Es ist anzunehmen, daß es vom Stadium der Hominiden einen allmählichen, gleitenden Übergang zu dem des Homo sapiens gab; ein Beginn der menschlichen Kultur ist damit zeitlich nicht festzulegen. Entsprechend darf auch eine großes Maß an Kontinuität hinsichtlich der Lebens- und Wirtschaftsform vermutet werden, auch wenn diese allmählich immer mehr vom Gebrauch von Werkzeugen geprägt ist. Diese Vermutung habe ich ja oben auch zum Anlaß genommen, um ethnologisch dokumentierte Lebensweisen von Wildbeutergesellschaften in die Vergangenheit zu projizieren. Nun fällt auf, daß es ab einem Zeitraum vor etwa 30'000 Jahren bis zur neolithischen Revolution bei den archäologischen Funden im europäischen Bereich einen Reichtum an Statuetten und Idolen gibt, die fast ausschließlich Frauen darstellen. Dies ist ein Hinweis darauf, daß die Frau im Zentrum des religiösen Kultes, und, gemessen an der damaligen Bedeutung der Religion, vermutlich auch im Zentrum des gemeinschaftlichen Lebens überhaupt gestanden haben
dürfte.10Vgl. Marie E.P. König 1979. Dux allerdings glaubt, daß die mit der Gebärfähigkeit angezeigte Verbindung der Frauen zu (segensreichen aber auch gefährlichen) kosmischen Kräften die Männer gerade zum Versuch veranlassen mußte, die Kontrolle über sie zu erlangen, und daß sie eine solche auch schon tatsächlich ausübten (Dux 1992, 52).
In dieselbe Richtung deuten auch Ergebnisse der paläolinguistischen Forschung, die sich darauf beziehen, daß die Mehrzahl von rekonstruierbaren Urworten mit weiblichen Konzepten zu tun
hat.11Vgl. Richard Fester 1979.
Wie weit wir eine Anwesenheit derartiger matristischer Strukturen allenfalls auch noch rückwärts in die Vergangenheit hinein verlängern dürfen, bleibt offen. Wenn wir aber vorher in Analogie zu neuzeitlichen auch für frühzeitliche Wildbeutergesellschaften ein Geschlechterverhältnis mit egalitären Zügen angenommen haben, so können wir jetzt sagen, daß dies mindestens diese Züge gehabt haben
müßte.12Wenn wir unseren Blick wieder auf die Tierprimaten ausdehnen finden wir, daß die von Shirley Strum in Ostafrika untersuchten Savannenpaviane (Papio anubis) eine matrifokale Sozialstruktur aufweisen: Die Frauen mit ihrem Nachwuchs bilden den stabilen Kern einer Gruppe, während die Männer eher periphere Positionen einnehmen und auch beim Erwachsenwerden die Gruppe wechseln. Diese Art von Pavianen ist deshalb von Interesse, weil anzunehmen ist, daß die Hominiden in vergleichbaren Habitats lebten (Strum 1989).
Diese offenbar weiblich geprägte Urgeschichte scheint sodann in der Entstehung eines besonderen Kulturtyps zur Zeit des Übergangs vom nomadischen Wildbeutertum zu Sesshaftigkeit und Landbau vor rund 10'000 Jahren kulminiert zu haben. Heide Göttner-Abendroth spricht von „matriarchalen" Kulturen, und sie glaubt, daß diese damals eine weltweite Verbreitung
hatten.13S. Heide Göttner-Abendroth 1988. Der Ausdruck „matriarchal" soll auf die dominante Stellung der Frauen aufmerksam machen. Er ist aber immer wieder Anlaß für Mißverständnisse, dann nämlich, wenn er als genaues Gegenstück zu „patriarchal" verstanden, also mit der Herrschaft von Frauen über Männer in Zusammenhang gebracht wird. Gerade dies ist aber nicht gemeint, wohl aber, daß die Frauen eine zentrale Position in der Gesellschaft einnahmen, sowohl was die Organisation der landwirtschaftlichen Arbeiten wie auch die des religiösen Lebens betraf. Carola Meier-Seethaler zieht deshalb die Bezeichnung „matrizentrisch" vor (Meier-Seethaler 1988, 23), Marija Gimbutas das Adjektiv „matristisch" (Gimbutas 1991, 324). Göttner-Abendroth plädiert für die Beibehaltung von „matriarchal", „denn das griechische Wort 'arché' bedeute nicht nur 'Herrschaft', sondern auch 'Anfang': Am Anfang war die Mutter, das weibliche Prinzip. Und das trifft die Sache" (Göttner-Abendroth 1988, 9). In diesem Text halte ich mich an den Vorschlag von Gimbutas.
