Die geschilderte Dreiteilung des menschlichen Bewusstseins lässt sich als entsprechende Folge von Entwicklungsstadien in der biologischen Evolution wiederfinden. Diese scheint sich nach dem üblichen evolutionären Muster zu richten, wonach ein jeweils neues Phänomen nicht die schon vorhandenen älteren Phänomene ersetzt, sondern mit ihnen fortan in bestimmter Weise zusammenwirkt. Grob gesagt handelt es sich beim ersten Stadium, in seiner Bedeutung dem menschlichen Unbewussten entsprechend, um eine Lebensform, die auf emotional gesteuerten instinktiven Verhaltensweisen beruht. Beim zweiten Stadium hat sich eine dem praktischen Bewusstsein entsprechende Ebene ausgebildet; sie ermöglicht es, die Abhängigkeit von Instinkten zum Teil durch ontogenetisch gelerntes Verhalten zu ersetzen oder mindestens zu ergänzen. Und mit dem letzten Stadium, dem eines diskursiven Bewusstseins, das eine weitgehende Loslösung von der unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Aussenwelt ermöglicht, sind wir bereits beim Menschen angelangt. Gemäss der bisherigen Schilderung der Bedeutung der Bewusstseinsebenen mit dem Aspekt der Weltgebundenheit auf der untersten und dem der Weltoffenheit auf der obersten Ebene zeichnet diese Entwicklung ein Anwachsen von Freiheit nach, aber nicht in dem einfachen Sinne, dass umgekehrt parallel dazu der Bereich des Notwendigen schrumpft. In welchem Sinne dann? Zur Beantwortung dieser Frage orientieren wir uns am besten an Jonas. Er spricht von der "durch und durch dialektischen Natur organischer Freiheit, der Tatsache nämlich, dass sie im Gleichgewicht zu einer korrelativen Notwendigkeit steht, die ihr als eigener Schatten unzertrennlich anhaftet und daher auf jeder ihrer Stufen im Anstieg zu höheren Graden der Unabhängigkeit als deren verstärkter Schatten wiederkehrt. Dieser Doppelaspekt," so fährt Jonas weiter, "begegnet schon im Primärmodus organischer Freiheit, im Stoffwechsel als solchem, der einerseits ein Vermögen der organischen Form bezeichnet, nämlich ihren Stoff zu wechseln, aber zugleich auch die unerlässliche Notwendigkeit für sie, eben dies zu tun. ... So ist die Souveränität der Form hinsichtlich ihres Stoffes zugleich ihr Unterworfensein unter das Bedürfnis danach. ... Um Stoff wechseln zu können, muss die lebende Form Stoff zur Verfügung haben, und diesen findet sie ausser sich, in der fremden 'Welt'. Dadurch ist das Leben zur Welt hingewandt in einem besonderen Bezug von Angewiesenheit und
Vermögen."92Gebhard 1994, 95.
Zur Beschreibung der Art und Weise, wie sich Angewiesenheit und Vermögen im evolutionären Fortgang ausdrücken, eignet sich ein Schema von Råberg, das sich mit der Darstellung der drei Bewusstseinsebenen als einer evolutionären Folge parallelisieren lässt (vgl. Tabelle 2). In diesem Schema stellt Råberg zwei evolutionäre Tendenzen einander gegenüber: Eine, die - nach seiner Terminologie - das Sinnenbewusstsein ("sensory consciousness"), und eine, die das Raumbewusstsein ("spatial consciousness")
betrifft.93Yi-Fu Tuan 1977, 3.
Das Sinnenbewusstsein entsteht durch emotional oder motivational angeleitete, nach bindenden Identifikationen suchende Beziehungen, die Råberg mit der Wirkung paradigmatischer Triebe in Verbindung bringt: Mit der ersten Stufe ist ein holistischer Trieb verknüpft, der als allgemeine, an der Welt orientierte Lebenskraft interpretiert werden kann, mit der zweiten der Fortpflanzungs- oder genetische Trieb, der auf Lebewesen der gleichen Art gerichtet ist, und mit der dritten der Nahrungs- oder nutritive Trieb, der die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse
steuert.94Die fundamentale Bedeutung des Sozialen auf Stufe 2 und die Fortentwicklung zu einer zunehmenden Betonung des Individuellen wird z.B. auch von Portmann vermerkt: "Alles höhere Tierleben ist primär sozial, auch die Arten, die man früher etwa als solitär abgesondert hat", und: "Die biologische Forschung zeigt, wie mit steigender Organisationshöhe der Eigenwert des Individuums im gleichen Masse zunimmt wie die Möglichkeiten seiner sozialen Rollen" (Portmann 1963, 235 bzw. 245). Zur zunehmenden Einengung des Sinnenbewusstseins und wachsenden Ausrichtung auf Details passt auch die bei Ditfurth figürlich skizzierte Verkleinerung des Gesichtsfeldes bei gleichzeitiger Verbesserung der stereoskopischen Sehfähigkeit bei der Entwicklung vom Fisch zum Menschen (siehe Ditfurth 1982, vor 193).
Es geht hier offensichtlich um Prinzipien, die ihre Wurzel in den grundlegenden Äusserungen des Lebens auf der Erde haben und damit seit Urzeiten existieren. Der Sinn, sie bestimmten Entwicklungsstufen zuzuweisen, besteht darin, dass sie dort eine besondere erweiterte und flexibilisierte Ausprägung erfahren, die ihre ursprüngliche biologische Grundfunktion weit übersteigt. So hat der genetische Trieb auf Stufe 2 eine Wirkung, die sich nicht auf Fortpflanzung beschränkt, sondern sich gegenüber Artgenossen und -genossinnen in kooperativen und solidarischen Verhaltensformen äussert und letztlich auf das Kollektiv insgesamt gerichtet ist. Und der nutritive Trieb auf Stufe 3, also beim Menschen, findet seinen Ausdruck nicht mehr nur in einer Nahrungsversorgung, sondern macht sich in einer Reihe von verschiedenen Bedürfnissen bemerkbar, die immer mehr kulturell bestimmt sind und der Steigerung individuellen Wohlergehens dienen sollen.
Demgegenüber zeichnet die Linie des Raumbewusstseins eine Entwicklung nach, die den Lebewesen mit Hilfe wachsender Distanzierung und Abstraktion zunehmende Freiheiten im Umgang mit dem Lebensraum gestattet. Die unterschiedliche Bedeutung der beiden Tendenzen lässt sich auch so charakterisieren: Bei der ersten geht es um Bedürfnisbefriedigungen, die auf Elemente der Aussenwelt gerichtet sind, im zweiten dagegen um die Entwicklung von Vorstellungen, wo überall Bedürfnisse befriedigt werden könnten, was dann auch heisst, dass die Bedürfnisbefriedigung temporär aufgeschoben werden kann. Auf die Situation des Menschen bezogen: Dieser Kontrast von Nähe und Ferne scheint sich in einem Doppelcharakter seines Raum- und Naturerlebens bemerkbar zu machen, "dem Bedürfnis nach Vertrautheit und dem nach ständiger Neuigkeit zugleich," wie Ulrich Gebhard
sagt,95Siehe Jonas 1973, 152.
oder in der Zweiheit von "place and space", wie Yi-Fu Tuan es ausdrückt: "Place is security, space is freedom: we are attached to the one and long for the
other."96Siehe dazu aber die Arbeiten von Polanyi 1962, 1974, 1985. Hinsichtlich verschiedener Arten des Wissens siche auch Dieter Steiner 1981.