www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

4.4 Hypothesen zur Gehirnentwicklung

Die Gründe, die für die menschliche Gehirnentwicklung verantwortlich sind, liegen im Dunkel. Man kann lediglich der Vermutung Ausdruck geben, dass hier ein rekursiver Prozess zwischen biologischen Anlagen und der beginnenden kulturellen Evolution eine Rolle gespielt haben muss (vgl. 1.3). Trotzdem haben einige Forscher immer wieder nach selektiv wirkenden Hauptfaktoren gesucht. Ein häufig genannter Kandidat ist die jagdorientierte Lebensweise,100 die auf eine rasche Erfassung und Verarbeitung von Informationen angewiesen war, eine Vorstellung, die nach dem heutigen Stand der Forschung aber kaum mehr ernsthaft vertreten werden kann. Wie wir wissen, spielt die Jagdbeute bei heute noch unter vergleichbaren Umständen lebenden Jäger und Sammlerinnen keineswegs eine lebenswichtige, sondern eine eher untergeordnete Rolle. Ausserdem hätte dies ja nur die Männer betreffen können - oder wollen diese damit gleichzeitig erklären, dass die Frauen weniger intelligent sind? Ist es nicht viel plausibler, dass die Entwicklung des Gehirns mit der wachsenden Bewusstseinswerdung in einem Umfeld von (dank der Sprache) zunehmend intensiveren sozialen Interaktionen im Zusammenhang steht? In biologischer Hinsicht bietet ja das grössere Hirn wirklich keine Vorteile, im Gegenteil: Da dies schon beim Fötus einen grösseren Schädel bedingt, werden Geburten erschwert. Das Problem wird verschärft, indem als Folge des aufrechten Ganges das weibliche Becken zusätzlich eine ungünstige Umformung erhalten hat. Damit Kinder den Geburtskanal sicher passieren können, müssen sie also in einem frühen Entwicklungsstadium relativ "unfertig", gewissermassen ein Jahr zu früh geboren werden (vgl. 3.2). Aber umgekehrt wird die damit notwendige mütterliche Fürsorge als Instrument der Sozialisation zu einem wichtigen Faktor in der sozio-kulturellen Entwicklung.
Über das Warum der Entstehung einer hemisphärischen Spezialisierung gibt es spekulative Vermutungen.101 Man denkt dabei an einen Zusammenhang mit der Entwicklung von Sprache und Werkzeuggebrauch. Danach hätte sich die linke Hirnhälfte allmählich als besser in der Generierung von rasch sich ändernden motorischen Mustern erwiesen, Muster, wie sie bei der feinen Kontrolle von Bewegungen der Hände und der Sprachorgane vorkommen. Mit dieser Spezialisierung aber wäre die früher in beiden Hälften vorhandene Fähigkeit zur Verarbeitung räumlicher Information links verloren gegangen. Um dieses Defizit auszugleichen, hätte sich danach die rechte Hälfte dafür besonders spezialisieren müssen.

Anmerkungen

100
Diese Auffassung wird z.B. von Bernard Campbell (1985: 85) vertreten.
101
Siehe Springer und Deusch 1985: 117 ff.