www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

4. Das menschliche Gehirn

Die Entwicklung des Gehirns setzte bedeutend später als die Aufrichtung des Körpers ein: Wie sich aus der Analyse fossiler Gehirnschädel ergibt, dürften die dramatischsten Veränderungen in der Zeitspanne zwischen vor etwa 3 Mio. und 100 000 Jahren stattgefunden haben. Während bei den Australopithecinen die Grösse des Gehirns noch 400-500 ccm betrug und damit in der Bandbreite der Gehirngrössen bei den rezenten Menschenaffen liegt, nahm sie dann in der Folge bis zu Homo sapiens geradezu explosiv auf rund das Dreifache, im Mittel 1400-1500 ccm zu (vgl. Abbildung 12). Der Zürcher Anthropologe Robert Martin ist der Meinung, dieses Wachstum wäre ohne eine verbesserte Energiezufuhr nicht möglich gewesen und deute deshalb auf den regelmässigen Konsum von Fleisch hin, das reich an Kalorien, Proteinen und Fett sei.84 Die Vergrösserung ist aber nicht allgemeiner, sondern differentieller Art: Sie betrifft in erster Linie die Grosshirn-Hemisphären als phylogenetisch jüngste Teile des Vorderhirns. Neben der Grössenzunahme spielen Art und Komplexität der internen Organisation eine entscheidende Rolle. Dies zeigt sich daran, dass Menschen mit kleinem Gehirn sich nicht weniger menschlich verhalten, als solche mit grossem. Die Organisation des menschlichen Gehirns kann in zweifacher Hinsicht beschrieben werden, zum ersten durch eine "vertikale" Dreigliederung der ganzen Hirnanlagen und zum zweiten durch eine "horizontale" Teilung des Grosshirns in zwei Hemisphären.
Abbildung 12: Das Grössenwachstum des menschlichen Gehirns vom Australopithecus bis zum Homo sapiens. Für Homo habilis sind Schädelfragmente innerhalb der Umrisse eines heutigen Menschenschädels dargestellt (aus Neue Zürcher Zeitung 1972)
Abbildung 12: Das Grössenwachstum des menschlichen Gehirns vom Australopithecus bis zum Homo sapiens. Für Homo habilis sind Schädelfragmente innerhalb der Umrisse eines heutigen Menschenschädels dargestellt (aus Neue Zürcher Zeitung 1972)

Anmerkungen

84
Zitiert nach Leakey 1994: 55.