In dieser Aufgabenteilung kommt ein klares Konzept zur Ausübung wie auch zur Begrenzung politischer Macht zum Ausdruck. In Wirklichkeit aber, so Meyer-Abich, wird heute weder das eine noch das andere bewirkt. Warum?
Zu 1.) Es gibt keine effektive Kontrolle der Regierung durch das Parlament. In einer parlamentarischen Demokratie, wie sie in Deutschland verwirklicht ist, hängt dies damit zusammen, dass die Abgeordneten der jeweiligen Regierungspartei die Regierung gegen die parlamentarische Kontrolle abschirmen, weil sie selbst von deren Macht profitieren möchten. Die Opposition aber, die die Kontrollaufgabe wahrnehmen möchte, ist in die Minderheit
versetzt.207Vgl. Meyer-Abich 1997, 436.
Im politischen System, wie es die Schweiz besitzt, stellt sich die Situation etwas anders dar, aber auch hier versagt die parlamentarische Kontrolle, da es sich bei Umweltschutzmassnahmen i.a. um langfristige Angelegenheiten handeln, was mit dem mit den kurztaktigen Wahlperioden zusammenhängenden Zeithorizont der PolitikerInnen kollidiert; deren Anliegen ist es, wieder gewählt zu werden. Um diese Motivationslage zu schwächen, schlägt Manfred Linke ein Wahlsystem vor, bei dem alle 2 Jahre ein Viertel des Parlamentes neu gewählt würde und die Gewählten maximal 8 Jahre im Amt bleiben und sich keiner Wiederwahl stellen
dürften.208Siehe Manfred Linke 1991.
Zu 2.) Die Regierung selbst hat aber auch nicht unter Kontrolle, wofür sie formell verantwortlich ist, weil alle wesentlichen Entscheidungen entweder in der Verwaltung oder in der Wirtschaft fallen. "Im Normalfall wünschen sich die Minister geradezu, Entscheidungen so eingefädelt zu wissen, dass es im bestehenden Machtgefüge 'keinen Ärger gibt', so dass sie möglichst nichts zu entscheiden brauchen, denn wo immer es 'Ärger' gibt, gefährdet dies über die Parteien auch ihre Position und damit ihren jeweiligen persönlichen Besitzstand. Regierungen bestehen deshalb zunehmend einesteils aus Gleichgewichtskünstlern, welche sich immer wieder obenauf zu halten verstehen, und werden andernteils von Schauspielern übernommen, welche in der Rolle des verantwortlich handelnden Politikers zu tun scheinen, was auch ohne sie
geschähe."209Meyer-Abich 1997, 436.
Im Klartext heisst dies, dass eigentlich gar keine Regierung vorhanden ist. Was wie eine Regierung aussieht, ist im Grunde genommen bloss eine "symbolische
Veranstaltung".210Meyer-Abich 1997, 435.
Zu 3.) Die Verwaltung ihrerseits vollzieht immer weniger den politischen Willen der Regierung oder den der Öffentlichkeit, so weit sich hier oder dort überhaupt ein Wille ausmachen lässt. Stattdessen richtet sie sich in ihrem Tun nach einem selbstgebildeten Willen, womit sie in erster Linie die Erhaltung der eigenen Macht zu sichern versucht. Sie ist an einem Gedeihen der Wirtschaft interessiert, weil sie für ihre eigene Existenz auf deren Steueraufkommen angewiesen ist. Umgekehrt braucht aber auch die Wirtschaft die Verwaltung: Sie soll sich der Reibungsflächen annehmen, die sich aus den gegensätzlichen und eigennützigen Interessen der am Konkurrenzunternehmen Markt Beteiligten
ergeben.211Nach Meyer-Abich 1997, 437.
Zu 4.) Lediglich die Justiz hält noch einigermassen das, was im ursprünglichen Grundkonzept des modernen Rechtsstaats versprochen war, soweit jedenfalls wie es ihr noch gelingt, das Versagen der anderen Einrichtungen zu
korrigieren.212Nach Meyer-Abich 1997, 437.
Unter dem Titel "Staatsversagen" diskutiert Martin Jänicke, wie das politische System insgesamt ohnmächtig dem Wirtschaftssystem ausgeliefert ist. Das letztere schafft Probleme, die dem Staat überbunden werden. Er ist davon überfordert, umgekehrt aber auch mitverantwortlich für die Probleme, weil er auf Gestaltung und vorsorgliche Intervention verzichtet. Je mehr Geld der Staat für die Bearbeitung industriegesellschaftlich erzeugter Probleme ausgibt, desto breiter "institutionalisiert" er ein Desinteresse an einer vorsorglichen Problemvermeidung. Und je weniger der Staat präventiv eingreift und nachträglich und teuer repariert, desto stärker wächst mit dem Finanzbedarf seine Abhängigkeit von der Steuerdividende der Wachstumswirtschaft, ein Punkt, den wir schon von der obigen Beschreibung von Meyer-Abich her
kennen.213Siehe Martin Jänicke 1986, 55-56.
Der grundlegende Widerspruch, der in diesem Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft zum Ausdruck kommt, wird von Anthony Giddens als struktureller Widerspruch
(structural contradiction) thematisiert:
The primary contradiction of the capitalist (nation-)state is to be found in the mode in which a "private" sphere of "civil society" is created by, but is separate from and in tension with, the "public" sphere of the state. ... The capitalist state, as a "socializing" centre representing the power of the community at large, is dependent upon mechanisms of production and reproduction which it helps to bring into being but which are set off from and antagonistic to it.214Anthony Giddens 1984, 197.
Der amerikanische Politologe John Dryzek befasst sich mit der ökologischen Leistungsfähigkeit oder -unfähigkeit des politischen Systems westlicher Prägung, das er "Polyarchie" nennt, unter systemtheoretischen Gesichtspunkten. Ist es möglich, dass die Wahrnehmung von Umweltproblemen eine negative Rückkopplung in Gang setzt, d.h. zu korrigierenden Massnahmen führt? Umweltorganisationen z.B. produzieren zwar einen ständigen Strom von Informationen, aber es ist immer noch üblich, Probleme in Teilprobleme aufzuteilen, was es mächtigen Gruppierungen, die Partikularinteressen vertreten, leichter macht, sich politisch durchzusetzen. Dieses Phänomen des "Korporatismus" bewirkt systematische Verzerrungen in den Rückkopplungskanälen. Ausserdem besteht die Tendenz, Probleme nach einer rein politischen Rationalität zu beurteilen, womit von einem ökologischen Standpunkt aus die Rückkopplung evtl. sogar einen positiven Charakter bekommt, d.h.zu einer Verstärkung der Probleme
führt.215Vgl. John Dryzek 1987, 120 ff., 126.
Mit derartigen Schilderungen soll aber, wie Meyer-Abich betont, nicht behauptet sein, dass Politik und Wirtschaft gewissermassen unter einer Decke steckten, dass es also eine Art Verschwörung zwischen ihnen gebe. Das sei undenkbar, denn er sehe "unter den dortigen Entscheidungsträgern kaum jemand, der in einem hinreichend weiten Horizont wüsste, was er tut und
warum."216Meyer-Abich 1997, 438.