Als Jung-Schüler hat der Mediziner und Psychologe Erich Neumann (1905-1960) mit seinem beiden Hauptwerken, "Ursprungsgeschichte des Bewusstseins" und "Die Grosse
Mutter",240Siehe Erich Neumann 1949 und 1985 (1956).
versucht, die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins von der Dunkelheit des Unbewussten zur Helligkeit des Ich-Bewusstseins nachzuzeichnen, wobei er für die kollektive Entwicklung der Menschheit und die ontogenetische Entwicklung des einzelnen Menschen eine Analogie annimmt. Neumann macht dazu Gebrauch von der Archetypenlehre Jungs. Archetypen sind die "Bildformen der Instinkte" und haben damit einerseits einen kollektiv bedeutsamen "Ewigkeitsaspekt", andererseits aber auch, da sich die Sichtbarkeit, Verstehbarkeit und Deutbarkeit der Bilder mit der Bewusstseinsentwicklung selbst verändern, einen historischen
Aspekt.241Vgl. Neumann 1949: 3-4.
Dieser historische Aspekt aber lässt sich aus den Mythen der Völker herauslesen, "der Mythus ist eine Phänomenologie der
Bewusstseinsentwicklung".242Jung im Vorwort zu Neumann 1949: 2.
Neumann nimmt an, dass die Bewusstseinsgeschichte bestimmte Stadien durchläuft - die wir hier nicht weiter betrachten können -, und dass die Aufeinanderfolge einen gesetzmässigen Charakter hat, was nicht heisst, dass überall immer alle Stadien auftreten
müssen.243Vgl. Neumann 1949: 9.
Zusammenfassend sagt Neumann:
Aus feministischer Sicht haben die Darstellungen Neumanns heftige Kritik
hervorgerufen.245Die Kritik stammt vor allem von Gerda Weiler 1985, daneben auch von Göttner-Abendroth 1988, 126 ff.
Der Hauptanlass dazu ist der, dass das Weibliche nur in den Spiegelungen durch die männliche Psyche erfasst wird. Die Konsequenz: Die Bewusstseinsentwicklung erscheint in Neumannscher Interpretation im wesentlichen als eine Evolution des Geistes aus der Natur heraus, wobei das Natürliche einen weiblichen, das Geistige einen männlichen Charakter hat. Wenn die offizielle Religion die Unterordnung der Frau unter den Mann als gottgegeben darstellt, dann leistet hier die Analytische Psychologie, vertreten durch Jung und Neumann, dieser Vorstellung Sukkurs, indem für sie die Frau archetypisch der Erde, der Mann aber dem Himmel entspricht. "Der Weg von den Müttern zu den Vätern, von der matriarchalen Unbewusstheit in die Geistwelt der Männerkultur, wird so zum vorgezeichneten Entwicklungsplan des Einzelnen und der
Völker."246Weiler 1985: 28.
Damit aber erscheint die Verdrängung der matriarchalen Kulturen der
Frühzeit247Wie in 4.2 in "Kulturelle Evolution" kurz erwähnt, können wir mindestens für das Neolithikum eine längere Phase von frauenzentrierten Kulturen annehmen, die wir dort deshalb "matrizentrisch" genannt haben. Weiler und auch Göttner-Abendroth ziehen den Ausdruck "matriarchal" vor, weisen aber auch darauf hin, dass damit nicht eine Herrschaft der Frau über den Mann suggeriert werden soll. Göttner-Abendroth (1988: 9) dazu: "Meine Definition von 'Matriarchat' lautet ...: von Frauen geschaffene und geprägte Gesellschaften, in denen sie dominierten, aber nicht herrschten. ... Zugleich lese ich den Begriff 'Matriarchat' anders, denn das griechische Wort 'arché' bedeutet nicht nur 'Herrschaft', sondern auch 'Anfang': Am Anfang war die Mutter, das weibliche Prinzip. Und das trifft die Sache."
durch patriarchale Zivilisationen als Fortschritt, denn "jenseits der Patriarchatskultur ... vermutet Neumann den Ursumpf, das Chaos
..."248Weiler 1985: 29.
Erst die Herauslösung eines spezifisch männlichen Bewusstseins mit seinen Fähigkeiten zum Zerlegen, Spezialisieren und Abstrahieren schafft hier Ordnung. Entsprechend gibt es für Neumann auch bei der Beschreibung der matriarchalen Frühkulturen nur den Mann als handelndes Subjekt. "Priesterinnen und Prophetinnen ... sind ... [bloss] Geburtshelferinnen des patriarchalen
Ich-Bewusstseins."249Weiler 1985: 30.
Dabei bedarf dieser Mann - entsprechend der Jungschen Lehre von den unbewussten, komplementär-geschlechtlichen Anteilen der Psyche in Form von Anima beim Mann und Animus bei der
Frau250Siehe dazu Jacobi 1971: 176 ff.
- durchaus der Verbindung zum weiblichen Prinzip, um daraus aktiv-schöpferische Kraft gewinnen zu können, die ihn dann zu den kulturellen Leistungen
befähigt.251Vgl. Weiler 1985: 31-32.
Umgekehrt ist die Frau, um ihrerseits die matriarchale Welt der Mutter überwinden und zur "Befreiung zum Bewusstsein" gelangen zu können, "auf den Eingriff des Männlichen zu ihrer Aufschliessung
angewiesen".252Siehe Weiler 1985: 53.
Dabei wird aber die Frau selbst nicht schöpferisch, sie bleibt passiv: "Das ewig Weibliche erleidet das
Dasein."253Weiler 1985: 32.
Insbesondere wendet sich Weiler auch gegen das Archetypen-Verständnis in der Analytischen Psychologie im allgemeinen und bei ihrer Interpretation durch Neumann im besonderen. Dieser behauptet, die matriarchalen Urbilder seien "gestaltlose Anfangssymbole" und erst die weitere Entwicklung habe die elementaren Zeichen mit Sinn und Bedeutung
gefüllt.254Siehe Weiler 1985: 23 bzw. 41.
Weiler sieht es umgekehrt: Die ursprünglich anschaulichen Symbole wurden im Verlauf der Kulturgeschichte immer mehr zu entemotionalisierten, abstrakten Zeichen. Tatsächlich hatte das Urbild des matriarchalen Bewusstseins einen ganzheitlichen, alle Erscheinungen in einen Lebenszusammenhang einbindenden Charakter:
Die Schrift dieser Zeit war notwendigerweise eine Bilderschrift, die sich der Übertragung in rational-konkrete Denkmuster
widersetzt.256Vgl. Weiler 1985: 36.
Nicht nur wird sie aus heutiger (männlicher) Sicht fehlinterpretiert, sondern eine Rekonstruktion stösst auf spezielle Schwierigkeiten, weil im Zuge der Patriarchalisierung das matriarchale Kulturgut "umgedeutet, aufgesogen, verfremdet, umgearbeitet und teilweise völlig unterschlagen" worden
ist.257Weiler 1985: 42.