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Gesellschaft

Niklas Luhmann (1927-1998) und seine Theorie autopoietischer sozialer Systeme1
Ausser von der konsultierten Literatur hat dieser Text profitiert von: a) einem früheren Papier von mir zur autopoietischen Systemtheorie (Steiner 1989); b) dem Transskript eines Vortrages von Carlo Jaeger zum Thema "Handlung bei Parsons bis Luhmann", den er im Rahmen des internen Seminars in unserer damaligen Gruppe für Humanökologie im Dezember 1986 hielt; c) der textlichen Fassung einer Vorlesungsvorbereitung zum Thema "Luhmann" von Wolfgang Zierhofer 1995.

Dieter Steiner
Dieser Artikel wurde im Januar 2002 geschrieben und ist anderweitig unveröffentlicht.
Niklas Luhmann hat die Gemüter während dreissig Jahren in kontroverser Weise bewegt - und bewegt sie immer noch - wie wohl kaum ein anderer Sozialwissenschaftler vor ihm. Den einen gilt er als bedeutendster Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts, er wird als "Lichtbringer für die Soziologie" gesehen, ja sogar "Newton der Soziologie" genannt.1
So Dietrich Schwanitz 1998 in seinem Nachruf. Dass die Leistung Luhmanns mit Newton verglichen wird, könnte boshafterweise auch so interpretiert werden, dass der erstere unsere Vorstellungen über die menschliche Gesellschaft mit mechanistischen Elementen "bereichert" hat.
Die Leute, die ihn auszeichnen, sind der Meinung, Luhmann hätte mit einem Geniestreich die ganze vorherige Soziologie umgekrempelt, bzw. schlichtweg "die geistige Möblierung der Vergangenheit zum Sperrmüll" erklärt.2
Wiederum Schwanitz 1998.
Zu dieser Möblierung gehören die sog. empirische Sozialforschung - eine Untersuchungsrichtung, bei der Befragungsdaten gesammelt und nach Möglichkeit statistisch ausgewertet werden -, aber natürlich auch die älteren gesellschaftstheoretischen Ansätze. Die erstere wird von Luhmann für die weitgehende Zerstörung des in der Soziologie schon einmal erreichten theoretischen Niveaus verantwortlich gemacht,3
Vgl. Reese-Schäfer 1992: 15-16.
wobei er aber dem letzteren, insofern er die interpretative Beschäftigung mit den Klassikern des Fachs als "intellektuellen Schrotthandel" sieht,4
Nach Hans Bernhard Schmid 1997.
auch keine Träne nachweint. Mitverantwortlich für eine positive Beurteilung des Wirkens von Luhmann ist sicher auch der Umstand, dass er über genügend Schlagkraft und Gewandtheit verfügte, um sich schon früh (anfangs der 1970er Jahre) als grosser Gegenspieler des wohl einflussreichsten deutschen Sozialphilosophen unserer Zeit, Jürgen Habermas, zu etablieren.5
Aus Rede und Gegenrede ist aber immerhin ein gemeinsames Buch entstanden: Jürgen Habermas und Niklas Luhmann 1971.
Andere sehen das allerdings ganz anders. Da sind einmal diejenigen, die die Sichtweise Luhmanns vehement kritisieren - warum, wird uns weiter unten klar werden, wenn wir uns wesentliche Aspekte seiner Theorie zu Gemüte führen -, und zum anderen diejenigen, die in seinem Werk eigentlich gar nichts Sensationelles zu erblicken vermögen. Wenn Luhmann seine Theorie, die eine Systemtheorie ist, als die universelle Grundlage für den ganzen Gesellschaftsbereich anpreist, dann protestiert z.B. Hans Haferkamp und meint, diesen Anspruch könne nur ein handlungstheoretischer Ansatz erheben.6
Ein frühes Buch von Hans Haferkamp zum Thema ist "Soziologie als Handlungstheorie" (1972).
Entsprechend ist er der Ansicht, Luhmann biete wohl anderes, aber nichts grundlegend Neues, und sagt: "Ich vermag daher das Besondere, das Luhmann sozusagen mit einem - Pardon - Trompetenton vorträgt, nicht zu erkennen," womit er gleichzeitig zu erkennen gibt, dass ihm die Schreibarbeit von Luhmann etwas pathetisch vorkommt.7
Haferkamp 1987: 52.
Unabhängig von der Frage, ob nun Luhmann wirklich der Verkünder einer grossartigen neuen Theorie ist oder nicht, womit er immer wieder für Aufregung sorgte - und das nicht nur im gegnerischen Lager -, das ist der extreme Grad von Abstraktion, mit dem er seine Theorie entwickelte. Luhmann selbst schreibt im Vorwort zu seinem Buch "Soziale Systeme":
Diese Theorieanlage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muss über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muss sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich ... Aber niemand sollte der Illusion zum Opfer fallen, dass diese wenigen Anhaltspunkte genügen, um den Flug zu steuern.8
Niklas Luhmann 1985: 12-13.
Entsprechend beklagt sich Hans Haferkamp, "dass der Abstraktionsgrad ... so hoch ist, dass man ... Mühe hat, sich die soziale Wirklichkeit vorzustellen, auf die diese Theorie und ihre Teile passen."9
Hans Haferkamp 1987: 51.
Für wiederholte Frustrationen hat auch "die systemtheoretische Begriffspatience" gesorgt, die im eben genannten Buch, das Luhmanns zentrales Werk darstellt, "in abstrakter Geschlossenheit" ausgelegt wird.10
Nach Hans Bernhard Schmid 1997.
Die wenigsten haben wohl den Mut gehabt, ihr Unverständnis offen zuzugeben. Eine löbliche Ausnahme ist Kurt Ludewig, der in einer Besprechung eben dieses Buches in der Zeitschrift "Familiendynamik" zwar vermutet, dass es sich um ein empfehlenswertes Meisterwerk handle, dann aber auch sagt:
Zugleich möchte ich aber warnen, dass manche Leser dabei Haare lassen und hier und da an ihrer Intelligenz zweifeln werden. Persönlich finde ich es grotesk, dass ich in einem mich thematisch und qualitativ so enorm interessierenden Buch nicht einfach lesen kann, sondern zuerst den "Code" knacken muss, um es verstehen zu können. Ich habe bei seiner Lektüre gelernt, dieses Buch zu hassen und habe es buchstäblich mehrmals aus Wut in die Ecke geworfen.11
Kurt Ludewig 1988: 180-181.
Und verschmitzt fügt er bei: "Es ist geradezu ein Glück, dass 'Soziale Systeme' derart unfreundlich (ich möchte sagen: obskurantistisch!) geschrieben ist, sonst bliebe uns anderen kaum etwas über, worüber es sich noch zu schreiben lohnte."12
Kurt Ludewig 1988: 180.
Dass man "zuerst den 'Code' knacken muss" hat damit zu tun, dass Luhmann häufig bekannte Begriffe verwendet, ihnen aber eine Bedeutungsverschiebung unterlegt. Dabei gibt es keinen axiomatischen Ausgangspunkt, sondern diese Begriffe sind in ein Netz eingebunden, in dem sie gegenseitig aufeinander verweisen. Es kann also erst allmählich, nach einigem Einlesen, klar werden, was mit ihnen gemeint ist. Luhmann findet eine derartige Verfremdung absolut notwendig, denn es wäre gefährlich, wenn das Gesagte auf den ersten Blick schon verständlich erscheinen würde. "...man möchte sich Sprachformen wünschen, die ein hinreichendes Mass an Vorbehalten mitvermitteln und ein zu rasches Verstehen verhindern," meint er13
Niklas Luhmann 1981: 176, zitiert nach Reese-Schäfer 1992: 23.
und betrachtet in diesem Sinne die Zeit, in der Latein noch als Fachsprache für die Wissenschaft galt, aber schon lange nicht mehr alltagssprachlich verwendet wurde, als ideal.14
Vgl. Walter Reese-Schäfer 1992: 14-15, 20, 23.
