www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

2.1 Nur Zufall und Notwendigkeit?

Es war wohl die Hoffnung der Vertreter der synthetischen Theorie, mit ihr ein für alle Mal das evolutionäre Geschehen befriedigend erklärt zu haben. Gegenstimmen waren aber nie ganz verstummt, und sicher nicht zuletzt aus Anlass der wachsenden Umweltproblematik hat sich weit herum ein Unbehagen am Mainstream der modernen Biologie mit ihren Vorstellungen über die Evolution ergeben. Im Prinzip macht sich dieses wohl an verschiedenen Aspekten des Umstandes fest, dass die Evolutionstheorie von Darwin und ihre seitherige Weiterentwicklung einen in ein atomistisches Weltbild passenden mechanistischen Charakter hat. Nicht von ungefähr hat Wallace seinerzeit Darwin "Newton der Biologie" genannt.39 Es gibt eine Variabilität der Organismen infolge variabler Zusammensetzung der sie konstituierenden Elemente. Diesen zufälligen Änderungen im Bereich der Mikrowelt steht die natürliche Auslese als Notwendigkeit im Bereich der Makrowelt gegenüber. Die beiden Ebenen sind voneinander unabhängig, aber haben das miteinander gemeinsam, dass letztlich alle Erscheinungen des Lebendigen auf kausal analysierbare Prozesse rückführbar sind.
Die Kritik setzt genau an dieser Vorstellung eines Zusammenwirkens von Zufall und Notwendigkeit an. Bezüglich der Ebene der Notwendigkeit stellt sich die Frage: Hat der Faktor der natürlichen Auslese wirklich den rigorosen Charakter, der ihm in der Theorie zugeschrieben wird? Robert Augros und George Stanciu glauben, dass dies nicht der Fall ist und stellen die die Selektion betreffenden darwinistischen Annahmen in Frage und zwar wie folgt:40
1.
Es stimmt nicht, dass die Fortpflanzung immer mehr Nachkommen erzeugt als überleben können, womit der Überschuss der Selektion zum Opfer fällt. Die Grösse einer Population wird demnach nicht in erster Linie durch Räuberei, Hunger, Klima und Krankheit begrenzt, sondern eher durch verschiedene natürliche Hemmnisse, die die Zahl der Fortpflanzungsmöglichkeiten und die Zahl der Geburten beschränken.
2.
Es trifft somit auch nicht zu, dass infolge eines Überschusses eine harte Konkurrenz um das Überleben innerhalb und zwischen Arten entsteht. Dadurch, dass Organismen verschiedene ökologische Nischen besetzen und auch Dispersionsmechanismen zum Zuge kommen, wird der Wettbewerb auf ein Minimum reduziert.
3.
Und schliesslich kann es dann auch nicht wahr sein, dass infolge der starken Konkurrenz schon kleine Unterschiede in Merkmalsausprägungen einen selektiven Vorteil bieten können, so dass sich der ganze Evolutionsvorgang mit seinen Verzweigungen aus der allmählichen Akkumulation des Effektes kleiner Schritte ergibt (Annahme des sog. Gradualismus). Soweit beobachtbare Ergebnisse aus Züchtungen und Laborexperimenten vorliegen, haben die durch die Anhäufung von Mutationen bewirkten Veränderungen bisher nie eine Artgrenze überschritten. Wichtiger aber noch: Der Fossilienbeleg spricht gegen den Gradualismus, denn einerseits zeigen Arten eine Konstanz ihrer wesentlichen Form über längere Zeit, zum Teil über Jahrmillionen, andererseits tauchen über evolutionär gemessen sehr kurze Zeitabschnitte unvermittelt neue Formen auf, wobei Übergangsformen zwischen den alten und den neuen Organismen fehlen. Mit der Frage des Gradualismus und eines alternativen Konzeptes werden wir uns noch im nächsten Abschnitt (2.2) beschäftigen.
Damit soll nicht gesagt sein, dass die Selektion keine Rolle spielt, aber doch, dass ihre Wirkung nicht mit den darwinistischen Prämissen erklärt werden kann.
Die zweite Art von Kritik setzt entsprechend auf der Ebene des Zufalls an. Es stellen sich Fragen wie: Sind Mutationen wirklich zufällig? Wenn sie es sind, ist dem Zufall ein unlimitiertes Feld vorgegeben, oder aber eines, das durch gewisse Regeln begrenzt ist? Oder ist es allenfalls möglich, dass Mutationen zielgerichtet sein können? Letztlich kommen wir hier zur Frage von Sinn und Zweck in der biologischen Evolution. Gibt es das oder gibt es das nicht? Organismen sind nicht Maschinen, obschon sie von der modernen Biologie hauptsächlich so betrachtet werden, und deshalb geht es hier nach Arthur Koestler gewissermassen um die Suche nach dem "Gespenst in der Maschine".41 Er nimmt dabei Bezug auf den abschätzig gemeinten Gebrauch dieser Metapher durch den englischen, stark behavioristisch beeinflussten Philosophen Gilbert Ryle. Dieser stellte die gebräuchliche Unterscheidung von physischen und mentalen Ereignissen in Frage, indem er die letzteren "with deliberate abusiveness", wie er selbst sagte, in Frage stellte.42 Demgegenüber möchte Koestler wohl das "Gespenst" als einen wirklichen Geist verstehen, der einerseits vom Körper abhängt, andererseits aber auch für die Aktionen dieses Körpers verantwortlich ist.43 Mit dem Verharren des wissenschaftlichen Denkens und Tuns innerhalb eines mechanistischen Weltbildes wird es nicht möglich, die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Koestler dazu:
... in the course of the last century science has become dizzy with its own successes, that it has forgotten to ask the pertinent questions - or refused to ask them under the pretext that they are meaningless, and in any case not the scientist's concern.44
Auch mit der Frage von Zufall oder Zweck wollen wir uns noch in einem separaten Abschnitt (siehe 2.3) näher befassen.

Anmerkungen

39
Robert Augros und George Stanciu 1987: 156.
40
Vgl. Augros und Stanciu 1987: 157 ff.
41
"The Ghost in the Machine": Titel eines Buches von Arthur Koestler 1981.
42
Siehe Gilbert Ryle 1949, erwähnt in Koestler 1981: 202.
43
Siehe Koestler 1981: 202.
44
Koestler 1981: xii.