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Selbstbestimmung

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Umwelterhaltung durch Selbstbestimmung

Dieter Steiner
Dieser Artikel ist erschienen in Hansjürg Büchi und Markus Huppenbauer (Hrsg.): Autarkie und Anpassung. Zur Spannung zwischen Selbstbestimmung und Umwelterhaltung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, S. 257-283.
Dieses Buch enthält die Vorträge, die im Rahmen einer gleichnamigen interdisziplinären Vortragsreihe an der Universität und der ETH Zürich im Sommer 1994 gehalten wurden.
1. Einleitung: Was heisst Selbstbestimmung?
2. Das ökologische Versagen der Systeme
3. Ökoregionen als Lebensräume
4. Herrschaftsfreie Gemeinschaften
5. Selbstrealisierung
Der Bewusstseinszustand eines selbstbestimmten Menschen wird eine Ausrichtung an den umweltbezogenen und sozialen Notwendigkeiten reflektieren. Es bleibt aber noch eine dritte, eigenständige Quelle der Selbstbestimmung, das subjektiv Notwendige in Form der eigenen Natur. Ich glaube nicht, dass damit nur individuell Verschiedenes und Beliebiges ins Spiel kommt, sondern dass Elemente auftauchen, die einen objektiven oder objektivierbaren Gehalt haben, da ja letztlich eine menschliche Natur allen Menschen gemeinsam ist.72
Zur Illustration dieser Aussage sei an das Konzept des "kollektiven Unbewussten" von Carl Gustav Jung erinnert. Siehe dazu z.B. Marie-Louise von Franz 1978, Kap. 4 ("Die Hypothese des kollektiven Unbewussten"), 77-91.
Den Vorgang, sich seinem eigenen Wesen nach entwickeln zu können, bezeichne ich in Anlehnung an die humanistische Psychologie und auch an Arne Naess mit "Selbstrealisierung".
Mit Selbstrealisierung ist nicht ein ego-zentrierter Prozess gemeint, sondern die Entwicklung eines inneren Potentials, das nach Abraham Maslow mit positiven Vorzeichen zu versehen ist:
Jeder von uns besitzt eine wesentliche, biologisch begründete innere Natur, die bis zu einem gewissen Grad 'natürlich', wirklich, gegeben ist und - in einem bestimmten beschränkten Sinne - unabänderlich oder zumindest unverändert ist. ... Die innere Natur jedes Menschen ist zum Teil einzigartig und zum Teil ein Gattungscharakteristikum. ... Diese innere Natur ... scheint an sich nicht primär oder notwendig böse zu sein. Die Grundbedürfnisse ..., die grundlegenden menschlichen Emotionen und die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten sind offenbar entweder neutral, prämoralisch oder positiv 'gut'. ... Destruktivität, Sadismus, Grausamkeit, Bosheit usw. scheinen nicht inhärent zu sein, sondern eher heftige Reaktionen auf Frustrationen unserer inhärenten Bedürfnisse, Emotionen und Fähigkeiten darzustellen. ... Da diese innere Natur gut oder eher neutral als schlecht ist, ist es besser, sie zu fördern und zu ermuntern, anstatt sie zu unterdrücken.73
Abraham Maslow 1985, 21.
So gesehen müsste ein "Unbehagen in der Kultur" nicht deshalb entstehen, weil diese Kultur uns dazu dient, unsere Natur, verstanden als zerstörerische Triebe, mühsam unter Verschluss halten, sondern weil sie eine Form angenommen hat, die es uns schwer macht, die positiv zu bewertenden Anlagen, die wir aus dieser Natur mitbekommen haben, zu entwickeln.74
In "Das Unbehagen in der Kultur" sagt Sigmund Freud: "Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit ... ist, dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, ... sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. ... Die Existenz dieser Aggressionsneigung ... ist das Moment, das ... die Kultur zu ihrem Aufwand nötigt. ... Die Kultur muss alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen" (Freud 1985, 102). Diese Einseitigkeit wird von Maslow kritisiert: "Es ist, als hätte Freud uns die kranke Hälfte der Psychologie geliefert, die wir jetzt mit der gesunden Hälfte ergänzen müssen" (Maslow 1985, 23).
Maslow betont aber auch, dass eine auf der Vorstellung der Selbstrealisierung aufbauende humanistische Psychologie immer noch als lediglich vorläufig betrachtet werden sollte, als Vorbereitung auf eine noch höhere Stufe der Psychologie, eine "die überpersönlich, transhuman ist, ihren Mittelpunkt im All hat, nicht in menschlichen Bedürfnissen und Interessen, und die über Menschlichkeit, Identität, Selbstverwirklichung und ähnliches hinausgeht."75
Maslow 1985, 12. Es sind dies Anliegen, die heute in der sog. "transpersonalen Psychologie" diskutiert werden (siehe dazu z.B. Roger N. Walsh und Frances Vaughan 1985).