Schliesslich geht es hier nicht um die Beschreibung eines partikularen Befundes der empirischen Sozialforschung, sondern um die Darstellung einer Theorie, die für die ganze soziale Welt gültig sein soll. Interessant, ja geradezu sympathisch, ist dann allerdings auch, dass Luhmann sich die Frage stellt, ob das, was er ausdrücken möchte, überhaupt mit einer Wissenschaftssprache formulierbar sei, ob es nicht vielleicht eine Art von "gelehrter Poesie" bräuchte, um alles auch noch einmal auf andere Art zu sagen.15
Luhmann 1981: 176 f., zitiert nach Reese-Schäfer 1992: 24.
Wer war der Mann, ein offenbar geradezu etwas unheimlicher Zeitgenosse, der so viel Furore gemacht, Staub aufgewirbelt und Emotionen geschürt hat?16
Die biographischen Daten in der folgenden Darstellung stammen aus Walter Reese-Schäfer1992: 205-206.
Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 als Sohn eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren. Als Jugendlicher war er gegen Ende des Krieges noch als Fliegerabwehrhelfer im Einsatz und geriet dann in amerikanische Gefangenschaft. Nach seiner Freilassung studierte er Rechtswissenschaft und bekleidete danach als Jurist verschiedene Posten als Beamter in der öffentlichen Verwaltung. (Diese Tatsache wird übrigens als ein wichtiger Grund dafür gesehen, dass er, indem er nicht durch fachspezifische Vorurteile gehemmt war, in seiner späteren soziologischen Arbeit ohne grosse Skrupel lange Traditionen über Bord werfen konnte.17
Vgl. Schwanitz 1998. Das ist natürlich ein äusserst interessantes Phänomen, das in seiner umgekehrten Ausprägung im Wissenschaftsbetrieb wohl eine grosse Rolle spielt: Im allgemeinen sind wir befangen von dem oder gefangen in dem, was wir schon wissen oder zu wissen glauben, was verhindert, dass wir unseren Horizont verändern können.
) 1960 heiratete er Ursula von Walter; der Ehe entsprossen drei Kinder. Anfangs der 60er Jahre liess er sich beurlauben und studierte Soziologie beim damaligen Altmeister Talcott Parsons (1902-1979) an der Harvard-Universität in den USA. Zurück in Deutschland doktorierte Luhmann an der Universität Münster und habilitierte sich da auch anschliessend. 1969 dann wurde er Professor für Soziologie an der neugegründeten Reformuniversität in Bielefeld. Er verkündete die Lancierung eines Programms zur Entwicklung einer gänzlich neuen Gesellschaftstheorie und machte dabei auch klar, dass er sich als Nachfolger von Parsons sah, einerseits indem er bei ihm anknüpfen, andererseits aber auch indem er ihn überwinden würde. Seine Frau starb früh in den 70er Jahren, er lebte fortan allein mit den Kindern zusammen, die damals zwischen 14 und 16 waren. Dies hinderte ihn nicht daran, das geplante Programm mit eiserner Disziplin durchzuziehen; neben unzähligen Zeitschriftenartikeln produzierte er Bücher am laufenden Band. Es gibt kaum ein Thema im ganzen Spektrum der Sozialwissenschaften, zu dem sich Luhmann nicht in der einen oder anderen Form geäussert hätte. Ein Jahr vor seinem Tode brachte er dann sein Programm zum glorreichen Abschluss mit dem Buch "Die Gesellschaft der Gesellschaft".18
Luhmann 1997.
Luhmanns Theorie kommt in einer Weise daher, die zum Bild des Feldherrn angeregt hat, der vom Hügel herab die Schlacht überblickt und seine Truppen in Stellung bringt.19
Vgl. Florian Rötzer 1992.
Wer aber deswegen vermutet, Luhmann sei auch in Realität als Mensch mit Imponiergehabe aufgetreten, täuscht sich. Ich habe einige Vorträge von ihm gehört und ich war immer wieder überrascht, wie er auch bei angriffigen Kritiken mit zurückhaltender Stimme und sanftem Lächeln ungerührt seine Position vertrat. Diese Art von äusserem Ausdruck passte eher zum "kühlen intellektuellen Habitus", den andere in seinem Schrifttum durchscheinen sehen.20
So z.B. Uwe Justus Wenzel 1997.
Und dabei mag ihm auch durchaus selbst bewusst gewesen sein, dass sein Gedankengut auch ohne "rhetorische Verstärkung eine diabolische Ausstrahlung" hatte.21
Dietrich Schwanitz 1998.
Wie dem auch sei, natürlich wissen wir letztlich nicht, welche Art von Mensch er wirklich war. Seine Bescheidenheit im Auftreten, war die vielleicht nur gespielt? Schliesslich durfte er ja mit seiner eigenen Person nicht seine Theorie ad absurdum führen, die, wie wir noch sehen werden, im Prinzip besagt, dass Menschen in sozialen Systemen höchstens am Rande eine Rolle spielen. In Wirklichkeit hat er dennoch, vor allem über sein Schrifttum, einen ungeheuren Einfluss auf die Gesellschaftswissenschaft ausgeübt, etwas, das nach eben dieser seiner Theorie eigentlich nicht möglich sein sollte.
Wenden wir uns nun aber dieser Theorie zu. Es handelt sich, wie schon angedeutet, um eine Systemtheorie. Was ist ein System? Lange Zeit war es üblich, unter diesem Begriff ein Gebilde zu verstehen, das dadurch entsteht, dass sich Entitäten mittels gegenseitiger Beziehungen zu einem Ganzen zusammenschliessen, womit der Gegensatz von Teil und Ganzem eine leitende Unterscheidung war. Dieses Systemverständnis zeigt sich z.B. in der früher viel zitierten Systemdefinition von A.D. Hall und R.E. Fagen: Ein System ist eine Menge von Elementen und eine Menge von Relationen zwischen diesen Elementen.22
A.D. Hall und R.E. Fagen 1956: Seite? Im Original: "A system is a set of objects together with relationships between the objects and between their attributes."
Eine Systemgrenze wurde dabei nicht explizit thematisiert, womit die Tendenz verbunden war, Systeme als im wesentlichen geschlossene Systeme zu betrachten, d.h. als Systeme, die keinen Austausch irgendwelcher Art mit ihrer Umgebung haben oder, wenn sie einen solchen haben, anzunehmen, dass er nicht von Bedeutung sei. Durch die Anwendung des Systembegriffs in der Biologie - vor allem durch Ludwig von Bertalanffy in seinem Konzept einer "Allgemeinen Systemtheorie"23
Vgl. Ludwig von Bertalanffy 1971.
- wurde aber klar, dass in einer generelleren Sichtweise Systeme als offen gesehen werden müssen; Organismen können ja schliesslich nur dadurch am Leben bleiben, dass sie in Form des Stoffwechsels einen ständigen energetischen und materiellen Austausch mit ihrer Umwelt pflegen. Damit aber wird die Differenz von System und Umwelt zur neuen Leitdifferenz. Luhmann spricht hier von einem ersten Paradigmenwechsel in der Systemtheorie, auf den aber noch ein zweiter folgen müsse.24
Zum Paradigmenwechsel vgl. Michael Schmid und Hans Haferkamp 1987: 8-10, Helmut Willke 1987: 253-254 und Walter Reese-Schäfer 1992: 47-48.
Dieser kommt dann zustande, wenn ein System zwar weiterhin als offen im gerade genannten Sinne betrachtet wird, aber hinsichtlich der Frage des Überlebens das Gewicht vom Stoffwechsel auf die interne Organisation verschoben wird. Insofern diese Ordnung dann innerhalb von Systemgrenzen zustandekommt, die organisatorisch gesehen undurchlässig sind, wird sie zur von aussen unbeeinflussten Selbstorganisation und führt zu Systemen mit einem grossen Grad von Autonomie und Eigendynamik.25
Zur Offenheit und Geschlossenheit von Systemen siehe auch Michael Schmid 1987: 29-30.
In der Biologie nun haben wir es mit einem Spezialfall der Selbstorganisation zu tun, nämlich mit eigentlicher Selbstproduktion, mit Autopoiese, wie die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela dieses Phänomen genannt haben.26
Siehe z.B. Francisco J. Varela 1979 und Humberto Maturana und Francisco Varela 1987.
