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Menschwerdung

Menschwerdung

1. Menschwerdung
1.1 Der Mensch: Krone der Schöpfung oder Laune des Zufalls?
1.2 Der Mensch als emergentes Phänomen
1.3 Wie unterscheidet sich der Mensch vom Tier
1.4 Entlässt die Natur den Menschen?
1.4.1 Philosophische Anthropologie
1.4.2 Soziobiologie
2. Zur Stammesgeschichte des Menschen
2.1 Zur Entwicklung der Ideen über die Abstammung des Menschen
2.2 Zum Stammbaum des Menschen43
Den Textteil, der mit den in der menschlichen Stammesgeschichte unterschiedenen Arten zu tun hat, habe ich vor bald 10 Jahren geschrieben. Inzwischen sind weitere Knochenfunde gemacht worden und das Bild hat sich wieder verändert, nicht grundsätzlich, aber jedenfalls verfeinert, indem weitere Arten unterschieden werden. Für den neusten Stand der Dinge siehe z.B. Friedemann Schrenk 1997 und Ian Tattersall 1997.
2.3 Zur Herkunft des Homo sapiens
3. Der Prozess der Menschwerdung
3.1 Aufrechter Gang und Leben in der Savanne
3.2 Der Mensch als "sekundärer Nesthocker"
3.3 Vom Werkzeuggebrauch zur Werkzeugherstellung
4. Das menschliche Gehirn
4.1 Das Dreifachhirn
4.2 Die hemisphärische Spezialisierung
4.3 Bedeutung der menschlichen Gehirnorganisation
4.4 Hypothesen zur Gehirnentwicklung
5. Die menschliche Sprache
5.1 Organische Voraussetzungen
5.2 Die Form der menschlichen Sprache
5.3 Basiert die Sprache auf genetischen oder sozialen Strukturen?
Viele Sprachforscher, wie z.B. der amerikanische Kulturanthropologe Franz Boas (1858-1942), der die Indianersprachen untersuchte, waren zunächst beeindruckt von der Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit der menschlichen Sprachen. Boas selbst kam zum Schluss, dass jede Sprache ihre eigene grammatikalische Struktur hätte. Beispielsweise gibt es in den indianischen Sprachen grammatikalische Prozesse, die in den indogermanischen Sprachen unbekannt sind. Dazu gehört etwa das Phänomen des "Infix", bei dem im Gegensatz zum Präfix und Suffix nicht eine Silbe vorangestellt bzw. angehängt, sondern in die Mitte eines Wortes eingeschoben wird, was ihm eine andere Bedeutung verleiht. Nur im "cockney", der Londoner Umgangssprache, existiert etwas Ähnliches, allerdings in der Form, dass zur Verstärkung einer Aussage ganze Wörter in andere Wörter eingeschoben werden, z.B. "abso-bloody-lutely" oder "im-bloody-possible".105
Montagu 1962: 104.
In der neueren linguistischen Forschung geht es nun aber eher um die Frage, wie weit menschliche Sprachen untereinander Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufweisen. In diesem Spannungsfeld von gleich und verschieden gibt es verschiedene Theorien, und wir können uns wiederum fragen, ob und wie weit sie dem einen oder andern von uns unterschiedenen Weltbildtyp zugeordnet werden können.
Der amerikanische Linguist Noam Chomsky vertritt eine stark formalistische Auffassung, die einen atomistischen Anstrich hat, allerdings mit einem quasi naturgesetzlichen Universalitätsanspruch, wie wir dies von den Naturwissenschaften im allgemeinen kennen.106
Siehe z.B. John Lyons 1970.
Er meint, alle menschlichen Sprachen wiesen genügend übereinstimmende Merkmale auf, so dass sie als lediglich verschiedene Realisationen einer zugrundliegenden universellen Struktur aufgefasst werden müssten, wobei diese Struktur genetisch verankert sei. Mit andern Worten, er stellt sich vor, dass jeder Mensch über eine angeborene Anlage verfügt, die die Grundlage für eine allgemein gültige generative Grammatik ist, so dass in jeder Sprache in übereinstimmend regelhafter Weise Laute bzw. Wörter kombiniert werden. Er bleibt aber dabei nicht stehen, sondern behauptet ausserdem, dass auch der Bedeutungs- oder semantische Aspekt der Sprache durch den generativen Formalismus selbst erzeugt werde, also den Sprachelementen inhärent sei. Insofern der sprachliche Ausdruck dazu dienen kann, die Welt zu beschreiben, müsste dies auch heissen, dass bei allen Menschen die kognitiven Prozesse auf einer gemeinsamen logischen Struktur basieren; es dürfte dann eigentlich nur eine Art von Weltbild geben.
