www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

2.5.2 Die Autopoietische Systemtheorie von Humberto Maturana und Francisco Varela84

Maturana und Varela sind aus Chile stammende Biologen; der letztere ist heute als Neurobiologe in Paris tätig. Sie haben einen weitergehenden systemtheoretischen Ansatz entwickelt, der mit zirkulären Kausalitätsverhältnissen operiert. Und zwar wird damit zum Ausdruck gebracht, dass sich ein biologischer Organismus selbst produziert, denn Autopoiese bedeutet Selbstproduktion:85 Es gibt Prozesse (Netzwerke von Relationen), die die Teile des Systems produzieren. Das Verhalten dieser Teile ihrerseits ist so, dass sie andauernd diese Prozesse regenerieren und realisieren. Betrachten wir die biologische Zelle, die ein autopoietisches Systems 1.Ordnung darstellt: Aus einer molekularen Suppe hebt sich eine Zelle dadurch heraus, dass sie Grenzen definiert. Dies geschieht durch molekulare Produktionsvorgänge, und diese werden ihrerseits erst durch die Existenz von Grenzen möglich gemacht. Chemische Umwandlungen und physikalische Grenzen bedingen einander also wechselseitig. Es besteht somit eine völlige Zirkularität zwischen Produzent und Produkt, eine Situation, die Varela gerne mit der Zeichnung von M.C. Escher symbolisiert, auf der sich zwei Hände gegenseitig selbst zeichnen (siehe Abbildung 6). Ein autopoietisches System ist in einem organisatorischen Sinne ein geschlossenes System,86 sog. "operational geschlossen", d.h. es empfängt keinen für seine Organisation notwendigen informatorischen Input aus der Umwelt und ist damit autonom. Mit Organisation ist das Netzwerk der Relationen zwischen den Komponenten in einem abstrakten Sinne gemeint, d.h. Materialität wird impliziert, kommt aber in der Beschreibung der Organisation explizit nicht vor. Ein autopoietisches System ist robust, indem es in einem weit gefassten Bereich Störungen aus der Umwelt, Perturbationen genannt, so verarbeiten kann, dass seine Organisation aufrecht erhalten bleibt. Erst wenn die Geschlossenheit des Systems unterbrochen wird, verschwindet es als eine Einheit. Perturbationen können aber auch eine positive Bedeutung haben: Treten sie wiederholt auf, z.B. als Interaktion zwischen zwei Organismen, können sie den Charakter einer sog. strukturellen Kopplung annehmen, die dann gegenseitig die Autopoiese der beteiligten Systeme unterstützt; aus der Interaktion kann z.B. eine symbiotische Beziehung werden (vgl. Abbildung 7).87
Abbildung 6: "Die zeichnenden Hände" von M.C. Escher (aus Maturana und Varela 1987: 30)
Abbildung 6: "Die zeichnenden Hände" von M.C. Escher (aus Maturana und Varela 1987: 30)
Abbildung 7: Symbolische Diagramme für autopoietische Systeme: Links ein einzelnes in Interaktion mit der Umwelt, rechts zwei derartige Systeme, die auch miteinander interagieren. Wenn sich eine solche Interaktion stabilisiert, kann sie zu einer strukturellen Kopplung werden (aus Maturana und Varela 1987: 84)
Abbildung 7: Symbolische Diagramme für autopoietische Systeme: Links ein einzelnes in Interaktion mit der Umwelt, rechts zwei derartige Systeme, die auch miteinander interagieren. Wenn sich eine solche Interaktion stabilisiert, kann sie zu einer strukturellen Kopplung werden (aus Maturana und Varela 1987: 84)
