www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

3.2.2 Die materialistische Standardhypothese

Es wird nun vermutet, dass bei der Bildung lebender Systeme drei Phasen unterschieden werden können:124
1.
Im Anschluss an die Bildung der chemischen Elemente bei der Erkaltung der Erde findet zuerst eine schrittweise chemische Evolution statt, die aber schon zu organischen Verbindungen führt.
2.
Danach gibt es eine anfänglich immer noch abiotische Evolution von Molekülverbänden über die Zwischenstadien der sog. "Eobionten" oder "Protobionten" zu Zellen.
3.
Erst jetzt kann die eigentliche Evolution der lebenden Organismen einsetzen.
Die Existenz einer Phase 1 kann als wahrscheinlich betrachtet werden, wenn es gelingt, zu zeigen, dass eine abiogene Synthese von organischen Verbindungen wie Proteinen und Nukleinsäuren aus anorganischen Stoffen möglich ist. Bei entsprechenden Experimenten muss daran gedacht werden, dass zur Zeit der Entstehung des Lebens auf der Erde im Vergleich zu heute gänzlich andersartige natürliche Bedingungen herrschten. Insbesondere gab es eine sauerstofffreie Atmosphäre, die vornehmlich Wasserdampf, Ammoniak, Methan, Schwefelwasserstoff und geringe Mengen anderer Bestandteile enthielt.125 1953 führte Stanley L. Miller, damals Student bei Harold Urey, ein Experiment durch, das grossen Berühmtheitsgrad erreichen sollte. Er erzeugte in einer Glasapparatur eine künstliche Uratmosphäre (Ammoniak, Methan und Wasserdampf) und setzte sie für einige Stunden elektrischen Funken aus. Diese dienten zur Energiezufuhr, vergleichbar den elektrischen Entladungen bei urzeitlichen Gewittern.126 Danach analysierte er die im Kondensationswasser gelösten Stoffe und fand 19 verschiedene organische Substanzen, darunter Aminosäuren, bekanntlich Bausteine der Proteine.127 Seither sind viele weitere Experimente dieser Art durchgeführt worden. Dabei konnten nicht nur viele verschiedene niedermolekulare Substanzen, sondern tatsächlich auch Makromoleküle wie Nukleinsäuren, Proteine und Kohlenhydrate unter abiogenen Bedingungen gewonnen werden.128 Aus diesen Ergebnissen wird insgesamt die Frage einer chemischen Evolution bejahend beurteilt und zwar ist die Vorstellung die, dass über einen Zeitraum von etwa 1 Mia. Jahren sich die unter den urtümlichen natürlichen Bedingungen gebildeten organischen Stoffe in den Gewässern anreichern konnten - eine Zersetzung durch Bakterien konnte es ja damals noch nicht geben -, was schliesslich im Meer zur sog. "Ursuppe" führte, einer etwa 10%-igen Lösung.129 In diesem Gemisch konnten verschiedene Moleküle miteinander in Wechselwirkung treten und Möglichkeiten der Vereinigung gewissermassen durchprobieren, wobei früher oder später eine tatsächliche Vereinigung zu einem Gebilde höherer Ordnung zu erwarten war, dessen längerfristiges "Überleben" sodann eine Frage seiner chemischen Stabilität war. Aus derartigen Vorgängen ergibt sich ein Bild, das auch schon bei der chemischen Evolution die Prinzipien von Variation und Selektion umfasst.130
Mit der Entstehung organischer Verbindungen ist natürlich noch nicht geklärt, wie es dann zu den andauernden zirkulären Prozessen kommen konnte, die die Organisation eines lebenden Systems aufrecht zu erhalten vermögen. Manfred Eigen und Peter Schuster ist es gelungen, experimentell ein präbiotisches selbstorganisierendes Phänomen zu erzeugen, das sie "Hyperzyklus" nennen und ein Modell dafür sein könnte, wie die Situation an der Schwelle zu den eigentlichen Lebensvorgängen ausgesehen haben mag. Die grundlegende Struktur eines Hyperzyklus ist in Abbildung 10 dargestellt. Er besteht aus einer Reihe von sich selbst reproduzierenden Einzelzyklen, die sich mittels eines übergeordneten Zyklus gegenseitig verknüpfen. Damit wird die vorher bestehende Konkurrenz zwischen den Einzelzyklen in eine Kooperation umgewandelt.131 Materiell-konkret werden die Einzelzyklen im genannten experimentell erzeugbaren System durch Nukleinsäuremoleküle (den heutigen Genen vergleichbar) wahrgenommen, die in sich die Instruktion zur Selbstreproduktion via ihr Negativ enthalten. Gleichzeitig produzieren sie auch ein Enzym (Proteinmolekül), das in katalytischer Manier bei der Herstellung des nächsten Nukleinsäuremoleküls mithilft. Insgesamt entsteht dadurch ein geschlossener Kreis.132
Abbildung 10: Sich gegenseitig konkurrenzierende Einzelzyklen in der Form von sich selbst reproduzierenden Molekülen (oben) schliessen sich via eine zirkulär wirkende gegenseitige katalytische Unterstützung kooperativ zu einem Hyperzyklus zusammen (nach Eigen und Winkler 1975: 260)
Abbildung 10: Sich gegenseitig konkurrenzierende Einzelzyklen in der Form von sich selbst reproduzierenden Molekülen (oben) schliessen sich via eine zirkulär wirkende gegenseitige katalytische Unterstützung kooperativ zu einem Hyperzyklus zusammen (nach Eigen und Winkler 1975: 260)
Auch die oben genannte zu Zellen führende zweite Phase der Entwicklung glaubt man aufgrund von Experimenten plausibel erklären zu können. So ist es gelungen, in wässrigen Lösungen von abiogenen oder biogenen Molekülen verschiedene Arten von formbeständigen kugelartigen Gebilden (z.B. sog. Mikrosphären) von einer Grösse, die mit natürlichen Zellen vergleichbar ist, mit membranartigen Abgrenzungen und osmotischen Eigenschaften zu erzeugen. Es wird vermutet, dass solche Gebilde gute Modelle für die sog. Eobionten sind, Urlebewesen, die sich heterotroph aus der Ursuppe ernährten und sich durch Knospung vermehren konnten.133 Es gibt eine ganze Reihe von 3 und mehr Mia. Jahre alten Mikrofossilien, die an verschiedenen Orten der Erde gefunden worden sind, die solche Urlebewesen darstellen könnten.134