Genau dies hält aber ein anderer Linguist, Benjamin L.Whorf für falsch.107
Benjamin L. Whorf 1956, zitiert nach Ludwig von Bertalanffy 1973: 235 ff. Siehe auch Whorf 1991.
Er ist der Meinung, dass die Logik einer Sprache, vor allem aber ihr Bedeutungsaspekt, sich nur über die sprachliche Kommunikation innerhalb einer Sprachgemeinschaft ergeben kann. Die linguistischen Muster selbst bestimmen, was ein Individuum in dieser Welt wahrnimmt und was es darüber denkt. Da es verschiedene Muster gibt, gibt es auch verschiedene Weltbilder. Mit dem Gebrauch von Sprache wird also auch Wirklichkeit geschaffen. Dies sei wie folgt verdeutlicht: Wenn wir annehmen, dass Wortsprache und begriffliches Denken zueinander in einem wechselseitigen Bezug stehen,108
In Tat und Wahrheit ist dies nicht ohne weiteres gegeben. Es ist eine interessante Frage, ob es ein sprachfreies Denken oder ein Denken in einer "inneren Sprache" geben kann. Neuere Arbeiten zur Kognition von Gehörlosen scheinen die Existenz sprachfreier Operationen als Bestandteil der Denkprozesse zu bestätigen (Müller 1987: 112).
wird es möglich, dass die Erfahrungen und Überlegungen vieler im Gedankenaustausch miteinander kombiniert werden.109
Vgl. Osche 1982: 390.
Sprachliche Begriffe sind zunächst gedachte Objekte. Davon können einige einen referentiellen Charakter haben, d.h. auf Objekte der realen Umwelt verweisen (z.B. "Kind" in Abbildung 16). Andere können dagegen abstrakter Natur sein (z.B. "Geschlecht" in Abbildung 16) und keine direkte Entsprechung in der gegenständlichen Wirklichkeit haben. Alle Begriffe stehen untereinander in einem Verweisungs- oder Sinnzusammenhang (s. Beispiele in Abbildung 16). Ausserdem ist es möglich, orts- und zeitunabhängige Aussagen zu machen, d.h. auch referentielle Begriffe können Dinge meinen, die im Moment gar nicht zugegen sind. Daraus entsteht ein über Sprache sozial kreiertes Sinnsystem, das über die referentiellen Begriffe in verschiedener Art und Weise auf die gegenständliche Wirklichkeit Bezug nehmen kann. Dies wiederum kann sich auch auf die Strukturen einer Sprache auswirken. Whorf erwähnt als Beispiel den folgenden Unterschied zwischen den indogermanischen Sprachen und der Hopi-Sprache: In den ersteren werden Tätigkeiten in der Gegenwart, der Vergangenheit oder der Zukunft angesiedelt. In der letzteren dagegen gibt es keine derartige zeitliche Unterscheidung. Stattdessen ist es wichtig, mit verschiedenen Verbformen auszudrücken, ob es sich bei der fraglichen Tätigkeit um eine Tatsache, eine Erinnerung, eine Erwartung oder eine Gewohnheit handelt. In einer Sprache kann auch zum Ausdruck kommen, was bei der in Frage stehenden Lebensweise wichtig ist. Z.B. existiert bei den Eskimos nicht ein genereller Ausdruck für "Eis", sondern es gibt viele verschiedene Ausdrücke für verschiedene Arten von Eis.110
Montagu 1962: 104.
