www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

3.1 Verschiedene Ursprungshypothesen

Nach einer früheren Vorstellung, die bis auf Aristoteles zurückgeht und sich im wesentlichen bis um 1850 hielt, kommt Leben durch Urzeugung zustande, d.h. durch die spontane Erzeugung von einfachen Lebewesen aus unbelebter Materie wie Schlamm, Unrat oder Kuhmist. Im Mittelalter glaubte man auch, gewisse Tiere wie z.B. Gänse und Schafe würden ähnlich wie pflanzliche Früchte an Bäumen heranreifen und nach ihrem Fall auf den Boden sich fortbewegen. Daraus ist erklärbar, dass etwa Gänsefleisch aufgrund seiner "pflanzlichen Herkunft" an Fastentagen als Nahrung zugelassen war. 1864 gelang es dann dem französischen Chemiker und Biologen Louis Pasteur (1822-1895) mit genauen Sterilisationsexperimenten die Urzeugungstheorie zu widerlegen.111 Aber irgendwie muss ja das Leben trotzdem entstanden sein. Abgesehen von der Vorstellung eines übernatürlichen Schöpfungsaktes gibt es zwei Möglichkeiten, die naturwissenschaftlich diskutierbar sind:112
1.
Das Leben stammt aus dem Weltraum, es gelangte in primitiver Form auf die Erde, breitete sich hier dann aus und entwickelte sich weiter.
2.
Das Leben entwickelte sich auf der Erde aus der unbelebten Materie. Dabei gibt es wiederum zwei Varianten: a) Es entstand völlig zufällig und spontan durch einen einmaligen Urzeugungsprozess aus dem Unbelebten; b) Es geht evolutiv, d.h. gewissermassen zwangsläufig aus einem chemischen Entwicklungsprozess hervor, bei dem nachvollziehbare gesetzmässig-kausale Zusammenhänge eine Rolle gespielt haben. Das heisst dann auch, dass er, könnte er wiederholt werden, bei gleichen Bedingungen in sehr ähnlicher Weise erneut ablaufen würde. Es heisst ferner, dass extraterrestrisches Leben auf anderen Planeten des Universums mit vergleichbarer Geschichte erwartet werden darf.113
Die erste Möglichkeit wird seit dem letzten Jahrhundert als "Panspermie-Theorie" vertreten und ist in neuerer Zeit vom englischen Astronomen Fred Hoyle wieder aufgegriffen worden, der der Meinung ist, einzellige Mikroorganismen seien aus dem Weltall zu uns gelangt.114 "Das Leben ist ... ein kosmologisches Phänomen, ist vielleicht der Grundgedanke des Universums überhaupt," 115 sagt er. Das wiederum gibt dem Wissenschaftler und Science Fiction-Schriftsteller Isaac Asimov Anlass zur Bemerkung: "Es ist nur recht und billig, hinzuzufügen, dass fast niemand diese Spekulation ernst nimmt."116 Hoyle beruft sich auf das Faktum, dass in Meteoriten organische Bestandteile, z.B. Aminosäuren gefunden worden sind, auch darauf, dass die Anwesenheit organischer Moleküle in der interstellaren Materie nachgewiesen worden ist. Die Bedeutung dieser Befunde ist aber umstritten; die Existenz organischer Verbindungen ist kein Beweis für Lebensvorgänge, diese können auch unter gewissen Bedingungen durch rein abiotische Prozesse entstanden sein (vgl. mit 3.2.2).117
Hinsichtlich der zweiten Möglichkeit ist eine eindeutige Antwort bezüglich der Varianten a und b nicht möglich. Trotzdem darf von 2a wohl abgesehen werden, denn für das zufällige Zusammenkommen der richtigen Aminosäuren zum Aufbau der für das Leben nötigen Proteine ist die Wahrscheinlichkeit praktisch Null. Damit bleibt 2b. Hier geht es um die Vorstellung, dass ein langsamer, aber gerichteter Prozess der Selbstorganisation molekularer Systeme zur lebenden Ordnung möglich ist, die sich durch physikalische und chemische Gesetzmässigkeiten ausreichend erklären lässt. Allerdings ist ein solches Szenario weder paläontologisch noch palöochemisch überprüfbar; insbesondere ist natürlich auch der Zeitfaktor nicht reproduzierbar. Es muss stattdessen versucht werden, mit experimentellen Untersuchungen die Plausibilität einzelner Schritte zu erhärten und ihre Wahrscheinlichkeit zu berechnen.118 Im folgenden Abschnitt betrachten wir einige wichtige Aspekte der obigen Hypothese 2b.

Anmerkungen

111
Vgl. Hinrich Rahmann 1980: 3-7.
112
Nach Rahmann 1980: 21.
113
Siehe Wolfram Heumann 1982: 133.
114
Siehe Fred Hoyle 1984, v.a. Kap. 3-6, siehe auch Rahmann 1980: 22.
115
Hoyle 1984: 161.
116
Isaac Asimov 1986: 134.
117
Vgl. Rahmann 1980: 22-25.
118
Vgl. Rahmann 1980: 71-72, und Heumann 1982: 129.