Die Existenz einer Phase 1 kann als wahrscheinlich betrachtet werden, wenn es gelingt, zu zeigen, dass eine abiogene Synthese von organischen Verbindungen wie Proteinen und Nukleinsäuren aus anorganischen Stoffen möglich ist. Bei entsprechenden Experimenten muss daran gedacht werden, dass zur Zeit der Entstehung des Lebens auf der Erde im Vergleich zu heute gänzlich andersartige natürliche Bedingungen herrschten. Insbesondere gab es eine sauerstofffreie Atmosphäre, die vornehmlich Wasserdampf, Ammoniak, Methan, Schwefelwasserstoff und geringe Mengen anderer Bestandteile
enthielt.125Vgl. Rahmann 1980: 57.
1953 führte Stanley L. Miller, damals Student bei Harold Urey, ein Experiment durch, das grossen Berühmtheitsgrad erreichen sollte. Er erzeugte in einer Glasapparatur eine künstliche Uratmosphäre (Ammoniak, Methan und Wasserdampf) und setzte sie für einige Stunden elektrischen Funken aus. Diese dienten zur Energiezufuhr, vergleichbar den elektrischen Entladungen bei urzeitlichen
Gewittern.126Andere vermutlich wesentliche Energiequellen in dieser Urzeit waren radioaktive Strahlung, Wärmeenergie und vor allem auch die UV-Strahlung, die infolge des damaligen Fehlens eines Ozonschirms ungehindert auf die Erdoberfläche einfiel (Rahmann 1980: 78).
Danach analysierte er die im Kondensationswasser gelösten Stoffe und fand 19 verschiedene organische Substanzen, darunter Aminosäuren, bekanntlich Bausteine der
Proteine.127Siehe Rahmann 1980: 78-79.
Seither sind viele weitere Experimente dieser Art durchgeführt worden. Dabei konnten nicht nur viele verschiedene niedermolekulare Substanzen, sondern tatsächlich auch Makromoleküle wie Nukleinsäuren, Proteine und Kohlenhydrate unter abiogenen Bedingungen gewonnen
werden.128Siehe die ausführliche Übersicht bei Rahmann 1980: 81 ff. Die Aussage, es sei in Experimenten gelungen, unter abiogenen Bedingungen Nukleinsäuren und auch Proteine zu gewinnen (Rahmann 1980: 96), steht allerdings im Widerspruch zu anderen Quellen, die sagen, dies sei bisher nicht möglich gewesen (so z.B. Robert Augros und George Stanciu 1987: 190).
Aus diesen Ergebnissen wird insgesamt die Frage einer chemischen Evolution bejahend beurteilt und zwar ist die Vorstellung die, dass über einen Zeitraum von etwa 1 Mia. Jahren sich die unter den urtümlichen natürlichen Bedingungen gebildeten organischen Stoffe in den Gewässern anreichern konnten - eine Zersetzung durch Bakterien konnte es ja damals noch nicht geben -, was schliesslich im Meer zur sog. "Ursuppe" führte, einer etwa 10%-igen
Lösung.129Rahmann 1980: 98.
In diesem Gemisch konnten verschiedene Moleküle miteinander in Wechselwirkung treten und Möglichkeiten der Vereinigung gewissermassen durchprobieren, wobei früher oder später eine tatsächliche Vereinigung zu einem Gebilde höherer Ordnung zu erwarten war, dessen längerfristiges "Überleben" sodann eine Frage seiner chemischen Stabilität war. Aus derartigen Vorgängen ergibt sich ein Bild, das auch schon bei der chemischen Evolution die Prinzipien von Variation und Selektion
umfasst.130Vgl. Heumann 1982, 129-130, und Rahmann 1980: 88.
Mit der Entstehung organischer Verbindungen ist natürlich noch nicht geklärt, wie es dann zu den andauernden zirkulären Prozessen kommen konnte, die die Organisation eines lebenden Systems aufrecht zu erhalten vermögen. Manfred Eigen und Peter Schuster ist es gelungen, experimentell ein präbiotisches selbstorganisierendes Phänomen zu erzeugen, das sie "Hyperzyklus" nennen und ein Modell dafür sein könnte, wie die Situation an der Schwelle zu den eigentlichen Lebensvorgängen ausgesehen haben mag. Die grundlegende Struktur eines Hyperzyklus ist in Abbildung 10 dargestellt. Er besteht aus einer Reihe von sich selbst reproduzierenden Einzelzyklen, die sich mittels eines übergeordneten Zyklus gegenseitig verknüpfen. Damit wird die vorher bestehende Konkurrenz zwischen den Einzelzyklen in eine Kooperation
umgewandelt.131Vgl. Manfred Eigen und Ruthild Winkler 1975: 260.
Materiell-konkret werden die Einzelzyklen im genannten experimentell erzeugbaren System durch Nukleinsäuremoleküle (den heutigen Genen vergleichbar) wahrgenommen, die in sich die Instruktion zur Selbstreproduktion via ihr Negativ enthalten. Gleichzeitig produzieren sie auch ein Enzym (Proteinmolekül), das in katalytischer Manier bei der Herstellung des nächsten Nukleinsäuremoleküls mithilft. Insgesamt entsteht dadurch ein geschlossener
Kreis.132Vgl. dazu Eigen und Winkler 1975: 259 f., Erwin Jantsch 1984: 150 f. und Rahmann 1980: 124 ff.