Hier gelangt nun die menschliche Bewusstseinsentwicklung zur expliziten Entfaltung des diskursiven Bewusstseins. Dieses zeichnet sich aus durch ein gerichtetes Denken, was sich konkret in der Entstehung von hierarchischen Herrschaftsverhältnissen ausdrückt, einmal innergesellschaftlich, aber auch in der Vorstellung der bevorzugten Stellung des Menschen gegenüber der Natur. Es zeichnet sich auch aus durch ein abgrenzendes Denken in Dualitäten: Z.B. Hier Mensch, dort Gott, oder hier Subjekt, dort Objekt. Der Mensch stellt sich nun also eindeutig der Aussenwelt gegenüber, die vorherige Entsprechung von Seele und Natur geht verloren, ebenso die Ausrichtung am Kollektiv, die für das praktische Bewusstsein so massgeblich ist. Es entstehen stattdessen individualistische, ich-bezogene, auf einzelne als nützlich erachtete Objekte gerichtete Sichtweisen. Das Pendant zum Ich-Bewusstsein ist das ausgesprochene Raumbewusstsein, denn ein Ich, das sich seiner selbst bewusst wird, kann sich dem Raum gegenüberstellen und ihn frei von den seelischen Einschränkungen der mythischen Zeit objektivierend in den Blick nehmen, und er kann darüber hinaus in abstrahierender Weise eine gedachte Welt entwickeln. Damit ist, an der Jonas'schen Terminologie anknüpfend, noch einmal die Divergenz zwischen der Vereinzelung einerseits und der Ausdehnung andererseits angesprochen. Mit dem Denken über die Welt beginnen die Anstrengungen, auf sie Einfluss zu nehmen, sie umzugestalten. Dies ist auch logisch: Wenn die Umwelt in Einzelheiten zerfällt, muss es dazu den kompensierenden Versuch geben, diese wieder in einen ganzheitlichen Zusammenhang einzuordnen, was eben auch bedeuten kann, dass dieser Zusammenhang ein künstlich hergestellter ist. Durch diese Entwicklung ist, so Gebser, das alte Gleichgewicht gestört, es beginnt jenes Setzen und Fixieren, das es wiederherstellen soll.
Gebser unterscheidet eine frühere effiziente von einer späteren defizienten Phase des mentalen Bewusstseinszustandes. Die erstere kann mit antiken, zum Teil auch mit mittelalterlichen, die letztere mit neuzeitlichen Denkformen in Zusammenhang gebracht werden. Mit den Begriffen "effizient" und "defizient" drückt Gebser aus, dass eine anfänglich in vielerlei Hinsicht positive Entwicklung zu einem Zustand mit vorwiegend negativen Vorzeichen degeneriert. Dies hat damit zu tun, dass das Wirken der neuerdings explizit zum Zuge kommenden diskursiven Bewusstseinsebene sich anfänglich noch an einer Wechselbeziehung mit den unteren Bewusstseinsebenen ausrichtet, danach aber sich abspaltet und in selbstbezogener Weise weiterentwickelt. Tatsächlich war ja in der griechischen Antike bei allem Aufbruch in Richtung des Rationalen die durch Gefühl und Sinne unterstützte Orientierung am Kosmos immer noch massgebend. Das mentale Denken hatte in diesem Sinne einen mass- und teilnehmenden Charakter; es kommen darin die Überreste einer holistischen Orientierung zum Ausdruck, die in eine ansonsten rationale Welt hinübergerettet worden sind. Gleichzeitig ist in der griechischen Philosophie die Domäne der Praxis, des politischen Handelns im mitmenschlichen Bezug, ein vordergründiges Thema. Zur Ausrichtung an der Welt stösst also auch eine solche an der Mitwelt, wobei aber die letztere in die erstere eingebettet bleibt. Dies gilt auch für die mit dem diskursiven Bewusstsein aufkommende Ressourcenperspektive auf die Umwelt mit dem gleichzeitigen Versuch der erklärenden Weltkonstruktion; die letztere steht ja sowieso noch stark zu unbewussten Hintergründen in Verbindung. Der Individualismus hält sich noch in Grenzen, die Wissenschaft ist vorläufig ein Unternehmen, das Wissen um des Wissens willen produziert.
Anders wird dies mit der neuzeitlichen Entwicklung. Das Rationale wird auf Kosten der unteren Bewusstseinsebenen ungemein gestärkt. Mit der Entdeckung der Perspektive in der Frührenaissance wird die planmässige Erschliessung des Raumes möglich, womit aber gleichzeitig eine zerteilende Haltung geboren ist. Die kompensierenden Versuche, die Basis der Welt in grundlegenden Prinzipien zu finden, werden zunehmend abstrakter. An die Stelle des noch einfühlsamen Denkens und Tuns göttlicher Gestalten treten Naturgesetze, Quarks, explodierende Universen und dergleichen. Nach Gebser stellt das defiziente mentale Denken der Neuzeit einen Weg in die Leere dar: Der individualisierte Mensch, der über eine zerstückelte Umwelt zu verfügen versucht, stellt sich in einen Gegensatz zur Welt: "... jede Zwecksetzung ist immer machtgeladen, und vor allem auch betont eigennützig, und steht somit im Gegensatz zum
Weltganzen."144Georg Picht 1979, 66.
Dazu weist Gebser auf ein zweite Gefahr hin: Wenn das Rationale überrational wird, der Individualismus überindividualistisch, droht der Absturz ins Massenhafte; das unterdrückte Unbewusste kann plötzlich in unkontrollierter Weise die Psyche überschwemmen. Tatsächlich gehören fundamentalistische Strömungen ebenfalls zum Bild der Neuzeit; so gesehen sind sie also nicht Ausdruck einer noch nicht gelungenen Aufklärung, sondern Folge einer Aufklärung, die gewissermassen zu gut gelungen
ist.145Picht 1979, 82. Wenn im Titel zum vorliegenden Abschnitt von der Vergewaltigung der Umwelt durch die Welt die Rede ist, ist damit also eben die vom Menschen gedanklich konstruierte Welt gemeint.