www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

4.2 Die Gaia-Hypothese

"Die Atmosphäre wirkt ... wie ein Puffersystem, in dem die entstehende Wärme gespeichert und die Abstrahlung so geregelt wird, dass keine extremen Temperaturdifferenzen entstehen," schreibt Jantsch. Und weiter: "Könnte es also nicht sein, dass die Biosphäre gemeinsam mit der gesamten Atmosphäre als eine Art autopoietisches System wirkt, das sich selbst organisiert und regelt?"159 Und er kommt dann auf die 1974 erstmals publizierte "geniale Idee" von Lynn Margulis, die wir schon von der Endosymbionten-Hypothese (vgl. 3.2.3) her kennen, und von James Lovelock, Chemiker, zu sprechen, die genau dies vermutet.160 In der Folge war dann von der Gaia-Hypothese die Rede, womit an Gaia, die Erdgöttin der griechischen Mythologie erinnert werden soll.
Die Atmosphäre ist bezüglich ihrer chemischen Zusammensetzung in einem Ungleichgewichtszustand, schafft aber einen "steady state", indem sie so funktioniert wie eine Badewanne, aus der Wasser ebenso schnell abläuft wie es in sie zugeführt wird. Solche Zustände sind aber typisch für Selbstorganisationsphänomene. Ohne die Anwesenheit von Leben hätte die Entwicklung der irdischen Atmosphäre einen ziemlich anderen Verlauf genommen.161 Am auffallendsten aber und damit eines der zwingenderen Argumente für die Existenz von Gaia ist die Temperaturregelung.162 Nach Schätzungen hat die Sonneneinstrahlung seit der Entstehung des Lebens auf der Erde um rund 30 Prozent zugenommen. Sofern die Temperaturen auf der Erde nur davon abhängen würden, müsste diese vor zwei Mia. Jahren eine gefrorene Oberfläche gehabt haben. Aus Sedimentgesteinen ist aber ersichtlich, dass dies nicht der Fall war. Tatsächlich war das irdische Klima während der letzten drei Mia. Jahren nie, auch nicht für kurze Zeit, für Leben völlig ungeeignet. Die Ozeane waren nie gefroren und sie haben auch nie gesiedet. Und die Eiszeiten waren bloss regionale Ereignisse; 70 Prozent der Erdoberfläche blieben davon unberührt. Die Durchschnittstemperatur bewegte sich immer innerhalb eines engen Bereiches von 10° C bis 20° C (vgl. Abbildung 13). Hätten nur abiologische Faktoren eine Rolle gespielt (solarer Energieausstoss, Wärmegleichgewicht der Atmosphäre und der Erdoberfläche) wären nach oben oder nach unten extreme Temperaturen möglich gewesen, und damit wäre jegliches Leben vernichtet worden. Wie wir wissen, spielt heute das CO2 die Rolle eines Treibhausgases. Es ist zu vermuten, dass unter früheren atmosphärischen Verhältnissen Ammoniak eine entsprechende Funktion hatte.
Abbildung 13: Verlauf von Durchschnittstemperaturen der Erde: Der tatsächliche Verlauf (schattierter Balken) wird mit Maximum (A), Mittel (B) und Minimum (C) verglichen, die sich in einer abiotischen Situation etwa eingestellt hätten. Dabei ist zu beachten, dass auch schon mit dem Verlauf B das irdische Leben hätte ausgelöscht werden bzw. gar nie entstehen können (aus Lovelock 1982: 40)
Abbildung 13: Verlauf von Durchschnittstemperaturen der Erde: Der tatsächliche Verlauf (schattierter Balken) wird mit Maximum (A), Mittel (B) und Minimum (C) verglichen, die sich in einer abiotischen Situation etwa eingestellt hätten. Dabei ist zu beachten, dass auch schon mit dem Verlauf B das irdische Leben hätte ausgelöscht werden bzw. gar nie entstehen können (aus Lovelock 1982: 40)
Wenn die Gaia-Hypothese zutrifft, ist sie ein grossmassstäbiges Beispiel dafür, dass Organismen tatsächlich ihre Umwelt zu einem guten Teil selbst schaffen, ganz entgegen der darwinistischen Selektionstheorie.163 Auf alle Fälle ist sie ein hervorragendes Beispiel für eine relationale Perspektive, die das Thema der Koevolution in den Blick nimmt.

Anmerkungen

159
Jantsch 1984: 168. Zur Idee autopoietischer Systeme siehe 2.5.2.
160
Margulis und James Lovelock 1974.
161
Siehe Jantsch 1984: 169.
162
Vgl. Lovelock 1982: 37 ff. und Jantsch 1984: 173.
163
Siehe Jantsch 1984: 173.