Danach ist eine biologische Zelle ein autopoietisches System 1. Ordnung, ein ganzer Organismus ein solches 2. Ordnung. Selbstproduktion bedeutet, dass wir es mit einer gänzlich zirkulären inneren Dynamik zu tun haben. Auf die Zelle angewendet: Die physikalische Existenz der Zellwände macht es möglich, dass die für die Zelle wichtigen chemischen Prozesse adäquat ablaufen können. Zu den Aufgaben dieser Prozesse gehört es aber auch, die Zellmembranen zu unterhalten und zu erneuern. Mit anderen Worten, ein autopoietisches System definiert auch seine eigene Grenze.27
Vgl. Francisco J. Varela 1979: 13. Im Original heisst es dort: "An autopoietic system is organized (defined as a unity) as a network of processes of production (transformation and destruction) of components that produces the components that: (1) through their interactions and transformations continuously regenerate and realize the network of processes (relations) that produced them; and (2) constitute it [the system] as a concrete unity in the space in which they exist by specifying the topological domain of its realization as such a network."
Wie so etwas möglich ist, ist eine andere Frage, sie zielt auf das Geheimnis des Lebens, ein Geheimnis, das wir ja von jeher mit der nicht beantwortbaren Frage charakterisieren, was denn zuerst komme, das Huhn oder das Ei.
Wir können uns nun überlegen, ob es denkbar ist, eine weitere, höhere Ebene von autopoietischen Systemen 3. Ordnung zu definieren. Die dabei im jetzigen Zusammenhang interessierenden Kandidaten sind soziale Systeme, die durch den Zusammenschluss von Lebewesen der gleichen Art zustandekommen. Bezüglich dieser Möglichkeit ist Varela negativ eingestellt. Die Autopoiese ist ja zunächst einmal ein biologisches Konzept und er findet es deshalb weit hergeholt, auch Netzwerke von sozialen Interaktionen unter einem solchen Blickwinkel betrachten zu wollen. Was Varela zugibt, ist, dass solche Systeme sicher über Grade von Autonomie verfügen, aber gerade deswegen meint er, es handle sich beim Versuch, das Autopoiese-Konzept auf sie zu übertragen, um einen Kategorienfehler, um eine Verwechslung von Autonomie und Autopoiese.28
Vgl. Varela 1979: 54-55.
Beide, Maturana und Varela, sind aber der Meinung, dass zwischen Individuen und System eine enge wechselseitige Abhängigkeit existiert: Die Realisierung der Autopoiesen der Mitglieder ist eine Voraussetzung dafür, dass ein soziales System überhaupt entstehen kann, und umgekehrt müssen die in diesem System möglichen oder notwendigen sozialen Aktivitäten den individuellen Autopoiesen genügen. Aber soziale können keine autopoietischen Systeme sein, obschon die menschlichen Individuen, die daran teilhaben, solche sind.
Luhmann zeigt sich von solchen Überlegungen unbeeindruckt und bezeichnet soziale Systeme als autopoietisch, indem er die relevanten sozialen Aktivitäten als sich selbst generierend betrachtet. Diese Aktivitäten bestehen aus Kommunikationsereignissen. Insgesamt unterscheidet Luhmann, wie in Figur1 gezeigt, vier Typen von Systemen, wobei er die sozialen Systeme in die drei Untertypen Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme unterteilt. Diese wollen wir uns etwas näher anschauen:
Figur 1: Luhmanns Klassifikation von Systemen (nach Luhmann 1985: 16)
Figur 1: Luhmanns Klassifikation von Systemen (nach Luhmann 1985: 16)
·
Interaktionssysteme:29
Vgl. Luhmann 1975: 87 ff.
Diese beziehen sich auf uns allen vertraute, einfache, d.h. wenig komplexe Situationen: Wir sind mit einer oder mehreren anderen Personen zusammen und unterhalten uns oder machen sonst etwas Gemeinsames. Es geht also um körperliche Anwesenheit und Kontakt von Angesicht zu Angesicht. Als Beispiele nennt Luhmann: Das gemeinsame Mittagessen in der Familie (nicht die Familie selbst, denn es ist möglich, dass im Moment nicht alle Angehörigen anwesend ist), die einzelne Kabinettsitzung (nicht die Regierung als solche), Schlangestehen an der Theaterkasse, eine Kartenspielrunde, eine Massenversammlung, eine Schlägerei, eine Taxifahrt. Das Kriterium der Anwesenheit bestimmt die Systemgrenze, und diese Grenze zeigt sich im kommunikativen Ablauf darin, dass die Anwesenden nur mit Anwesenden, aber nicht über sie reden können, und umgekehrt nur über Abwesende, aber nicht mit ihnen.
·
Gesellschaftssysteme:30
Vgl. Luhmann 1975: 89 f.
Während die Interaktionssysteme die kleinsten sozialen Systeme darstellen, sind mit "Gesellschaftssystemen" umfassende, grösstmögliche Systeme gemeint. An ihrer Basis sind sie weiterhin auf funktionierende Interaktionen angewiesen, aber sie können sich von den dortigen Einschränkungen unabhängig machen, indem auch die Kommunikationen mit Abwesenden oder unter Abwesenden Teile des Systems werden. Es heisst aber nicht, dass jetzt einfach alle möglichen Handlungen und die dahinter stehenden Menschen dazugehören, sondern nur diejenigen, die in einem kommunikativen Zusammenhang stehen. So definiert Luhmann: "Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen."31
Luhmann 1975: 89.
Ein Aussteiger, der irgendwo in einer Höhle lebt und mit niemandem mehr Kontakt hat, ist buchstäblich ausgestiegen, für die Gesellschaft verloren. Das ist natürlich ein Extremfall, und sonst dürfte es klar sein, dass hier das Kriterium der Abgrenzung ein viel diffuseres ist.
·
Organisationssysteme:32
Vgl. Luhmann 1975: 92 f.
Dies ist der Typ von System, der sich in komplexen Gesellschaften in wachsendem Masse in verschiedenen Lebensbereichen zwischen die Ebene der Interaktion und die der Gesellschaft schiebt. Organisationen sind Systeme, die in systematischer Form bestimmte Aufgaben erfüllen sollen. Damit sie das können, muss erstens klar sein, wer dabei mitmacht - es muss also eine definierte Mitgliedschaft geben -, und müssen zweitens bestimmte, relativ dauerhafte Regeln existieren, auf welche Weise was zu tun ist. Dabei ist es ohne weiteres möglich, dass die Anforderungen des Systems und die Motive der Mitglieder quer zueinander liegen. Nehmen wir als Beispiel für eine Organisation ein Unternehmen, das irgendetwas produziert und dabei von einer ökologischen Denkweise nichts hält. Ich arbeit dort, bin also in diesem Sinne Mitglied, obschon mir persönlich eine umweltverträgliche Lebensweise am Herzen liegt. Ich tue das, weil ich schliesslich zum Lebensunterhalt Geld verdienen muss und momentan einfach keinen anderen Job finden konnte. Ich muss also über meinen eigenen Schatten springen und tun, was von mir verlangt wird, weil ich sonst wieder entlassen werde. Umgekehrt wird die fragliche Firma, wenn sie an mir als Arbeitskraft echt interessiert ist und vermeiden möchte, dass ich bald wieder kündige, den Job mittels eines guten Salärs attraktiv machen. Solange ich Mitglied bin, muss ich aber auf alle Fälle über meine seelische Verfassung hinwegsehen. "Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren - ob es ihnen in der Situation nun gefällt oder nicht," meint Luhmann.33
Luhmann 1975: 92.
Beachten wir, dass diese Schilderung aus dem Jahre 1975 stammt; sie tönt noch einigermassen harmlos. Menschen sind im Interaktionssystem noch anwesend oder sie sind abwesend, und sie sind Mitglied oder nicht Mitglied in einer Organisation. In den anschliessenden Jahren hat dann Luhmann seine Theorie in zunehmendem Masse radikalisiert. Zunächst betrachtet er den Menschen nicht als Einheit, sondern als in ein organisches und ein psychisches System zerfallend, beide autopoietischer Natur. Das Verhältnis dieser Systeme zum sozialen System sieht er zwar schon so, dass das letztere den ersteren ein die ständige Erneuerung ermöglichendes Umfeld bietet. Aber, und das ist nun entscheidend, sie, und damit auch das Individuum insgesamt, gehören nicht mehr zum sozialen System, dessen Elemente nun Kommunikationsereignisse sind. Mit anderen Worten, der Mensch wird nicht nur zerlegt, sondern auch aus dem System hinaus bugsiert. Luhmann selbst kommentiert diesen Schritt so:
Die Theorie operativ geschlossener, autopoietischer Systeme, die zu einer vollständigen Trennung von psychischen und sozialen Systemen zwingt, ... ist radikal antihumanistisch, wenn unter Humanismus eine Semantik verstanden wird, die alles, auch die Gesellschaft, auf die Einheit und Perfektion des Menschen bezieht.34
Luhmann 1993b: 131.