Anmerkungen

124
Siehe Rahmann 1980: 118.
125
Vgl. Rahmann 1980: 57.
126
Andere vermutlich wesentliche Energiequellen in dieser Urzeit waren radioaktive Strahlung, Wärmeenergie und vor allem auch die UV-Strahlung, die infolge des damaligen Fehlens eines Ozonschirms ungehindert auf die Erdoberfläche einfiel (Rahmann 1980: 78).
127
Siehe Rahmann 1980: 78-79.
128
Siehe die ausführliche Übersicht bei Rahmann 1980: 81 ff. Die Aussage, es sei in Experimenten gelungen, unter abiogenen Bedingungen Nukleinsäuren und auch Proteine zu gewinnen (Rahmann 1980: 96), steht allerdings im Widerspruch zu anderen Quellen, die sagen, dies sei bisher nicht möglich gewesen (so z.B. Robert Augros und George Stanciu 1987: 190).
129
Rahmann 1980: 98.
130
Vgl. Heumann 1982, 129-130, und Rahmann 1980: 88.
131
Vgl. Manfred Eigen und Ruthild Winkler 1975: 260.
132
Vgl. dazu Eigen und Winkler 1975: 259 f., Erwin Jantsch 1984: 150 f. und Rahmann 1980: 124 ff.
133
Siehe Rahmann 1980: 98 ff.
134
Rahmann 1980: 64 f., daselbst auch Abbildungen.