www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

3.3 Genügt eine materialistische Erklärung?

Das in 3.2.2 geschilderte Szenario entspricht den vorherrschenden Vorstellungen über die Entstehung des Lebens auf rein materialistischer Grundlage. Die in 3.2.3 besprochene Hypothese vom doppelten Ursprung ist dabei lediglich eine Variante, allerdings eine interessante Variante, da sie im Gegensatz zur üblichen Vorstellung steht, wonach die Evolution ein Feld ist, auf dem Konkurrenten gegeneinander antreten, und gewisse kooperative Prinzipien betont (wie z.B. bei der Endosymbionten-Hypothese). Zusammenfassend sagt die materialistische Perspektive, dass es eine chemische Evolution gab, die in zwingender Weise zur Entstehung von Leben führen musste, da unter den herrschenden natürlichen Bedingungen früher oder später selbstorganisierende Prozesse unter organischen Makromolekülen zu erwarten waren. Stellvertretend für viele Aussagen ähnlicher Art, die diese materialistische Haltung prägnant formulieren, können wir Simpson zitieren:
There is ... no reason to postulate a miracle. Nor is it necessary to suppose that the origin of the new processes of reproduction and mutation was anything but materialistic.3147
Damit aber die materialistische These glaubhaft ist, dass rein physikalisch-chemische Konstellationen zu zweckmässigen organischen Phänomenen führen können, muss eine uneingeschränkt wirkende natürliche Selektion angenommen werden. Nun haben wir in 2.1 Augros und Stanciu erwähnt, die glauben, dass die Darwinsche Theorie der Selektion nicht viel taugt. Trifft dies aber zu, dann müssen wir ganz neu überlegen, ob eine materialistische Sichtweise genügt, um die Entstehung des Lebens verstehen zu können. Augros und Stanciu sind der Meinung, dass sie nicht genügt.148 Dabei argumentieren sie mit der Unterscheidung von zwei Arten der Form, die Materie annehmen kann. Die erste Art entsteht durch einen Antrieb von innen, ganz nach den anerkannten Gesetzen von Physik und Chemie; sie gilt für die chemischen Elemente und Verbindungen. Z.B. haben Wasserstoff und Sauerstoff eine natürliche Neigung, Wasser zu bilden. Die zweite Art wird der dabei passiven Materie von aussen aufgedrückt, so wie dies bei allen menschlichen Artefakten der Fall ist. Zu welchem Typ gehört nun die organische Form, z.B. das erwachsene Pferd oder die ausgewachsene Eiche? Nun ist es offensichtlich, dass organische Formen nicht wie chemische Verbindungen - etwa das oben erwähnte Wasser - entstehen, sondern aufgrund von genetischen Instruktionen. Die Materie muss instruiert werden, und zwar Zelle für Zelle, und Protein für Protein, wie ein Pferd oder eine Eiche gebaut werden muss. Organische Formen sind also nicht das Produkt von physikalischen oder chemischen Notwendigkeiten, und auch der genetische Kode ist es nicht. Es gibt keine natürlichen oder notwendigen Verbindungen zwischen den von der Zelle hergestellten Proteinen und ihren Äquivalenten im DNS-Kode. Wenn es sie gäbe, wäre es unmöglich, dass es, wie dies der Fall ist, z.B. drei verschiedene Varianten zur Kodierung der Instruktion "Baustopp" gibt. Der genetische Kode ist vergleichbar einer Sprache, und deren Bedeutung beruht auf Konventionen, die in den Organismen selbst etabliert worden sind. Somit haben Organismen, so Augros und Stanciu, etwas gemeinsam mit künstlerischen Formen. Der hauptsächliche Unterschied besteht darin, dass die letzteren eine externe, die ersteren eine interne Ursache haben. "There is, therefore, in each living thing something analogous to human art."149
Die Experimente in chemischer Evolution von der Art, wie wir sie in 3.2.2 betrachtet haben, werden von Robert Shapiro nicht als schlüssigen Beweis dafür angesehen, dass Leben spontan entstehen konnte:
A mixture of simple chemicals, even one enriched in a few amino acids, no more resembles a bacterium than a small pile of real and nonsense words, each written on an individual scrap of paper, resembles the complete works of Shakespeare.150
Was produziert dann die organischen Formen, wenn die Materie von sich aus keine Neigung hat, solche zu bilden? Es muss eine aussermaterielle Ursache geben, was für uns nichts Aussergewöhnliches sein müsste, denn wir kennen eine derartige Ursache aus unserer eigenen Erfahrung, nämlich unseren Geist. Hinter den organischen Erscheinungen stehen somit, so folgern Augros und Stanciu, geistige Prinzipien: "Divine art - that is, nature - is more profound and more powerful than any human art because it constitutes the very essence of things."151

Anmerkungen

147
George Gaylord Simpson 1952, zitiert nach Augros und Stanciu 1987: 188.
148
Vgl. Augros und Stanciu 1987: 188 ff.
149
Augros und Stanciu 1987: 190.
150
Robert Shapiro 1986, 116, zitiert nach Augros und Stanciu 1987: 190.
151
Augros und Stanciu 1987: 191.