Die menschliche Stammesgeschichte beginnt mit der Abspaltung einer hominiden Entwicklungslinie von den Menschenaffen vor vielleicht 8 Millionen Jahren. In ihren Anfängen entspringt diese Menschwerdung bewußtseinsmäßig dem, was Gebser die „archaische Ebene" nennt, die er so beschreibt: „Es ist die Zeit, da die Seele noch schläft, und so ist sie die traumlose Zeit und die der gänzlichen Ununterschiedenheit von Mensch und
All."2Gebser 1949, Bd.1, 73.
Auf Figur 1 bezogen interpretiere ich diesen Zustand als einen, in dem das Unbewußte in Form eines emotionalen Trieb- und Instinktbewußtseins dominant ist, womit alles noch in einer Mensch-Kosmos-Beziehung aufgehoben ist. Allmählich wird der Mensch dann aus diesem Einklang herausgelöst, es wird ihm die Existenz einer Außenwelt bewußt, und damit findet auch schon eine erste Zentrierung statt. Es entsteht das, was Gebser als „magische Ebene" bezeichnet. „Der Mensch ist zum ersten Male nicht mehr nur in der Welt, sondern es beginnt ein erstes, noch schemenhaftes Gegenübersein. Und damit taucht keimhaft auch jene Notwendigkeit auf: nicht mehr nur in der Welt zu sein, sondern die Welt haben zu
müssen."3Gebser 1949, Bd.1, 79-80.
Hinsichtlich Figur 1 wäre dieser Zustand wohl so zu interpretieren, daß nun ein ausgeglicheneres Zusammenwirken von Unbewußtem und praktischem Bewußtsein maßgeblich ist. Es entsteht ein langsames Bewußtwerden von Ich-Du-Situationen, die aber vorläufig noch wenig differenziert erlebt werden: Die Menschen nehmen sich immer noch weniger als Einzelne denn als Gruppe wahr. Und etwas Entsprechendes dürfte wohl auf das Verhältnis des Menschen zur biophysischen Umwelt zutreffen, das immer noch als ein Eingebettetsein empfunden wird.
Das von Gebser angesprochene „Haben-müssen" der Welt wirft aber doch die Frage auf, ob sich hier nicht erste Anzeichen einer Rationalität instrumentellen Typs bemerkbar
machen.4Gebser selbst glaubt auch, daß die Wörter „machen", „Mechanik", „Maschine", „Macht" und „Magie" alle auf eine gemeinsame indogermanische Wurzel zurückgehen (Gebser 1949, Bd.1, 79).
Peter Ulrich glaubt sogar, im Hominiden-Stadium den Ursprung eines Gegensatzes zwischen einer instrumentellen und einer kommunikativen Rationalität festmachen zu
können.5Vgl. Peter Ulrich 1987, 36ff. Seine Gegenüberstellung orientiert sich an der entsprechenden Unterscheidung dieser Rationalitäten bei Habermas (vgl. mit Abschnitt 3.2).
Dies ist für uns von besonderem Interesse, da er ihn mit der vermutlichen geschlechtlichen Arbeitsteilung, bei der Männer vorwiegend der Jagd obliegen und die Frauen sich mehr um die Kinder kümmern und pflanzliche Nahrung sammeln, in Verbindung bringt und zum Ausgangspunkt einer in der Folge spielenden evolutionistischen Pendelbewegung zwischen einer stärker männlich und einer stärker weiblich geprägten Kultur
macht.6Ulrich 1987, 77.
Dazu ist aber doch folgendes zu sagen: Die Anlage für eine Rationalität instrumentellen Typs ist vorläufig immer noch in einen Bewußtseinszustand eingebunden, der eine seinshafte Orientierung hat, also dieser Entwicklungsstufe entsprechend integrierend wirkt, und noch keine verstandesmäßige Formulierung äußerer Ziele zuläßt. Beziehungen vom Ich-Es-Typ sind damit noch gar nicht möglich. Im Gegenteil, aus der stärkeren Entwicklung des praktischen Bewußtseins entfaltet sich zunächst der Ich-Du-Typ, und die Begegnung nicht nur mit den Mitmenschen, sondern auch mit der biophysischen Umwelt muß notwendigerweise einen irgendwie kommunikativen Charakter gehabt haben. Davon war zweifelsohne auch die Jagd betroffen.
Insofern die Möglichkeit eines Herrschaftsverhältnisses schon die Existenz instrumentellen Denkens voraussetzt, ist dann in einem Bewußtseinszustand der genannten Art auch eine Männerherrschaft, wie sie von Ulrich aufgrund der genannten Arbeitsteilung bereits für die Hominiden postuliert wird, nicht plausibel. Sofern ein Analogieschluß hier gestattet ist, können wir dazu einen vergleichenden Blick auf in der Neuzeit noch existierende Wildbeutergesellschaften werfen. Jürg Helbling, der verfügbares Beobachtungsmaterial sorgfältig neu interpretiert hat, kommt zum Schluß, daß die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern (und auch zwischen den Generationen) bei allen Wildbeutergesellschaften einen symmetrischen und egalitären Charakter
haben.7Vgl. Jürg Helbling 1987. Dazu paßt allerdings das Bild nicht, das die ethnologischen Daten von G.P. Murdock (500 verschiedene Gesellschaften im „World Ethnographic Sample", 1957, und für über 1000 verschiedene Gesellschaften im „Ethnographic World Atlas", 1967) vermitteln: Sie deuten anhand der Existenz z.B. patrilinearer Strukturen ein erhebliches Überwiegen der Orientierung am männlichen Geschlecht an, und dies besonders auch für die Wildbeutergesellschaften (vgl. Wolfgang Rudolph 1980). Die Zuverlässigkeit dieser Daten ist aber grundsätzlich in Frage zu stellen (vgl. Helbling 1987, 19).
Dies gilt sogar für die australischen „Aborigines" wie auch für die Eskimo, die beide bisher selbst von Autoren, die eine universelle Erstrangigkeit des Mannes verwerfen, als Ausnahmen angesehen wurden. Interessant ist dieser Befund vor allem im letzteren Falle, denn die Eskimos lebten ursprünglich fast ausschließlich von der Jagd, und Ulrich stützt seine These der Vorherrschaft der Männer auf die folgende ökonomische Voraussetzung: „Um den Preis der Abhängigkeit von den Männern als den ‚Ernährern' befassen sie [die Frauen] sich vorwiegend mit der mütterlichen Fürsorge ... sowie mit dem Sammeln ergänzender pflanzlicher
Nahrung".8Ulrich 1987, 38-39. Hervorhebungen von D.S.
Diese Voraussetzung selbst schon trifft aber höchst wahrscheinlich nicht zu: Ein Vergleich wiederum mit neuzeitlichen Wildbeutergesellschaften zeigt, daß hinsichtlich der Nahrungsversorgung nicht die männliche Jagd, sondern die weibliche Sammeltätigkeit die Hauptrolle
spielt.9Vgl. Marshall D. Sahlins 1974.