Gleichzeitig meint er, die humanistische Tradition hätte mit ihrer Überzeichnung das menschliche Individuum gar nicht ernst genommen, etwas, was er jetzt hingegen tue! Was Luhmann damit offenbar meint, ist dass eine gewisse Dezentrierung diesem Individuum nur gut tun kann, indem es so hinsichtlich seiner Stellung und seines Vermögens weitaus realistischer eingeschätzt wird. Dem kann man prinzipiell zustimmen, ohne dass man dann mit Luhmann zu einer totalen Marginalisierung fortschreiten muss. Nicht überraschenderweise hat diese hohe Wellen geworfen. Schwanitz etwa meint dazu:
Das ist der Biss in den Apfel: als Individuum wird der Mensch frei und darf nach der Vertreibung aus der Gesellschaft sündigen, ohne sie gleich zu gefährden: als geschlossenes System von Kommunikationen sorgt sie schon für sich selbst.35
Dietrich Schwanitz 1998.
Auch Maturana, mit dem Luhmann immer wieder im Kontakt war, hat in dieser Hinsicht seiner Skepsis Ausdruck verliehen. Er meint, wenn nicht Menschen, sondern Kommunikationen betrachtet würden, könne seiner Ansicht nach nicht mehr von sozialen, sondern bloss noch von parasozialen Beziehungen gesprochen werden.36
Vgl. Jürgen Hargens 1987: 52.
Halten wir also als erstes fest: Für Luhmann sind soziale Systeme autopoietischer Natur, deren Elemente nicht Menschen, sondern Kommunikationsereignisse sind. Selbstproduzierend wird das System dadurch, dass Kommunikation sich ständig selbst neu generiert; ein Kommunikationsereignis schliesst bei einem vorigen an und ermöglicht seinerseits ein nächstes. Damit dies wirklich passiert, müssen aber die einzelnen Elemente "passen", d.h. es muss vor- und rückwärts eine Anschlussfähigkeit gewährleistet sein. Und insgesamt muss ein Kommunikationsprozess den "Erwartungen" des Systems entsprechen, Erwartungen, die, wie wir sehen werden, mit dem Phänomen Sinn zu tun haben. Diese Passungen erfordern, dass sich die Kommunikation selbst in den Blick nimmt, mit andern Worten Selbstreferenz ist notwendig, soziale Systeme sind selbstreferentielle Systeme.37
Genauer betrachtet unterscheidet Luhmann (1985: 600-602) drei verschiedene Niveaus von Selbstreferenz; vgl. auch Max Miller 1987: 192-193.
Wie Kommunikationsereignisse aneinander anschliessen können, wird noch klarer, wenn wir ihre Struktur genauer betrachten. In einem kommunikativen Ereignis können drei Teile unterschieden werden, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen.38
Vgl. Luhmann 1985: 194 ff. und Schmid und Haferkamp 1987: 11.
Damit eine Information vorliegt, muss aus mehreren möglichen Antworten auf eine Frage eine ausgewählt worden sein - ganz im Sinne der formalen Informationstheorie. Je kleiner die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten gerade dieser Antwort, desto grösser die Information. Diese Information wird nun aber nicht einfach direkt an einen Empfänger übertragen. Sie wird mitgeteilt, und dabei kann das, was die Mitteilung enthält, mehr oder weniger von der Information abweichen. Schliesslich bringt die Person, die die Mitteilung bekommt, ihre eigene Vorstellung und Erwartungshaltung ins Spiel. Kurz, sie interpretiert die Mitteilung, und dies kann noch einmal von der ursprünglichen Information abweichen. Das "Verstehen" in dieser dritten Komponente heisst also nicht, dass die Information in einem strengen Sinn so ankommt, wie sie abgegangen ist. Ob sich die beteiligten Personen wirklich verstehen, ist für den Systemprozess nicht relevant. Entscheidend ist, dass eine Mitteilung etwas weiteres bewirkt, nämlich ein weiteres Kommunikationsereignis, an dem wiederum weiter angeschlossen werden kann. Ob das mit dem ursprünglichen Inhalt der vorhergehenden Kommunikation im eigentlichen Sinne etwas zu tun hat oder nicht, ist weniger wichtig. Dieses Verständnis von Verständnis mag uns die Stirn runzeln lassen; Luhmann findet dies nicht erschütternd, das ist einfach so und etwas besseres kann gar nicht erwartet werden.39
Zu Autopoiese und Selbstreferenz in der Luhmannschen Theorie siehe auch Michael Schmid 1987: 25 f.
Sicher ist, dass natürlich Habermas mit solchen Szenarien grosse Mühe bekundet. Für ihn sind an Prozessen kommunikativen Handelns Menschen als Vernunftwesen beteiligt, und da solches Handeln konsensorientiert ist, wird offensichtlich ein echtes gegenseitiges Verständnis zu einer unabdingbaren Voraussetzung. Wie so etwas realistischerweise zu erreichen ist, ist natürlich eine andere Frage. Luhmann jedenfalls hat für eine derartige Vorstellung nur Spott übrig und redet von der "kontrafaktischen Trotzigkeit" der Frankfurter Schule.40
Nach Uwe Justus Wenzel 1997.
Die Grundoperation selbstreferentieller Systeme, die dann Anlass für Kommunikationen sein kann, ist die Beobachtung. Eine Beobachtung bezieht sich immer auf eine duale Unterscheidung, innen versus aussen, wahr versus falsch usw., und damit verbunden eine Entscheidung für die eine oder die andere Seite. Der Begriff der Beobachtung ist wiederum in einem recht abstrakten Sinne zu verstehen. Es kann zwar dabei um die Wahrnehmung eines menschlichen psychischen Systems gehen, aber oft ist damit auch gemeint, dass nicht-menschliche Systeme oder Systemelemente beobachten. So besteht etwas die Grundbeobachtung eines Systems darin, dass es zwischen sich und seiner Umwelt unterscheidet, also eine Grenze zieht. Im amüsanten fiktiven Dialog, mit dem Peter Fuchs Luhmanns Theorie zu erläutern versucht, heisst es:
Siebenschwan [Universitätsdozent]: Der Beobachtungsbegriff, den wir zu verstehen suchen, benötigt keine menschenähnliche Instanz, die die Beobachtung unternimmt.
Frieda [Studentin]: Na entschuldigen Sie! Wer ausser Menschen könnte etwas beobachten?
Siebenschwan: Zum Beispiel eine Amöbe ... Sie muss einen Unterschied zwischen sich und nicht-sie-selbst machen, sonst würde sie sich eventuell selbst auffressen. Oder zum Beispiel ein Kühlschrank, der einen Unterschied machen muss zwischen zu hoher und zu tiefer Temperatur ...41
Peter Fuchs 1993: 30
Der Ablauf des Kommunikationsprozesses ist sinnhaft oder bedeutungsvoll, d.h. die vorher erwähnte Erfordernis des Passens, um die Möglichkeit eines Anschlusses zu garantieren, erzeugt ein zusammenhängendes Muster, in dem das Wie und Warum der Kommunikationsereignisse nachvollzogen werden kann. In Übereinstimmung mit dem, was wir vorher über das Verstehen von Mitteilungen gemacht haben, ist dabei zu beachten, dass sinnvoll nicht nur das ist, was allgemein als positiv bewertet wird. Auch Ereignisse wie Konflikte oder gar Verbrechen können nach diesem Verständnis Sinn machen. Wenn jemand Amok läuft und um sich schiesst, ist dies wohl eine Anschlusshandlung an etwas, das vorher passiert ist, und den Anstoss zum Amoklauf gegeben hat. Natürlich wird dann oft von der Sinnlosigkeit eines solchen Aktes gesprochen, aber dann ist damit ein engeres, normatives Verständnis von Sinn gemeint, etwa der Sinn, der in einem erfolgreichen Lebensvollzug steckt, oder den man in einer gewaltlosen Kultur sehen möchte.42
Zu Sinn und Sinnlosigkeit siehe Luhmann 1985: 95-96 und Reese-Schäfer 1992: 34 ff.
