www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

1.3 Darwin und seine Evolutionstheorie

1859 publizierte Charles Darwin (1809-1882) sein Buch »The Origin of Species« (Die Entstehung der Arten)16, in dem er eine Theorie der biologischen Evolution formulierte, die bis heute als mehr oder weniger gültig angesehen wird. Damals war sie zunächst umstritten, sollte aber später im Rückblick als epochales Werk eingestuft werden. Dabei hat Darwin nie eine formelle Ausbildung in Biologie genossen.17 Er studierte zunächst, der Vorstellung seines Vaters entsprechend, Medizin, gab aber dieses Studium bald wieder auf, da er kein Herz dafür hatte, und sattelte auf Theologie um. Von jung auf hatte er sich aber für die Erscheinungen der Natur interessiert und immer Steine, Mineralien, Fossilien, Pflanzen und Insekten gesammelt. 1831 erhielt er eine Einladung, als Naturalist und Begleiter des Kapitäns Robert Fitzroy an einer zwei- bis dreijährigen Reise auf der H.M.S. Beagle teilzunehmen. Es wurden dann 5 Jahre daraus. Während dieser Zeit wurde ganz Südamerika mit einer Umrundung von Kap Horn umfahren. Ein mehrwöchiger Aufenthalt auf den Galapagos-Inseln 1835 hatte schliesslich eine Katalysator-Wirkung: Darwin war nun überzeugt, dass Organismen veränderlich sind und dass damit eine biologische Evolution stattfindet. Es fehlte ihm aber noch eine Theorie, die eine solche Evolution erklären würde. 1838 las er zufällig - zur reinen Unterhaltung, wie er später in seiner Autobiographie darlegte - "An Essay on the Principle of Population" des englischen Nationalökonomen und Historikers Thomas Robert Malthus (1766-1834)18. Malthus warnte vor den Folgen einer ungehemmten Bevölkerungswachstums, denn er vertrat die Ansicht, dieses hätte die Tendenz, einer geometrischen Progression zu folgen, während die Nahrungsmittelproduktion nur in Form einer linearen Folge gesteigert werden könne. Er legte weiter dar, es gebe zwei Arten von Hemmungen, die die Grösse der Bevölkerung innerhalb der durch die Ressourcen gesetzten Grenzen halten könnten, nämlich erstens von ihm positiv genannte, die zu einer Erhöhung der Sterberate führten (z.B. Hunger, Krankheit, Krieg), und zweitens präventive, verantwortlich für eine Erniedrigung der Geburtenrate (Geburtenkontrolle, Abtreibung, Ehelosigkeit usw.). Was Darwin an dieser Lektüre besonders interessierte, war der Grundtenor des Kampfes ums Dasein, von dem auch die Menschen nicht verschont sind. Und, wie er selbst berichtete, "it at once struck me that under these circumstances favourable variations would tend to be preserved, and unfavourable ones to be destroyed. The results of this would be the formation of new species."19 Darwin war mit diesem Gedanken auf das Prinzip der natürlichen Selektion gestossen und konnte nun seine Theorie formulieren. Dabei fiel ihm auch ein, dass ja die Domestikation unserer Haustiere zu einer Fülle verschiedener Formen geführt hat. Durch Züchtung werden wünschbare Merkmale ausgewählt, und Darwin dachte, dieses Prinzip liesse sich analog auf die Verhältnisse in natürlichen Lebensräumen übertragen, in denen dann die Umweltbedingungen die Rolle einer "züchtenden" Instanz übernehmen würden.20
Es sollte aber noch länger dauern, bis Darwin seine Einsichten der Öffentlichkeit anvertrauen würde. Zwar verfasste er schon anfangs der 40er-Jahre verschiedene Abhandlungen zum Thema, ohne sie aber zu publizieren. Was hielt ihn davon ab? Gould ist der Meinung, dass er sich zweifellos einerseits noch weiter dokumentieren und absichern wollte, dass er aber andererseits Angst davor hatte, seine Theorie publik zu machen.21 Dabei betrafen seine Bedenken nicht die Idee der Evolution an sich, denn diese war schon in weiten Kreisen verbreitet, sondern er dachte offenbar, die der Theorie zugrunde liegende materialistische Grundhaltung - alles, was existiert, hat eine materielle Grundlage, während geistige Phänomene Nebenprodukte sind - könnte als zu ketzerisch eingestuft werden. Das Zögern Darwins dauerte bis 1858, als er ein Paket des Zoologen Alfred Russell Wallace (1823-1913) aus Malaysia erhielt.22 Dieses enthielt ein Manuskript, zu dem der Autor gerne Darwins Kommentar gehabt hätte. Der letztere war überrascht, feststellen zu müssen, dass Wallace unabhängig von ihm zur praktisch gleichen Theorie gelangt war. In der Folge wurden bei einer Veranstaltung der Linnean Society of London zwei Papiere vorgelesen, das eine von Darwin, das andere von Wallace - die Autoren selbst waren nicht anwesend. Die Gesellschaft fand, dass die erste Priorität für die Idee der Evolution mittels natürlicher Auslese Darwin zukomme. Dieser wurde so zum wissenschaftlichen Star, während Wallace später fast in Vergessenheit geriet.
Welches sind nun die Grundzüge der Darwinschen Theorie?23 Sie gründet auf einem Zusammenwirken von Variation und Selektion. Der Ausgangspunkt sind die folgenden zwei Beobachtungen:
1.
Jeder Organismus erzeugt einen Überschuss an Nachkommen: Nur einige von ihnen überleben und haben Gelegenheit, sich ihrerseits fortzupflanzen.
2.
Die Individuen jeder Art zeigen bezüglich ihrer Merkmale eine gewisse Variationsbreite.
Daraus ergeben sich zwei Folgerungen:
·
Unter den variierenden Individuen einer Art gibt es welche, deren Eigenschaften gegenüber den vorherrschenden Umweltbedingungen vorteilhafter sind als diejenigen anderer Individuen (z.B. bessere Nahrungsausnützung, schnelleres Bewegungsvermögen, sorgfältigere Brutpflege) (vgl. Abbildung 1). Damit haben sie bessere Aussichten, überleben und sich fortpflanzen zu können (Darwin: survival of the fittest). Dies ist die Wirkung der natürlichen Auslese oder Selektion und zwischen den Individuen besteht somit ein Wettbewerb um das Überleben (Darwin: struggle for life24).
·
Falls die durch die Selektion begünstigten Eigenschaften erblich sind, werden sie also in der nächsten Generation mit grösserer Häufigkeit auftreten. So kann es zu einer schrittweisen Optimierung der Anpassung einer Art an ihre Umwelt kommen.
Abbildung 1: Die Darwinsche Vorstellung der Evolution des Halses der Giraffe. Der Ausgangszustand (links) ist eine Population mit variabler Halslänge: die natürliche Selektion begünstigt Individuen mit langem Hals, da diese leichter die hohen Blätter erreichen können. Im Endzustand (rechts) nach mehreren Generationen ist die Halslänge immer noch variabel, aber im Durchschnitt grösser geworden (aus Hasenfuss 1982: 309)
Abbildung 1: Die Darwinsche Vorstellung der Evolution des Halses der Giraffe. Der Ausgangszustand (links) ist eine Population mit variabler Halslänge: die natürliche Selektion begünstigt Individuen mit langem Hals, da diese leichter die hohen Blätter erreichen können. Im Endzustand (rechts) nach mehreren Generationen ist die Halslänge immer noch variabel, aber im Durchschnitt grösser geworden (aus Hasenfuss 1982: 309)
Was die Quelle der Variation betrifft: Zur Zeit von Darwin war der zur Variabilität führende biologische Mechanismus, die spontane Veränderung von Erbfaktoren durch Mutation, noch nicht bekannt. Zu dieser Erkenntnis gelangte man erst mit der Entstehung einer systematischen Genetik ab dem Ende des 19. Jahrhunderts.25 Als Ironie der Geschichte mag aber der folgende Umstand gelten: 1865 trat Gregor Johann Mendel (1822-1884), der botanisch interessierte Augustinerabt, mit den Ergebnissen seiner Vererbungsversuche an Erbsen an die Öffentlichkeit, ohne dabei aber während seiner Lebenszeit irgendwelche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es wird sogar gesagt, Mendel hätte ein Paket mit einem Manuskript an Darwin geschickt, aber bei diesem sei es ungeöffnet liegen geblieben ...