In einem vielzelligen Organismus schliessen sich die einzelnen Zellen zu einer übergeordneten metazellulären Organisation zusammen und bilden damit eine autopoietische Einheit 2.Ordnung. Die Autonomie, über die sie verfügen, erlaubt ihnen, ihre Anpassung an die Umwelt gewissermassen selbst zu erzeugen. Diese Vorstellung ist eine Kampfansage an diejenige einer Selektion in darwinistischem Stil. Es gibt nicht Lebewesen, die besser oder schlechter angepasst sind, sondern Lebewesen sind im Prinzip, da sie ja leben, angepasst; es gibt nur eine Existenz des Erlaubten. Es sind viele Strukturvarianten möglich, die zu lebensfähigen Organismen führen.88 Das Prinzip der natürlichen Auslese macht einem Prinzip Platz, das die Autoren "natürliches Driften" nennen.89 Dieses beinhaltet, dass eine Art in der Weise zu einer Stammesgeschichte kommt, dass sie selbst ihren evolutiven Weg sucht, wobei dieser nicht vorgezeichnet ist, aber auch nicht beliebig sein kann. In jedem Moment der Evolution gibt es nur eine limitierte Anzahl von möglichen Bahnen, denen die Entwicklung folgen kann. Zur Erklärung verwenden Maturana und Varela die anschauliche Metapher eines Experimentators, der auf einem spitzgipfligen Berg sitzt und immer wieder Wassertropfen in die gleiche Richtung wirft, um dann ihre Abflussbahnen zu verfolgen. Diese werden bei Wiederholung in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren unterschiedlich ausfallen. Mal treffen die Tropfen etwas anders auf, mal treffen sie beim Ablaufen auf ein Hindernis, mal werden sie vom Wind beeinflusst usw.
Varela selbst betrachtet den autopoietischen Ansatz als "mechanistisch", d.h. es werden keine Kräfte oder Prinzipien angenommen, die nicht im physikalischen Universum vorkommen.90 Aber das Interesse gilt nicht den Merkmalen der materiellen Komponenten, sondern den Beziehungen und Prozessen, die von diesen Komponenten bewirkt werden, denn das zu erklärende Problem ist ja die lebende Organisation. Damit heisst das dann aber doch, dass sich die Theorie der Autopoiese aus dem Bereich des rein Materiellen wegbewegt. Im Sinne des kybernetischen Systemdenkens können wir sagen, dass bei einer autopoietischen Organisation die Information den Primat vor Energie und Materie hat, d.h. diese Art von Organisation ist nicht aus den Prinzipien der Physik ableitbar. Dieser Umstand zeigt sich auch in der Schwierigkeit, ein autopoietisches System in mathematischer Formulierung zu modellieren. Zwar kann mit Differentialgleichungen organisatorische Geschlossenheit dargestellt werden,91 aber dies geht nur für das molekulare Niveau, nicht für die informatorischen Prozesse. Deshalb hat die autopoietische Systemtheorie dann auch einen wenig formalisierten, hauptsächlich qualitativen Charakter. Insgesamt soll mit ihr die Eigenkreaitivität der Organismen betont werden, aber die postulierte Stärke der Abgrenzung gegenüber der Umwelt ist möglicherweise übertrieben.92 Die Annahme einer grundsätzlichen Autonomie der Lebewesen kann sich philosophisch gesehen bezüglich der heutigen Umweltsituation positiv oder negativ auswirken: Positiv, indem vermittelt wird, dass sich Organismen nicht so wie Maschinen manipulieren lassen, negativ, indem bei Schädigung der Natur deren Regenerationskapazität überschätzt werden kann.

Anmerkungen

84
Wichtige Komponenten einer autopoietischen Systemtheorie finden sich in Francisco J. Varela 1979. Die beste Darstellung dieser Theorie im Zusammenhang mit Fragen der Evolution findet sich aber wohl in Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela 1987. Für einen allgemeinen Überblick siehe auch Dieter Steiner 1989.
85
Siehe Varela 1979: 12 ff. und Maturana und Varela 1987: 55 ff. Die autopoietische Systemtheorie stellt einen Spezialfall der Selbstorganisationstheorien dar. Der Begriff der Autopoiese ist aus den griechischen Wörtern autos = selbst und poiein = produzieren abgeleitet.
86
Im energetischen und materiellen Sinne dagegen ist ein Lebewesen natürlich ein offenes System.
87
Vgl. Maturana und Varela 1987: 85 ff.
88
Vgl. Varela 1979: 35 ff. Mit "Strukturvariante" meint Varela eine bestimmte materielle Realisierung des grundlegenden Organisationsprinzips.
89
Siehe Maturana und Varela 1987: 119 ff.
90
Vgl. Varela 1979: 6.
91
Siehe Varela 1979: 88 ff.
92
Siehe dazu z.B. die Kritik von Gerhard Roth 1987.