Eine solche Auffassung von Sinn scheut Luhmann wie der Teufel das Weihwasser, wie wir noch sehen werden. Jedenfalls: Soziale Systeme nach dem Luhmannschen Verständnis sind damit Sinn-Systeme bei denen sich der Bereich gemeinsamen Sinns bis zur Grenze des Systems erstreckt.
Nach einem ursprünglichen Verständnis (z.B. bei Husserl) entsteht Sinn dadurch, dass menschliches Bewusstein einen intentionalen Charakter hat. Unter Intentionen verstehen wir im üblichen Sprachgebrauch Absichten; hier hat das Wort die allgemeinere Bedeutung von auf-etwas-gerichtet-Sein, auf-etwas-bezogen-Sein. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Sinn entsteht nun dadurch, dass gemeinte Dinge netzwerkartig aufeinander verweisen. Figur 2 (nach Sayer 1984) zeigt dazu das konkrete Beispiel eines Geflechtes von Begriffen. Ein anderes Beispiel für eine Verweisungsstruktur ist etwa das folgende: Wenn ich an einen Schreibtisch denke, ist es naheliegend, mir auch einen Stuhl vorzustellen, auf dem man sitzt, wenn man am Schreibtisch arbeitet. Auf dem Schreibtisch steht wahrscheinlich nicht eine Schreibmaschine - das macht in der heutigen Zeit keinen grossen Sinn mehr! -, sondern ein Computer. Und der Schreibtisch samt Stuhl wird in einem Arbeitszimmer oder Büro stehen, usw. So gesehen ist Sinn "kein Begriff, der einen bestimmten, tatsächlichen Sachverhalt bezeichnet, sondern er bezeichnet die Ordnungsform menschlichen Erlebens."43
Reese-Schäfer 1992: 34-35.
Es ist nun klar, dass, wenn wir uns nochmals den Kommunikationsprozess in einem Luhmannschen System vorzustellen versuchen, Kommunikationsereignisse Sinn gewinnen müssen, damit sie weiter verarbeitbar sind und so zur Selbstreproduktion beitragen können.44
Vgl. Schmid 1987: 27.
Figur 2: Sprache, Sinn und Wirklichkeit (nach Andrew Sayer 1984: Seite?)
Figur 2: Sprache, Sinn und Wirklichkeit (nach Andrew Sayer 1984: Seite?)
Der Clou bei Luhmann ist nun der, dass Intentionen primär nicht Intentionen von Personen sein können, denn es gibt ja nach seiner Theorie keine Menschen, die zum System gehören und damit einen Sinn im Sinn haben könnten. Für ein menschliches Subjekt existiert Sinn als vorgegebene Realität, Bewusstsein setzt Sinn voraus.45
Vgl. Alois Hahn 1987.
Gerade diese Sachlage ist aber, wen wundert es, wiederum Anlass zu heftigen Protesten. So meint etwa Wolfgang Schluchter, es helfe wenig zu behaupten, ein Term wie Intention sei anders gemeint als normal.46
Nach Joachim Güntner 1998.
Denn er suggeriere so oder so einen Subjektbezug, aber der sei ja bei Luhmann ausgeschlossen und das Ganze damit widersprüchlich. Eine Gesellschaftslehre ohne Subjektbezug ist nach Schluchters Auffassung etwas zutiefst Verfehltes.
Nun, ganz ausgeschlossen vom kommunikativen Geschehen sind die menschlichen Subjekte nicht. Denn auch psychische Systeme können Sinn verarbeiten; im Gegensatz zu den sozialen Systemen, bei denen der Operationsmodus ein kommunikativer ist, ist er bei bei ihnen erlebnishafter Natur. Maturana und Varela haben in ihrer biologischen Theorie der Autopoiese eine Beziehung, die zwischen einem System und dessen Umwelt (also auch zwischen dem fraglichen System und einem anderen System) entsteht und dabei die Organisation des Systems beeinflusst, Perturbation, zu deutsch "Verstörung", genannt. Das System reagiert auf einen solchen Einfluss, indem es tut, was immer es tun muss, um seine Organisation aufrecht zu erhalten. Wiederholt sich eine Perturbation in gleicher Art, kann das System seine Reaktion darauf permanent in seiner Organisation verankern; wir haben dann eine "strukturelle Kopplung". Luhmann überträgt nun dieses Konzept auch auf das Auftreten von Wechselwirkungen zwischen sozialen und psychischen Systemen. Allerdings braucht er dafür den Begriff "Interpenetration", den er von Parsons übernimmt. Während nun der Sinnhorizont des sozialen Systems nur bis zu seiner Grenze reicht, kann ein menschliches Bewusstsein beide Seiten der Grenze, das soziale System und seine Umwelt, in den Blick nehmen. Eine entsprechende Äusserung der betreffenden Person kann dem sozialen System einen kommunikativen Anstoss geben. Menschen können nach Luhmann für soziale Systeme gewissermassen die Rolle von Sensoren spielen. Hinsichtlich des Studiums sozialer Systeme aber neigt er der Ansicht zu, dass man die psychischen Systeme am besten gar nicht beachtet, da sie sonst nur Verwirrung stiften.47
Vgl. dazu auch Gregor Dürrenberger 1989: 65.
Im Vergleich zur Komplexität eines Systems ist seine Umwelt immer etwas Überkomplexes - wir haben es gewissermassen mit einer Insel der Ordnung in einem Meer von Chaos zu tun. Systemtheoretisch gesehen kann nun der Fortgang der kulturellen Evolution so gesehen werden, dass die sozialen Systeme ihre eigene Komplexität steigern.48
Das erinnert an das systemtheoretische Konzept der "requisite variety" von Ross Ashby 1958. (Dies müsste hier noch weiter erklärt werden).
Das geschieht durch eine Ausdifferenzierung von Teilsystemen, die dann verschiedene Aufgaben wahrnehmen. Während bei vormodernen Gesellschaften diese Differenzierung in einem hierarchischen Schichtenbau bestand (denken wir etwa an die Ständegesellschaft des Mittelalters), so zeichnet sich die moderne Gesellschaft durch eine sog. funktionale Differenzierung aus. Dabei sind verschiedene Teilsysteme, die jetzt nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, sondern auf gleicher Ebene nebeneinander stehen, für verschiedene Funktionen zuständig. So haben wir ein Wissenschaftssystem, ein Erziehungssystem, ein Rechtssystem, ein Wirtschaftssystem usw. Alle diese Subsysteme sind jetzt weitgehend autonome Kommunikations- bzw. Sinnsysteme, die sich je an einem systemspezifischen binären Code, d.h. wiederum an einer Differenz, orientieren.49
Luhmann geht dabei umgekehrt wie Parsons vor. Dieser hatte sich auf handlungstheoretischer Grundlage überlegt, welche Funktionen für das Funktionieren einer Gesellschaft wahrgenommen werden müssen, und war auf eine Zahl von vier gekommen. Luhmann dagegen schaut, welche kommunikativen Codes bereits vorliegen und richtet seinen Katalog von Funktionssystemen danach. Er kommt dann auch nicht zu bloss vier, sondern zu einer Vielzahl solcher Systeme (vgl. Schmid 1987: 32).
