www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

2.5.4 Die Theorie der "morphischen Felder" von Rupert Sheldrake104

Sheldrake ist ein englischer Biochemiker und Zellbiologe. Er hat eine spekulative Theorie über die Existenz von immateriellen Feldern entwickelt - er nennt sie morphogenetische oder morphische Felder -, die die Fähigkeit haben, sowohl auf anatomische Baupläne wie auch auf Verhaltensweisen formgebend einzuwirken. Eine solche Idee stellt für Vertreter der Mainstream-Biologie zweifellos eine ungeheure Provokation dar; tatsächlich wurde auch sein erstes Buch, "das schöpferische Universum", vom Wissenschaftsmagazin "Nature" als Top-Kandidat für eine Bücherverbrennung bezeichnet! Die postulierten morphischen Felder haben folgende Eigenschaften:105
1.
Sie sind selbstorganisierende Ganzheiten.
2.
Sie besitzen sowohl einen räumlichen als auch einen zeitlichen Aspekt und organisieren räumlich-zeitliche Muster.
3.
Durch Anziehung führen sie das unter ihrem Einfluss stehende System zu bestimmten Formen und Aktivitätsmustern hin.
4.
Die morphischen Felder verschiedener Ebenen sind ineinander verschachtelt.
5.
Sie sind Wahrscheinlichkeitsstrukturen, ihr organisierender Einfluss besitzt Wahrscheinlichkeitscharakter.
6.
Sie enthalten ein Gedächtnis, das auf der Eigenresonanz einer morphischen Einheit mit ihrer eigenen Vergangenheit oder der Resonanz mit den morphischen Feldern aller früheren Systeme ähnlicher Art beruht.
In Abbildung 8 vergleicht Sheldrake einige Theorien der Formenbildung miteinander: Seine eigene, die platonische, die aristotelische (vgl. 2.3) und die moderne naturwissenschaftliche (mechanistische).
Der Erinnerungsinhalt eines morphischen Feldes ist kumulativer Natur. Das heisst bei jeder Wiederholung verstärken sich die unter Punkt 6 oben genannten Resonanzen und führen allmählich zu Gewohnheiten. Wenn sich solche Wiederholungen über lange Zeiträume hinziehen, werden die davon betroffenen Formenbildungen so stark habitualisiert sein, dass sie mit einer praktischen Wahrscheinlichkeit von 1 eintreten. Sie machen dann den Anschein, sie stellten ewige Naturgesetze dar. Mit andern Worten: Sheldrake stellt somit die ketzerische Frage, ob nicht vielleicht die sog. Naturgesetze gar nicht unveränderlich sind und lediglich durch einen Prozess der geschilderten Art zu dem geworden sind, wie sie heute erscheinen. Er meint:
Der Kosmos erscheint uns nun eher als wachsender und sich entwickelnder Organismus denn als ewige Maschine, und Gewohnheiten könnten in solch einem Kosmos ganz einfach natürlicher sein als unwandelbare Gesetze.106
Die Frage bleibt natürlich, wie es dann überhaupt zur Bildung neuer Felder kommen kann, zu einem Zeitpunkt, da die betreffende Resonanz noch Null ist. Hier sind schöpferische Sprünge notwendig, und diese sind möglich, da die Evolution grundsätzlich auf schöpferischen Prinzipien beruht, die der Natur selbst innewohnen.107
Abbildung 8: Diagrammatischer Vergleich verschiedener Theorien der Formenbildung (aus Sheldrake 1990: 147)
Abbildung 8: Diagrammatischer Vergleich verschiedener Theorien der Formenbildung (aus Sheldrake 1990: 147)
Sheldrake selbst würde nicht sagen, seine Theorie sei spekulativ, denn er untermauert sie mit einer Fülle von empirischen Tatsachen, die nach seiner Meinung nur mit der Existenz morphischer Felder erklärbar sind. Hier seien zwei Beispiele genannt. Das erste betrifft den Bereich der organischen Baupläne und bezieht sich auf das schon in 2.2 genannte rätselhafte Phänomen der parallelen Evolution zu praktisch identischen Formen bei den Plazenta- und den Beuteltieren.108 Das zweite Beispiel betrifft ein Verhaltensexperiment mit Ratten, in dem 32 Generationen lang ihre Lernfähigkeit bezüglich einer bestimmten Aufgabe untersucht wurde. Es ergab sich über die Generationen hinweg die deutliche Tendenz zu einem zunehmend schnelleren Lernen, ein lamarckistischer Effekt!109 Tatsächlich, so meint Sheldrake, werde der Einfluss der Gene bei der Vererbung überschätzt. Die Tatsache, dass die Anwesenheit eines mutierten Gens zu Formunterschieden führe, beweise noch nicht, dass die Gene selbst die Form bestimmten. Zur Verdeutlichung seiner Vorstellung verwendet er die Analogie eines Radios:
Eine 'Mutation' in der Abstimmungseinrichtung für die Empfangsfrequenz könnte dazu führen, dass wir einen ganz anderen Sender empfangen als zuvor. ... Die Tatsache aber, dass eine Mutation in den Komponenten dazu führen kann, dass unser Radio etwas ganz anderes von sich gibt, beweist keineswegs, dass die Laute, die wir hören, durch die Komponenten des Radios determiniert oder programmiert sind. Sie sind notwendig für den Empfang des Programms, doch die Klänge selbst haben ihren Ursprung in einer Sendestation und werden elektromagnetisch übertragen.110

Anmerkungen

104
Siehe Rupert Sheldrake 1985 und 1990.
105
Vgl. Sheldrake 1990: 382-383.
106
Sheldrake 1990: 12.
107
Siehe Sheldrake 1990: 388.
108
Vgl. Sheldrake 1990, 355.
109
Vgl. Sheldrake 1984, 182.
110
Sheldrake 1990, 120.