Anmerkungen

16
Charles Darwin 1984 (1859).
17
Zur Biographie von Darwin siehe Birx 1984: 98 ff., ausführlich in Johannes Hemleben 1979.
18
Thomas Robert Malthus 1993 (1798).
19
Aus Darwins Autobiographie, zitiert aus der Einführung von Geoffrey Gilbert zu Malthus' "An Essay ...", xxi.
20
Vgl. Siewing 1982: 116. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die Domestikation noch in keinem Fall zur Entstehung einer neuen Art geführt hat. Es hat nur Veränderungen innerhalb von Arten gegeben.
21
Siehe Gould 1992: 23-24.
22
Siehe Birx 1984: 98 ff.
23
Vgl. Ivar Hasenfuss 1982: 308-309.
24
Dieser Ausdruck ist mit "Kampf ums Dasein" ins Deutsche übersetzt worden, unglücklicherweise, wie Siewing 1982: 116, betont, denn er suggeriert, dass es einen allgemeinen Wettbewerb nicht nur innerhalb einer Art, sondern auch zwischen Arten gibt. Tatsächlich spielen natürlich Räuber-Beute-Verhältnisse, Raumkonkurrenz usw. für die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtes in einer Lebensgemeinschaft eine gewisse Rolle, aber "ein Kampf aller gegen alle mit Hilfe von Zähnen und Klauen findet nicht statt."
25
Vgl. Siewing 1982: 99, 116.