Für das Wissenschaftssystem z.B. lautet dieser Code "wahr" versus "nicht wahr". Mit dieser Eingrenzung sorgt das System intern für eine Vereinfachung, eine Komplexitätsreduktion. Damit aber andererseits sein Funktionieren nicht auf allzu starre Gleise eingeengt bleibt, sondern eine gewisse Flexibilität aufweist, verfügt es über Programme, die Kriterien angeben, wie der Code anzuwenden ist. Während der letztere immer derselbe bleibt, können Programme nun leicht ausgewechselt werden. Im Falle des Wissenschaftssystems handelt es sich um Theorien, die wahrheitsfähige Sachverhalte bezeichnen, und um Methodologien, d.h. um Verfahren der Wahrheitsüberprüfung. Beide haben sich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte bekanntlicherweise wiederholt geändert. Entsprechendes gilt für andere Subsysteme; eine Auswahl ist mit ihren spezifischen Codes und Programmen in Tab. 1 dargestellt. Zusammenfassend: In der neuzeitlichen Entwicklung erhöht die Gesellschaft als Ganze ihre Komplexität mittels funktionaler Differenzierung in verschiedene Subsysteme. Gleichzeitig erniedrigen die letzteren zwecks reibungslosen Operierens ihre Komplexität, indem sie ihr Sinngeschehen an einem, und nur einem, binären Code ausrichten. Für ein besseres Verständnis können wir diese Sachlage anhand der heutigen beruflichen Spezialisierungen anschaulich illustrieren: Ich muss nicht selbst alles können, sondern kann mich auf Fachleute verlassen. Andererseits gibt es sehr viele verschiedene Fachleute, die die verschiedensten Aufgaben erledigen können.50
Vgl. Reese-Schäfer 1992: 142.
Tabelle 1: Die funktionale Differenzierung der Luhmannschen Gesellschaft mit Codes, Programmen und Medien (nach Reese-Schäfer 1992: 131, Andreas Metzner 1993: 150 und Zierhofer51
Aus seinem Vorlesungsvorbereitungstext.
, modifiziert)
System
Code
Programm
Medium
Gesellschaft
Ja / Nein
 
Sprache
Wirtschaft
Zahlen / Nichtzahlen
Haben / Nichthaben
Markt, Preise
Geld (Eigentum)
Politik
Innehaben / Nichtinne-
haben
Regierung / Opposition
Ideologien wie
Regierungsprogramme, Parteiprogramme
Macht durch
öffentliche Ämter
Recht
Recht / Unrecht
Rechtsnormen wie
Gesetze, Verträge
Rechtssprechung
Wissenschaft
Wahr / Unwahr
Theorien, Methodologien
Wahrheit in
Erkenntnissen
Religion
(Kirche)
Transzendenz /
Immanenz
Glaube / Unglaube
Offenbarung, z.B. in der
Bibel
Heil / Verdammnis
Glaube
Erziehung
Lob / Tadel, Gute /
schlechte Zensuren
Lehrpläne
 
 
Schön / Hässlich
Stilprinzipien,
Kunstdogmatiken
Kunst
 
Gut / Böse
Achtung / Missachtung
 
Moral
Die Rede von Code und Programmen erinnert natürlich stark an die Computersprache. Sie zeigt, wie nahe wir bei der Vorstellung sind, dass eine menschliche Gesellschaft ähnlich wie ein Computer funktioniert, und illustriert so den schon früher erwähnten Trend zu einer mechanistischen Sichtweise. Der Gedanke liegt nahe, das Funktionieren von sozialen Systemen effektiv mit Hilfe von Computersimulationen darzustellen. Allerdings wehrt sich Luhmann gegen eine Mathematisierung der Theorie der sozialen Systeme, was ich ihm, bei allem Unbehagen, das er sonst verbreitet, doch hoch anrechne. Er ist sich in dieser Hinsicht mit seinem Vorgänger Parsons einig und der Meinung, dass auch eine nicht stark formalisierte System-Denkweise brauchbar und sinnvoll sei. Zum Vergleich: Auch die biologische Theorie der Autopoiese kennt keine mathematische Formulierung.
In Tab. 1 sind ausser dem Code und den Programmen noch bereichsspezifische Medien angegeben. Was ist darunter zu verstehen? Wir kennen den Begriff im Zusammenhang mit der Presse, dem Radio, dem Fernsehen, den Kinos. Häufig ist dann auch von Massenmedien die Rede. Der soziologische Begriff meint aber etwas allgemeineres. Schon Talcott Parsons hatte eine Theorie der, wie er sie nannte, symbolischen Interaktionsmedien entwickelt, womit er Mechanismen des Austauschs zwischen Individuen meinte, die für den Zusammenhalt eines Sozialsystems sorgen. Das Geld, über das sich das Wirtschaftssystem integriert, diente ihm dabei als Vorbild. Luhmann versucht nun, das Medienkonzept von Parson weiter zu verallgemeinern und auf die Stufe symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien zu heben. Damit können nicht nur symmetrische Beziehungen (wie beim Tausch), sondern auch asymmetrische berücksichtigt werden. Natürlich ist letztlich die Sprache ein grundlegendes Kommunikationsmedium, aber sie ist ebenso natürlich nicht nur für ein bestimmtes Subsystem zuständig, sondern hat in allen eine mehr oder weniger wichtige Funktion. Ganz klar ist z.B., dass neue Erkenntnisse, die im System Wissenschaft gewonnen worden sind, nur via sprachliche Mittel mitgeteilt werden können. Allgemein lässt sich in diesem Zusammenhang sagen, dass sich Funktionieren und Wandel der Luhmannschen Kommunikation in Analogie zur biologischen Evolution sehen lassen, die nach allgemeinem Verständnis von den beiden Prinzipien der Variation und der Selektion angetrieben wird. Im Bereich der sozialen Systeme wird die Variation von der Kommunikation (insbesondere von der Sprache) erzeugt, denn vielfach gibt es für den Anschluss an ein vorheriges Kommunikationsereignis mehr als eine Möglichkeit. Was dann aber wirklich ankommt, wird von der im fraglichen System herrschenden Sinnbildung - die sich letztlich am zugehörigen Code orientiert - bestimmt, d.h. also der Selektion unterworfen.52
Vgl. Gregor Dürrenberger 1989: 74-76, 103; auch Reese-Schäfer 1992: 110.
Die Liste der von Luhmann unterschiedenen Subsysteme in Tab. 1 ist natürlich nicht vollständig. Aber auch wenn wir sie vervollständigen würden, würde ein Bereich auffallenderweise fehlen: Der der Kultur, Kultur verstanden als Geistesverfassung, die Werte und Normen produziert. Nach der Art und Weise wie die Luhmannsche Konzeption aufgebaut ist, ist diese Absenz durchaus folgerichtig, denn tatsächlich kann man sich nicht ein separates Subsystem vorstellen, das einfach für sich Werte und Normen generiert, ohne dass diese sich überall auswirken können. Bei Talcott Parsons spielte die Kultur noch eine grundlegende Rolle, was möglich war, weil seine Theorie ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Subsystemen mit der Kultur an der Spitze postulierte. Parsons war der Meinung, ein soziales System könne nur funktionieren, wenn eine gemeinsame Kultur im Sinne einer normativ bestimmten Orientierung den beteiligten Menschen eine Verständigung ermögliche. Wie wir jetzt wissen, stehen die Menschen bei Luhmann ausserhalb des Systems und ist Verständigung kein notwendiges Kriterium. Damit aber lässt sich auch die Kultur als Voraussetzung kurzerhand liquidieren; ein soziales System kann auch ohne sie bestens funktionieren. Wenn so etwas wie Kultur vorkommt, dann ist es ein Phänomen, das im nachhinein von Null weg entsteht, z.B. die Unternehmenskultur einer Firma.
Eine Konsequenz der Kulturlosigkeit ist dann auch der Moralverzicht. Es wäre widersinning, das Funktionieren der Subsysteme moralisch beurteilen zu wollen. Z.B. können wir im Falle des Wirtschaftssystems hinsichtlich des Codes Eigentum versus Nichteigentum nicht sagen, das eine sei moralisch gut und das andere schlecht (warum eigentlich nicht?). Allgemeiner gesagt: Die Werte der verschiedenen Funktionssysteme sind keine moralischen Werte; die Luhmannschen Systeme operieren auf der Basis von puren technischen Eigengesetzlichkeiten. Mit anderen Worten, das politische System kann sich nur politisch steuern, das wirtschaftliche System nur wirtschaftlich usw. Wenn die Moral hier nichts zu suchen hat, dann auch die Ethik als Theorie der Moral nicht. Deren Aufgabe kann Luhmann sowieso nicht mehr darin sehen, Begründungen für moralische Aussagen zu liefern, sondern nur noch darin, über die Anwendung oder Nichtanwendung der Moral zu befinden. In diesem Sinne müsste die Ethik im Zusammenhang mit dem Operieren der sozialen Systeme vor der Anwendung von Moral geradezu warnen.53
Vgl. Luhmann 1993c: 32, 34, 40, Joachim Güntner 1998 und Dietrich Schwanitz 1998.