Abbildung 16: Ein Beispiel sprachlicher Begriffe, die in einem Sinnzusammenhang stehen und zum Teil auf reale Objekte Bezug nehmen (nach Sayer 1984)
Abbildung 16: Ein Beispiel sprachlicher Begriffe, die in einem Sinnzusammenhang stehen und zum Teil auf reale Objekte Bezug nehmen (nach Sayer 1984)
Die den Ansichten Chomskys entgegenlaufende Auffassung, wonach die Sprache, über die ein Individuum verfügt, ausschliesslich das Resultat der Internalisierung eines im sozialen Verband bestimmten Zeichensystems ist, hat einen holistischen Charakter. Auch in diesem Fall dürfte es vernünftig sein, einem relationalen Weltbild entsprechend ein Wechselspiel zwischen ererbten Anlagen und sozialen Einflüssen anzunehmen. Dass mindestens die Sprachfähigkeit des Menschen genetisch angelegt ist, kann kaum bezweifelt werden. Das menschliche Hirn verfügt über Zentren für Sprachmotorik und Sprachverständnis. Auch lässt sich beobachten, dass das Lernen einer Sprache beim Kind einem bestimmten Muster zu folgen scheint. Von daher ist es leicht zu verstehen, dass alle Sprachen gewisse basale Strukturen gemeinsam haben, was übrigens auch bedeutet, dass sie (mehr oder weniger gut) ineinander übersetzt werden können. Andererseits ist es ebenso offensichtlich, dass jede Sprache eine Lernsprache ist. Wir bringen nicht die Fähigkeit mit, von vorneherein eine bestimmte Sprache zu sprechen. Und da die Sprache die Möglichkeit gibt, von der unmittelbaren Realität der Umwelt zu abstrahieren, ist es einleuchtend, dass sie nicht schon durch ihre Form, wohl aber durch ihren Inhalt im Gebrauch bedeutungsbildend sein kann.
Neuere Untersuchungen beschäftigen sich mit der Frage, ob alle menschlichen Sprachen evolutionär gesehen einen gemeinsamen Ursprung haben, oder aber unabhängig voneinander an verschiedenen Orten entstanden sind. Wenn man der Meinung ist, dass die Sprachen im Grunde genommen sehr verschieden sind, wird man der letzteren Auffassung zuneigen, bzw. die Auffassung vertreten, dass, sofern es einmal einen gemeinsamen Ursprung gegeben hat, dieser sehr weit zurückliegen muss. Nun gibt es aber, wie weiter oben erwähnt, aufgrund von neueren molekularbiologischen Untersuchungen Anzeichen, dass die gesamte heute lebende Menschheit auf gemeinsame Vorfahren in Afrika zurückgeht, die vor ungefähr 200 000 Jahren lebten. Auf solcher Grundlage kommt Luca Cavalli-Sforza111
Siehe Gould 1992: 35 ff.
zu einer Einteilung der modernen Menschheit in 7 Gruppen (siehe Abbildung 17). Wenn man diese mit den bekannten Sprachgruppen vergleicht, ergibt sich ein auffallender Grad von Korrelation. Jede genetische Gruppe definiert auch einen linguistischen Stamm. Z.B. besteht eine Entsprechung zwischen der Rassengruppe der Kaukasier (Europäer, Semiten, Iraner und Inder) mit den indoeuropäischen und semitischen Sprachgruppen, die miteinander verwandt sind. Unabhängig von den molekularbiologischen Ergebnissen gab es auf linguistischer Seite schon früher Auffassungen, wonach die indoeuropäischen und die nordasiatischen Sprachen eine "nostratisch" (vom Lateinischen 'noster' = unser) genannte Einheit bilden. Nach noch radikaleren Ansichten gibt es daneben noch eine Verwandtschaft zu allen amerikanischen Sprachen. Wie man in Abbildung 17 sieht, steht dies in Übereinstimmung mit der genetischen Verwandtschaft der Gruppen II-IV, die ein zusammenhängendes Glied des Stammbaums bilden. Wenn damit ein relativ rezenter gemeinsamer Ursprung der Sprache wahrscheinlich wird, ist aber damit weder für die Auffassung einer nur genetischen, noch für die einer nur sozialen Basis ein Beweis erbracht. Gemeinsamkeiten können auf ein biologisches wie auch auf ein kulturelles Erbe zurückgehen.
Abbildung 17: Die Einteilung der Menschheit in 7 Gruppen aufgrund eines genetischen Distanzmasses (aus Gould 1992: 38)
Abbildung 17: Die Einteilung der Menschheit in 7 Gruppen aufgrund eines genetischen Distanzmasses (aus Gould 1992: 38)
5.4 Wie ist die Sprache entstanden?
Zitierte Literatur