Sie zeichnen sich durch besondere Merkmale im Bereich des Religiösen, des Sozialen und des Ökonomischen aus. Die Religion orientiert sich an einem Kult der Muttergöttin (Erd- oder Mondgöttin), die sozialen Strukturen gründen auf mutterrechtlich organisierten Sippen, deren Fortpflanzung wohl über eine Art von Gruppenehe geregelt ist, und Garten- oder Ackerbau und Gemeinschaftsbesitz machen die besonderen Aspekte des ökonomischen Bereichs
aus.14Vgl. Göttner-Abendroth 1988, Meier-Seethaler 1988 und Robert Ranke-Graves 196
Marija Gimbutas dokumentiert die Existenz matristischer Kulturen, die sie „Alt-Europa" nennt, für den ganzen Kontinent, wobei diese im Zeitraum von 6500 bis 3500 v.u.Z. im Balkan und angrenzenden Gebieten zu besonderer Blüte
gelangten.15Dazu Gimbutas: „... the culture called Old Europe was characterized by a dominance of woman in society and worship of a Goddess incarnating the creative princinple as Source and Giver of All. In this culture the male element, man and animal, represented spontaneous and life-stimulating - but not life-generating - powers. ... The term Old Europe is applied to a pre-Indo-European culture of Europe, a culture matrifocal and probably matrilinear, agricultural and sedentary, egalitarian and peaceful. It contrasted sharply with the ensuing proto-Indo-European culture which was patriarchal, stratified, pastoral, mobile, and war-oriented ..." (Gimbutas 1982, 9).
Der für diese Zeitepoche maßgebliche Bewußtseinszustand dürfte der von Gebser „mythisch" genannte sein, der sich durch eine „Mutation" (Bewußtseinssprung) aus dem magischen Zustand
entwickelt.16Gebser 1949, Bd.1, 100ff.
Er zeichnet sich durch ein Bewußt werden der Innenwelt, der Seele, aus, was Anlaß für bildhafte Vorstellungen ist, die dann, dichterisch in Worte gefaßt, die Form von Mythen annehmen. „Die mythische Ebene hat ein imaginatives Bildbewußtsein, das sich in dem Bildcharakter des Mythos spiegelt und auf die Seele und auf den Himmel, den antiken Kosmos,
antwortet."17Gebser 1949, Bd.1, 110-111.
In einem gewissen Sinne kann hier von den Kollektivträumen der fraglichen Völker geredet
werden.18Natürlich gab es mythische Vorstellungen nicht nur in den matristischen Kulturen, sondern für eine Zeitlang auch in den nachfolgenden patriarchalen Gesellschaften. Die Blütezeit der ersteren scheinen aber gleichzeitig einem Höhepunkt der mythischen Zeit zu entsprechen.
Das Unbewußte spielt noch eine orientierende Vermittlerrolle zum Universellen der Natur. Daß dieses aber ins Bewußtsein kommt, heißt, bezogen auf Figur 1, daß es ein integrierendes Zusammenspiel von „Herz" und „Hand" gibt: Mythen werden in Form von jahreszeitlichen Riten von den betreffenden Menschen immer wieder selbst gelebt. Dies fördert einerseits den sozialen Zusammenhalt, der nun durch echt kommunikative Strukturen geprägt ist: „Nach Durchmessung der eigenen Seele ... findet der mythische Mensch den andern Menschen ... Auf dem Umweg über das Erwachen zu sich selber erwacht das Du
..."19Gebser 1949, Bd.1, 114.
„Mythisches Wissen" besteht aber auch in einem Verständnis für den lebengebenden, lebenerhaltenden und lebenerneuernden Hintergrund der Erde, was vermuten läßt, daß der Umgang der matristischen Kulturen mit der Natur weitgehend gewaltlos war. Daß der Bereich von Ich-Du-Beziehungen auch die natürliche Umwelt einschloß, dürfte selbstverständlich gewesen sein; schließlich glaubten die damaligen Menschen ja auch in der nicht-menschlichen Mitwelt ihre Verwandten zu
haben.20Aus tiefenpsychologischer Sicht spielte dabei auch das Phänomen der „Projektion" eine Rolle, das eine Auslagerung innerseelischer Inhalte in die Umwelt umfaßt. Die Einseitigkeit dieser Vorstellung wird allerdings von anderer Seite, z.B. von Morris Berman, kritisiert. Er meint, die Menschen der vorwissenschaftlichen Zeit hätten nicht nur geglaubt, das Materielle um sie herum hätte eine Art von Bewußtsein, sondern dies wäre tatsächlich auch so gewesen, so daß es zwischen Mensch und Umwelt eine wechselseitige psychische Beziehung gegeben hätte (Berman 1985, 97-98). Vergleiche diese Aussage mit dem in Abschnitt 1. gegebenen Hinweis auf die von Franz 1978 diskutierte materiell-psychische Einheitswirklichkeit.
Wie wenig instrumentalisiert der Umgang mit der Natur in der mythisch geprägten Zeit war, zeigt sich am Beispiel der Landwirtschaft, wie sie noch von griechischen Autoren beschrieben wird. Hesiod (ca. 700 v.u.Z.) schildert in den „Erga" genannten Versen, wie im jahreszeitlichen Zyklus landwirtschaftliche Tätigkeiten im Zeichen der Göttin Demeter ausgeführt wurden. Dies bedeutet aber, daß Getreideanbau damals noch nicht als etwas verstanden wurde, das ein Produkt aus sich entläßt, sondern etwas, das den dabei tätigen Menschen eine richtige Lebensführung
ermöglicht.21Vgl. Vernant 1973, 278ff.