Diese Radikalität ist nach Luhmann nicht einfach eine Ansichtssache, sondern sie charakterisiert die Wirklichkeit. Konsequenterweise meint er auch, irgendeine moralische Aufgeregtheit über das, was in der Welt geschehe, bringe gar nichts. Viel besser sei es, mit einem Denken ohne Rebellion einfach Einsicht in das Funktionieren der Welt zu gewinnen. Denn alles würde sowieso so weiter laufen und das sei auch keine Katastrophe. Fazit also: Moral kommt in den Systemen nicht vor, aber ausserhalb von ihnen auch nicht. Denn mit der Verschiebung des menschlichen Individuums in die Umwelt wird, wie Luhmann darlegt, die Möglichkeit gewonnen,
den Menschen als Teil der gesellschaftlichen Umwelt zugleich komplexer und ungebundener zu begreifen, als dies möglich wäre, wenn er als Teil der Gesellschaft aufgefasst werden müsste; denn Umwelt ist im Vergleich zum System eben derjenige Bereich ..., der höhere Komplexität und geringeres Geordnetsein aufweist. Dem Menschen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner Umwelt konzediert, insbesondere Freiheiten zu unvernünftigem und unmoralischem Verhalten.54
Luhmann 1985: 289.
Ralf Dahrendorf diagnostiziert in einer solchen Sichtweise einen "verspielten Zynismus".55
Nach Stephan Wehowsky 1997.
Spätestens hier werden wir uns nun doch langsam fragen, warum wir uns mit Luhmann und seiner Theorie in einem humanökologischen Zusammenhang überhaupt befassen. Haben wir nicht gesagt, aus dem Wesen einer humanökologischen Perspektive müsste sich ergeben, dass Grenzen gerade überwunden oder aufgehoben werden? Ist es nicht eine künstliche Grenze, die zwischen sozialen Systemen und menschlichen Individuen gezogen wird? Ist es nicht gerade hier absolut notwendig, eine Verbindung zwischen Psychologie und Soziologie zu etablieren, die weitaus enger ist als Luhmanns Vorstellung von Interpenetration? Müssen wir annehmen, dass die menschlichen Individuen von jeglicher Art von Verantwortung für das Geschehen auf dem Planeten Erde entlastet werden können? Ist nicht das, was Luhmann skizziert, eine Art systemischer Behaviorismus (Kommunikation ruft Kommunikation hervor), der nicht einmal auf die Vorstellung von Menschen als Black Boxes angewiesen ist?56
Wir erinnern uns: Der Behaviorismus war eine Richtung der Psychologie, bei der die menschliche Innenwelt als wissenschaftlich nicht interessierende oder nicht bearbeitbare Black Box betrachtet wurde. Es müsste möglich sein, so wurde argumentiert, menschliches Verhalten ganz allein mit Hilfe von von aussen beobachtbaren Umweltreizen und darauffolgenden Reaktionen zu erklären.
Oder ist es eine Art von Biologismus, wenn er das Konzept der biologischen Autopoiese ausgerechnet für die Beschreibung desjenigen Phänomens transponiert, das für die über Pflanzen und Tieren angesiedelte menschliche Welt einzigartig sein soll: Sinn!?
Offensichtlich lässt sich die Welt auf der Grundlage einer Theorie wie der von Luhmann nicht retten, was dieser selbst ja auch gar nicht im Sinn hatte. Sollte er sich selbst als eine Art Messias wahrgenommen haben, dann sicher nur im Sinne einer Rettung der Soziologie als Wissenschaft. Also nochmals: Warum beschäftigen wir uns dann mit der Luhmannschen Theorie? Es gibt dafür zwei gute Gründe: Erstens ist diese Denkweise selbst ein Symptom für die Krise, in der wir stecken. Wir werden darauf zurückkommen müssen. Zweitens ist der Luhmannschen Beschreibung des Funktionierens der Gesellschaft ein erklecklicher Realitätsgehalt nicht abzusprechen, womit sie in beängstigender Weise aktuell ist. Das heisst, dass sie auch eine Erklärung dafür liefern kann, wieso die Menschheit derart enorme Schwierigkeiten hat, mit der ökologischen Krise zu Rande zu kommen, selbst dann, wenn gute Absichten in dieser Richtung durchaus vorhanden sind. Dieser Frage hat Luhmann übrigens ein spezielles Buch gewidmet. Es trägt den Titel "Ökologische Kommunikation", und seinem Inhalt wollen wir uns jetzt noch zuwenden.57
Siehe Luhmann 1990. Eine Kurzversion des im Buch enthaltenen Gedankengutes findet sich in Luhmann 1989.
Die Schlussfolgerung von Luhmann im besagten Buch ist: Im Prinzip kann die menschliche Gesellschaft mit der ökologischen Krise nicht umgehen, denn, wie wir jetzt wissen, zerfällt sie in eine grössere Zahl von weitgehend autonomen Subsystemen (wir können die in Tab. 1 gegebene Auswahl als Beispiel betrachten), die alle nach einer eigenen Logik funktionieren. Jedes dieser Subsysteme hat auch seine eigene Umwelt. Ein ökologisches Problem kann nur auch zu einem Problem des Systems werden, wenn es von dessen Kommunikation aufgegriffen wird. Jedes System funktioniert nach dem Prinzip: Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss! Die Voraussetzung dafür, dass ein Umweltproblem überhaupt behandelt werden kann, ist also, dass dieses in einem oder mehreren der Subsysteme Resonanzen erzeugt. Oft ist dies eben gar nicht der Fall, manchmal allerdings gibt es auch eine Aufschaukelung von Resonanzen (Beispiel: Die Waldsterbensdebatte der 1980er Jahre58
Siehe Wolfgang Zierhofer 1998.
). Wird ein Umweltproblem aufgegriffen und behandelt, kann dies nur nach der Eigenlogik der Systeme geschehen, in denen eine Resonanz ausgelöst worden ist. Z.B. kann die Wirtschaft auf Umweltprobleme nur in Termen von Kosten und Nutzen, also über Preise, antworten. Anders gesagt: Nur Umweltgüter, die auch einen Preis haben, können in der Buchhaltung berücksichtigt werden.59
Enstprechend verlangen konventionelle umweltökonomische Ansätze eine sog. Internatlisierung externer (bisher nicht berücksichtigter) Kosten vor. Natürlich gibt es auch alternative Ansätze, die unter der Bezeichnung "ökologische Ökonomie" laufen, aber diese erfordern bereits eine Zusammenarbeit der Ökonomie mit der Physik (Thermodynamik!) und der Biologie.
Die verschiedenen Systeme können auch nur untereinander kommunizieren, wenn das jeweils empfangende System fähig ist, Mitteilungen von anderen Systemen in seine eigene "Sprache" zu übersetzen. Einem solchen Austausch sind aber Grenzen gesetzt. Entscheidend ist aber letztlich der Umstand, dass es kein Teilsystem gibt, das gewissermassen die Gesellschaft als Ganze repräsentieren würde - das Prinzip der funktionalen Differenzierung verhindert die Existenz eines solchen Systems. Insgesamt haben wir also eine Situation vor uns, in der eine ganzheitliche, gesamtgesellschaftliche Beschäftigung mit der ökologischen Krise nicht möglich ist.
Ein zweiter, ebenfalls realistischer Aspekt der Unfähigkeit der Gesellschaft, sich wirklich ernsthaft auf die ökologische Gefährdung einzustellen, ist der Umstand, dass die Luhmannschen Subsysteme kaum steuerbar sind. Nicht nur sind die Menschen an ihnen ja nicht direkt beteiligt, sondern die Systeme entwickeln nach Massgabe ihrer Autonomie auch eine Eigendynamik, die, wie wir wissen, z.B. beim Wirtschaftssystem ja tatsächlich enorme Ausmasse angenommen hat. Der Sinn, nach dem heute die Subsysteme operieren, ist immer weniger ein Sinn, der auch zum menschlichen Leben passen könnte. Dies ist insbesondere ein Charakteristikum der Moderne, hat aber, wie Reese-Schäfer moniert, eine länger zurückreichende historische Wurzel, indem diese Verselbständigung mit der Erfindung der Schrift begann und sich dann mit der des Buchdrucks und noch mehr mit dem Aufkommen der neuzeitlichen Massenmedien immer weiter verstärkte.60
Vgl. Reese-Schäfer 1992: 52.
