenen mitwirken. Um der Tendenz zu begegnen, dass das mögliche Ich-Du zu einem Ich-Es degeneriert, sind wir wohl auf die Mitwirkung des Unbewussten und seiner emotionalen Fähigkeiten angewiesen. Einen Mitmenschen als Du anerkennen zu können, setzt Einfühlungsvermögen und Mitgefühl voraus; das Fühlen kommt vor dem
Denken.69Huber 1975, 131.
Wenn mir die Verbindung zum eigenen Unbewussten gleichzeitig hilft, mich im vorher beschriebenen Sinne als Teil einer grösseren Welt wahrzunehmen, dann steigen die Chancen für ein gelungenes Leben, in dem die Gegenseitigkeit mitmenschlicher Beziehungen einen konstituiven Charakter hat, denn: "What we believe ourselves to be determines how we treat one another (and ourselves) in our practical everyday
affairs."70Allerdings glaubt Gerhard Staguhn 1996 selbst in diesem Fall, dass Tierliebe meist blosse Selbstliebe ist (zitiert nach einer Kurzbesprechung des Buches von Staguhn durch Claudia Schwartz in der Neuen Zürcher Zeitung Nr. 173 vom 27./28.Juli 1996).
Mit der Bedeutung der Ich-Du-Beziehung als Ausdruck von Mitmenschlichkeit und ihrer Einbettung in eine umfassendere Wirklichkeit hat sich Martin Buber
auseinandergesetzt.71Auch Konrad Lorenz ist dieser Meinung, wenigstens hinsichtlich der höher entwickelten Tiere: "Ich behaupte ..., dass für einen normalen Menschen die Du-Existenz höheren Tieren gegenüber genauso zwingend ist wie gegenüber Mitmenschen" (zitiert nach Gebhard 1994, 51).
Sie ist ein dialogisches Verhältnis, das sich wesenhaft im Miteinander-Reden entfaltet, darüber hinaus aber die ganze Wirklichkeit eines mitmenschlichen Bezuges umfasst; "davon ist das Gespräch, der echte Dialog, nur ein freilich wesentliches Element, aber ebenso das
Schweigen."72Vgl. Rupert Riedl 1981, 125-126.
Die Einbettung der mitmenschlichen Ich-Du-Beziehung in eine grössere Wirklichkeit sieht Buber ihrerseits als eine Art von Ich-Du-Beziehung; die Welt insgesamt wird als ein Du angesprochen, in dem die Unendlichkeit und die Absolutheit des Göttlichen zum Ausdruck kommen. Die damit verbundene Ahnung der Tiefe hinter der Begegnung ist wieder so etwas wie Resonanz, allerdings jetzt auf bestimmte Menschen bezogen, nicht auf eine Landschaft. Damit gibt es einen Bezug zur Welt im rückwärts gewandten Sinne der Weltverbundenheit. Wie wir weiter unten sehen werden, birgt aber die kommunikative Vermittlung von Wissen im sozialen Austausch auch die Möglichkeit des vorwärts gerichteten Weltbezuges in sich. Dieser betrifft eine konstruierte Welt und nimmt so den Charakter von Weltoffenheit an.
In der routinierten Geschäftigkeit des Alltags sind wir zweifellos immer wieder in Gefahr, bei der Begegnung zu andern Menschen die anzustrebende Ich-Du-Qualität und noch mehr ihre Untermauerung durch den Ich-Welt-Aspekt aus den Augen zu verlieren, sie allenfalls für spezielle Gelegenheiten zu reservieren. Wahrscheinlich sind wir in dieser Hinsicht unter den äusseren Bedingungen der heutigen Zivilisation (hier gemeint: die Umstände der gesellschaftlichen Organisation und des sozialen Zusammenlebens) auch schlicht überfordert. Wenn wir annehmen, dass diese äusseren Bedingungen einen rückwirkenden Einfluss auf unsere Bewusstseinsverfassung haben, stellt sich dann die Frage, wie sie so veränderbar sein könnten, dass, wie bei den frühen Gesellschaften der Menschheitsgeschichte, die Ich-Du-Einstellung wieder zur Selbstverständlichkeit werden könnte.
Wir haben also heute schon Mühe, ein Ich-Du-Verhältnis bei der Mensch-Mensch-Begegnung durchzuhalten, umso verständlicher wird es dann, dass uns dies bei der Auseinandersetzung mit der nicht-menschlichen Mitwelt schon fast überhaupt nicht gelingt. Hier haben wir es ja mit Fremdem zu tun, mit Lebewesen, die anders sind als wir, und wir neigen dazu, die aus dem diskursiven Bewusstsein stammende instrumentelle Einstellung, die wir noch genauer betrachten werden, auf Tiere und Pflanzen anzuwenden, Ausnahmen wie etwa die Beziehung zu Haustieren
vorbehalten.73Zwar sagt Bateson (1972, 142) hinsichtlich des jagenden Löwen: "The lion can sink into his unconscious the proposition that zebras are his natural prey, but in dealing with any particular zebra he must be able to modify the movements of his attack to fit with the particular terrain and the particular evasive tactics of the particular zebra." Das heisst aber nicht, dass der Löwe zur Vorbereitung der Jagd irgendwelche vorgängigen Hypothesen entwickelt, sondern er verfügt einfach über ein erfahrungsreiches, flexibles und anpassungsfähiges praktisches Bewusstsein.
Sind wir unfähig, die Mitkreaturen auf dieser Erde als im weiten Sinne Verwandte zu sehen, die unsern Respekt und unser Wohlwollen verdienen? Sicher ist es nicht unser Schicksal, unfähig zu bleiben, auch wenn sich dies in der heutigen Zeit kaum widerspiegelt. Aber auch in dieser Hinsicht spielt Buber die Rolle einer Leitfigur. Er sagt nämlich ausdrücklich, dass auch eine Beziehung zu andern Lebewesen einen Ich-Du-Charakter annehmen könne, sofern diese andern Lebewesen nicht (nur) nach Nützlichkeitsgesichtspunkten, sondern (auch) ihrem Wesen gemäss beurteilt
würden.74Siehe z.B. Eugene Linden 1981.
Und dies, so Buber, gilt nicht nur für Lebewesen, sondern sogar für leblose Komponenten der Umwelt. Auch dieser Schritt entspricht wiederum einer Vertiefung, die ihre Kraft aus der evolutionären Vergangenheit bezieht. Und dies kann in einem doppelten Sinne verstanden werden: In einem biologischen, indem wir selbst von tierischen Vorfahren abstammen, und in einem kulturellen, indem es eine Phase der Menschheitsgeschichte mit mythischen Vorstellungen gab, die für sowohl die soziale wie auch die biophysische Aussenwelt auf äquivalenten Prinzipien aufbauten (vgl. 4.4.3). Auch auf der Seite der nicht-menschlichen Mitwelt können wir hinter dem Ich-Du das Hintergründige der Welt erspüren.