www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

4.1 Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre als Faktor der Evolution

Zuerst wenden wir uns dem Zusammenhang zwischen dem Verlauf der biologischen Evolution und dem Sauerstoffbudget der Erdatmosphäre zu (vgl. dazu Abbildung 12). Wie schon in 3.2.2 bemerkt, kann für die frühe Erdgeschichte eine sauerstofffreie, reduzierende Primordialatmosphäre rekonstruiert werden, die aus Wasserdampf, Methan, Ammoniak, Schwefelwasserstoff usw. bestand. Entsprechende Anhaltspunkte dafür liefern alte Sedimente, Gerölle einer Art, die sich in der Gegenwart von freiem Sauerstoff nicht hätten bilden können.152 Die ersten fossilen Spuren irdischen Lebens, die Bakterien oder bakterienähnliche Einzeller betreffen, gehen bis gegen 3,8 Mia. Jahre zurück. Angesichts der sauerstofffreien Atmosphäre muss es sich dabei um anaerob lebende Wesen gehandelt haben, wohl heterotrophe Organismen, die sich mittels Gärung von den Aminosäuren ernährten, die in den Gewässern unter dem Einfluss der energiereichen UV-Strahlung entstanden waren (vgl. 3.2.2). Selbst konnten sie sich vor der lethalen Strahlung schützen, indem sie in tieferen Wasserschichten lebten.153
Abbildung 12: Zunahme des Sauerstoffgehaltes der Erdatmosphäre im Laufe der Erdgeschichte, mit markanten Zeitpunkten der biologischen Evolution. PAL = "present atmospheric level", d.h. Gehalt in Bruchteilen des heutigen Gehaltes (nach Rahmann 1980: 140, und Flügel 1982: 239)
Abbildung 12: Zunahme des Sauerstoffgehaltes der Erdatmosphäre im Laufe der Erdgeschichte, mit markanten Zeitpunkten der biologischen Evolution. PAL = "present atmospheric level", d.h. Gehalt in Bruchteilen des heutigen Gehaltes (nach Rahmann 1980: 140, und Flügel 1982: 239)
Wie ist es dann im weiteren Verlauf der Erdgeschichte zu einer sauerstoffhaltigen Atmosphäre gekommen? Wie Rudolf Eichmann darlegt, kommen für die Produktion von Sauerstoff, da magmatische Prozesse aus der Lithosphäre keinen Sauerstoff freisetzen, nur nicht-geologische Vorgänge photochemischer Art in Frage, und zwar gibt es dabei eine anorganische und eine organische Variante.154 Die erste besteht in einer Spaltung von Wasserdampf durch UV-Strahlung in der höheren Atmosphäre. Dieser Effekt reicht aber nur für eine Erklärung von ca. 3 Prozent des Sauerstoffgehaltes der Atmosphäre. Weit wichtiger ist der organische photochemische Vorgang der Sauerstofferzeugung, der durch die Photosynthese grüner Pflanzen zustande kommt. Die ältesten autotrophen Lebewesen, die erstmals imstande waren, mit Hilfe des Sonnenlichtes körpereigene Substanz aus anorganischen Stoffen aufzubauen, waren die Blaualgen, deren Spuren sich bis um eine Zeit drei Mia. Jahre zurück zurückverfolgen lassen. Um diese Zeit muss also die Erzeugung von Sauerstoff, gewissermassen als Abfallprodukt aus der Photosynthese, eingesetzt haben. Für die älteren anaerob lebenden Organismen war der Sauerstoff ein Umweltgift, aber zunächst konnte er sich gar nicht bemerkbar machen, da er bei der Oxidation von reichlich vorhandenem Eisenoxid wieder aufgebraucht wurde.155 Erst allmählich ergab sich ein Überschuss an freiem Sauerstoff (ab einer Zeit, die etwa 2,8 Mia. Jahre zurückliegt), wobei aber die Zunahme evolutionär gesehen so langsam erfolgte, dass für die Organismen genügend Zeit zur Anpassung blieb.
Die langsame Sauerstoffanreicherung der Luft hatte aber auch die Wirkung, dass sich immer mehr Sauerstoffatome zu Ozon (O3) zusammenschlossen, das sich in höheren atmosphärischen Schichten ansammelte. Wegen seiner absorbierenden Wirkung entstand damit ein Schutzschild gegen die gefährliche UV-Strahlung und die Urlebewesen waren immer besser geschützt. Andererseits kam durch den Wegfall dieser Energiequelle die abiogene Produktion von organischen Stoffen zum Stillstand.156 In der Folge entwickelten sich die eukaryotischen Ein- und später Vielzeller, die sich in tierische und pflanzliche Organismen unterscheiden liessen (vor ca. 1,3 Mia. bzw. 700 Mio. Jahren). Auch die Möglichkeit der Entstehung der vielzelligen Lebewesen wird mit dem steigenden Sauerstoffniveau in Verbindung gebracht.157 Und erst, als der Einfluss der UV-Strahlung genügend weit reduziert war, konnte vor rund 400 Mio. Jahren auch eine Besiedlung des Festlandes, zunächst durch Pflanzen stattfinden.158

Anmerkungen

152
Nach Rudolf Eichmann 1982: 82-83.
153
Nach Eichmann 1982: 84.
154
Siehe Eichmann 1982: 83-84.
155
Siehe Rahmann 1980: 139-140. Diese Oxidierung wandelte Eisenoxid (FeO) in Eisenoxiduloxid (Fe3O4) um.
156
Vgl. Rahmann 1980: 139.
157
Nach der Graphik in Abb. 12 hätte zur Zeit der Entstehung der Vielzeller das Sauerstoffniveau erst 1 Prozent des heutigen Gehaltes erreicht gehabt. Leakey und Lewin 1995: 21, weisen aber auf neue Untersuchungen hin, die aufgrund von geochemischen Hinweisen belegen sollen, dass der Sauerstoffgehalt der Luft vorher relativ plötzlich angewachsen war und schon nahe bei dem heutigen Niveau lag. Sie finden es auch plausibel, dass mehrzellige Organismen nur unter diesen Umständen entstehen, bzw. dass umgekehrt bei einer wesentlich sauerstoffärmeren Atmosphäre nur Einzeller vorkommen konnten. Dazu ist zu sagen, dass die in Abbildung 12 gezeigte Kurve auf einer Modellrechnung beruht und dass frühere Autoren die Entwicklung von im Wasser lebenden Vielzellern unter sauerstoffarmen Verhältnissen als möglich erachteten. Es ist also denkbar, dass dieses Modell aufgrund von empirischen Befunden revidiert werden muss.
158
Nach Rahmann 1980: 141.