Die Autonomie der Systeme drückt sich darin aus, dass Beeinflussungsversuche von aussen primär als blosse Störungen wahrgenommen werden, die nach Möglichkeit zu umgehen oder zu kompensieren sind. Jedenfalls ist es hoffnungslos zu versuchen, bestimmte Systemzustände zu erreichen, weil dafür die Etablierung einer lückenlosen, strikten Ursache-Wirkungs-Kette Voraussetzung wäre, eine Voraussetzung, die nicht erfüllt werden kann. Was hingegen eher möglich ist und auch laufend praktiziert wird: Das Ergreifen von Massnahmen, die für ausgewählte Variablen - wie etwa Umweltverschmutzung, Einkommen der Landwirte, Arbeitslosigkeit usw. - auf das Erreichen positiver oder negativer Differenzen gegenüber dem Jetztzustand gerichtet sind.61
Vgl. Luhmann 1993. Wie der Autor erläutert, ist das Prinzip der Differenzsteuerung im Deutschen unter dem Stichwort "Inkrementalismus" bekannt; im Englischen wird etwa von "Muddling Through" geredet (56).
In dieser Eigensinnigkeit der Systeme aber liegt der hauptsächliche Grund für die immer noch wachsende Umweltzerstörung. Die wenigsten Menschen haben wohl die ganz direkte und präzise Absicht, mit ihrem Handeln die Umwelt zu schädigen; das System aber bringt das ohne Mühe zustande. Im Jargon der Handlungstheorie gesprochen: Viel von dem, was passiert, hat den Charakter von unbeabsichtigten Nebenfolgen. Verschlimmert wird die Situation dadurch, dass die Systeme, deren Umwelt wir nach Luhmann sind, für unser Tun und Lassen einen Zwangscharakter bekommen. Wenn wir in der Gesellschaft überleben wollen, müssen wir uns weitgehend nach dem Funktionieren der Systeme richten, z.B. nach dem des Wirtschaftssystems. Dies aber kommt uns allen bekannt vor: Wer hat nicht schon das Gefühl gehabt, nur eines der berühmt-berüchtigten Rädchen im Getriebe zu sein, das auf das grössere Geschehen überhaupt keinen Einfluss hat bzw. dieses Geschehen höchstens noch in seinen negativen Aspekten verstärkt?62
Vgl. Dürrenberger 1989: 65.
Dass wir es hier mit einer absolut beängstigenden Situation zu tun haben, sieht sogar Luhmann ein, wenn er sagt: "Man muss sich nicht wundern, wenn eine so operierende Gesellschaft schliesslich Angst vor sich selber bekommt."63
Zitiert nach Heinz Kleger 1989.
Aber vielleicht gibt es doch einen Hoffnungsschimmer. Es gibt ja das interessante Phänomen der sozialen Bewegungen, worunter sich auch ökologisch motivierte befinden. Luhmann hält nichts von ihnen, er betrachtet sie als jeweils vorübergehende Erscheinungen, die sich bloss um der Bewegung willen bewegen, also nicht als etwas, das er ernst nehmen müsste. Er meint auch, eine "Opposition" gegen die Gesellschaft könne es eigentlich gar nicht geben, weil dies ja eine Aussenperspektive erfordern würde. Und schliesslich passen die sozialen Bewegungen auch gar nicht in sein theoretisches Schema! Abgesehen davon, dass sie, mindestens anfänglich, keinen ausgesprochen systemischen Charakter haben, entwickeln sie sich auch nicht um einen spezifischen Code herum, gerade nicht. Sie übernehmen aber eine Funktion, nämlich die des "Eindringens in unzureichend durchcodierte Restbereiche und zum Teil die ... der Rückeroberung falsch codierter Problemstellungen." Walter Reese-Schäfer, von dem dieses Zitat stammt, ist der Ansicht, dass Luhmann hier schlicht einem Konstruktionsfehler seiner Theorie erlegen sei - er müsste fähig sein, sein starres Schema aufzugeben und auch die quer liegenden Bewegungen funktional zu interpretieren.64
Vgl. Reese-Schäfer 1992: 137.
Für alle, die jemals selbst bei einer solchen Bewegung mitgewirkt oder mindestens deren Aktivitäten mitverfolgt haben, ist klar, dass hier tatsächlich ein gesellschaftliches Potential zum Brückenschlag zwischen Bereichen vorliegt, die sich sonst nicht "verstehen" können oder wollen. Gerade hier zeigt sich krass, wie die Luhmannsche Theorie mit ihrer Vertreibung der Menschen aus der Gesellschaft zu Absurditäten führen kann, indem es ja immer engagierte Individuen sind, die eine soziale Bewegung starten. Luhmann selbst liefert als Person zu seiner Theorie einen Gegenbeweis, zwar nicht als Mitglied einer sozialen Bewegung, aber als Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinschaft: Er hat eigenhändig die Soziologie auf den Kopf gestellt.
Wenn, wie wir gesehen haben, Luhmann die Entwicklung seiner Theorie als einen Höhenflug über den Wolken ansieht, als wie wirklichkeitsnah schätzt er dann sein eigenes Produkt ein? In einem gewissen Sinne versucht er zwischen einer realistischen und einer konstruktivistischen Position zu vermitteln. Die erstere würde behaupten, dass es eine Realität unabhängig von uns als beobachtenden Wesen gibt, die letztere dagegen würde im Gegenteil sagen, dass das, was wir als Realität bezeichnen, ganz und gar unsere Erfindung ist. Nach Luhmann nun entsteht eine Realität aus dem Zusammenwirken von Beobachter und Aussenwelt; die Unterscheidungen, die der erstere in der letzteren trifft sind real. Es ist an sich möglich, verschiedenartige Unterscheidungen zu verwenden, was allerdings nicht ein beliebiger Vorgang ist, denn letztlich ergeben nur diejenigen Sinn, die auf der einen Seite, der "Innenseite" gewissermassen, ein sich selbst produzierendes System meinen.65
Vgl. Luhmann 1993c: 120.
Luhmann hat einen Universalitätsanspruch, indem er beansprucht, mit seiner Theorie die soziale Welt insgesamt beschreiben zu können. Andererseits ist er aber auch tolerant genug, um nicht ihre absolute Richtigkeit zu behaupten. Er ist sich bewusst, dass das Ganze auch anders angegangen werden könnte, wobei er aber immerhin so überzeugt von seinem eigenen Ansatz ist, dass er der potentiellen Konkurrenz zuruft: "Macht es anders, aber mindestens so gut!"66
Vgl. Reese-Schäfer 1992: 5 und Niels Werber 1997.
Im Laufe dieses Textes ist wohl meine eigene Meinung zum Luhmannschen Projekt bei der einen oder anderen Bemerkung schon durchgeschimmert. Ich glaube durchaus, dass es sich um eine brilliante intellektuelle Leistung handelt. Ich frage mich aber: Was taugt pure, freischwebende Intellektualität in der heutigen Zeit noch? Beim Flug über den Wolken wird irgendwann der Treibstoff knapp und verlangt nach einer Landung auf dem festen Boden, weil sonst ein Absturz bevorsteht. Von einem humanökologischen Gesichtspunkt aus kreieren die Unterscheidungen, die getroffen werden, eine sinnlose Realität, Sinn jetzt nicht im Luhmannschen, sondern in einem weitergefassten Sinne gemeint, einer der sich auf die Frage eines angemessenen Menschseins in der Welt bezieht. Wenn sich schon die sozialen Systeme eingrenzen, aber im Bewusstsein der Individuen diese Grenzen überschritten werden können, dann muss hier die Landung stattfinden, d.h. die Reintegration ansetzen. Organismen als biologische autopoietische Systeme sind für ihr Gedeihen auf einen steten materiell-energetischen Stoffwechsel angewiesen. Ist nicht anzunehmen, dass auch die Kommunikation der sozialen Systeme dringend einen ideellen Stoffwechsel benötigt?

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