In einem engeren Sinne ist unsere eigene Natur unser Leib. Diesen müssen wir in einem gewissen Sinne wieder entdecken, denn in unserer kopflastigen Zivilisation hat nicht nur eine Abspaltung unseres höheren Bewusstseins von tieferen Bewusstseinsebenen, sondern auch von unserer leiblichen Grundlage stattgefunden. Nach Gernot Böhme, der Gedanken zu einer Leibphilosophie entwickelt hat, ist diese Abspaltung ein Resultat der scharfen Trennung von Subjekt und Objekt und einer Abwertung von Phantasie und Sinnlichkeit als Erkenntniskräfte. Unser Leib ist zum Körper degradiert worden, mit dem wir instrumentell umgehen, so eben wie wir auch mit der äusseren Natur umgehen. Der Leib aber ist nur über spürende Selbsterfahrung zugänglich. Um wieder zu ihm zurückzufinden, müssen wir also wieder spüren lernen.76
Siehe Gernot Böhme 1992.
Von Kritikern werden solche und ähnliche Vorstellungen in eher abschätziger Weise als reaktionärer Trend zu einer Neuromantik diagnostiziert. Tatsächlich aber geht es um etwas, das nicht hinter die Aufklärung zurückfällt, sondern über sie hinausgeht, nämlich darum, dass das menschliche Subjekt auch in seiner Subjektivität gegenüber rationalistischen Zwängen autonom wird, d.h. dass es auch die expressiven Komponenten seiner Persönlichkeit entwickeln kann.77
Dazu Cornelia Klinger: "Der Anspruch auf Autonomie des ganzen Menschen verändert notwendigerweise das Verhältnis zur Natur, und zwar sowohl zur inneren = menschlichen Natur als auch zu der den Menschen umgebenden äusseren Natur" (Klinger 1992, 33). Klingers Anliegen ist es im übrigen, Parallelen zwischen Romantik und Feminismus deutlich zu machen. Diese haben damit zu tun, dass in der abendländischen Geschichte die Unterdrückung der Natur immer auch eine Unterdrückung der Frau bedeutet hat. Romantik und Feminismus können deshalb als miteinander verwandte Gegenbewegungen gegen vorherrschende Geistesströmungen gesehen werden. Tatsächlich hat das im vorliegenden Beitrag behandelte Thema der Umwelterhaltung durch Selbstbestimmung sehr viel mit der Geschlechterproblematik in unserer Gesellschaft, heute und in der Vergangenheit, zu tun. Hier kann ich nicht weiter darauf eintreten, ich habe mich aber damit eingehend in einem andern Aufsatz befasst (siehe Steiner 1994).
Diese Abspaltung von unserem Leib, der ja auch mit Sinnesorganen ausgestattet ist, zeigt auch, dass der Verlust des Zugangs zur eigenen wie auch zur äusseren Natur miteinander zusammenhängen. Um ihn umgekehrt wieder zu finden, sind beide Seiten wichtig. Dies ist das Thema im Konzept der "Self-realisation"78
Naess unterscheidet die "Self-realisation" (mit grossem S) als Prozess der menschlichen Reifung zu einem erweiterten Selbst von der "self-realisation" (mit kleinem s) als ego-zentrierte Entwicklung (siehe Naess 1993, 85).
von Arne Naess. Einem Menschen wird ein spontanes Erleben des Aussen dann möglich, wenn es ihm gelingt, sich nicht als von der Umwelt abgetrennt, sondern als in einem allseitigen relationalen Feld befindlich zu sehen. Und wenn es ihm ausserdem gelingt, äussere Beziehungen zu internalisieren, d.h. zu einem Teil seiner eigenen Identität zu machen, dann kann ein Prozess der Selbstrealisierung in Gang kommen. Ein selbstrealisierter Mensch kann Kontexte in ganzheitlicher Art wahrnehmen, in einer Art, bei der nicht nur Fakten, sondern auch Werte sichtbar werden. Er kann den Dingen auf die Spur kommen. Mit Bezug auf Kant redet Naess von der "schönen Handlung" als Ausdruck eines Zustandes der Selbstrealisierung:
... the norm "Self-realisation!" is a condensed expression of the unity of certain social, psychologcial, and ontological hypotheses: the most comprehensive and deep maturity of the human personality guarantees beautiful action. This is based on traits of human nature. We need not repress ourselves; we need to develop our Self. The beautiful acts are natural and by definition not squeezed forth through respect for a moral law foreign to mature human development. Increasing maturity activates more of the personality in relation to more of the milieu. It results in acting more consistently from oneself as a whole. This is experienced as most meaningful and desirable, even if sometimes rather painful.79
Naess 1993, 86.
Die Selbstrealisierung eines Menschen dürfte in einem ökoregional-gemeinschaftlichen Milieu, wie wir es vorher diskutiert haben, leichter zustande kommen, denn ein solches Milieu ist eines, in dem sich die beiden ersten Notwendigkeiten bemerkbar machen und den Individuen relativ unvermittelt eine stärker beziehungsorientierte Lebensweise nahelegen können. Umgekehrt ist zu erwarten, dass der Bewusstseinszustand eines selbstrealisierten Individuums diesem Handlungsweisen zur Gestaltung eines derartigen Milieus nahelegen kann. Biophysische und soziale Strukturen und Bewusstseinszustände sind nicht unabhängig voneinander.
6. Schluss: Der Weg nach Ökotopia beginnt unten
Literatur