www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

1.5 Die moderne Evolutionstheorie

In den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts gab es mit Bezug auf die Evolutionsfrage zwei hauptsächliche Forschungsrichtungen der Biologie, die sich gegenseitig bekämpften oder aber mindestens nicht verstehen konnten oder wollten:30 Einerseits die Naturforscher (Systematiker und Paläontologen), die sich für die Ebene der Arten und der Populationen mit ihrer geographischen Variation interessierten, und andererseits die Genetiker, die sich mit der Ebene der Gene und ihren Variationen innerhalb von Populationen beschäftigten. Dann aber gelang es Julian Huxley 1942 die Auffassungen der beiden Lager in der "evolutionären Synthese", einer einheitlichen Evolutionstheorie, zu vereinigen.31 Diese synthetische Theorie wurde später von Ernst Mayr und anderen ausgebaut. Kernstück dieser Theorie ist die modernisierte Form einer schon älteren These des deutschen Zoologen August Weismann (1834-1914), der um die Jahrhundertwende als erster versuchte, die Selektionsidee im Darwinschen Sinne mit neueren genetischen und zellbiologischen Erkenntnissen in Übereinstimmung zu bringen.32 Er stellte 1902 seine sog. "Keimplasmatheorie" auf, wonach es zwischen Keimplasma (Genotyp) und Körperplasma (Phänotyp) strikte eine kausale Einbahnstrasse gibt, d.h. das erstere beeinflusst das letztere, aber nicht umgekehrt. Damit ist noch einmal bekräftigt, dass eine Vererbung erworbener Eigenschaften unmöglich ist. Die Modernisierung dieser Auffassung besteht natürlich darin, dass jetzt nicht mehr davon die Rede ist, dass die kausale Richtung von Keim- zu Körperplasma läuft, sondern von der DNS (Desoxyribonukleinsäure) als Träger der genetischen Information zur RNS (Ribonukleinsäure) als Zwischenstation und von hier zu den durch die Informationsübertragung synthetisierten Proteinen (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: A: Weismanns Schema, aus dem sowohl die Kontinuität des Keimplasmas von Generation zu Generation hervorgeht als auch die Vergänglichkeit des einzelnen Organismus. B: Das "zentrale Dogma" der Molekularbiologie, in dem das ursprüngliche Schema anhand von DNS und Proteinen interpretiert wird (aus Sheldrake 1990: 107)
Abbildung 2: A: Weismanns Schema, aus dem sowohl die Kontinuität des Keimplasmas von Generation zu Generation hervorgeht als auch die Vergänglichkeit des einzelnen Organismus. B: Das "zentrale Dogma" der Molekularbiologie, in dem das ursprüngliche Schema anhand von DNS und Proteinen interpretiert wird (aus Sheldrake 1990: 107)
Ein wesentliches Charakteristikum der synthetischen Theorie ist, dass sie, um Mängel des früheren Darwinismus zu beheben, pluralistisch sein, d.h. viele Faktoren zur Erklärung der Evolutionsvorgänge heranziehen will und zu diesem Zweck auf Ergebnisse aus allen biologischen Disziplinen wie Morphologie, Physiologie, Ethologie, Genetik, Ökologie und Tiergeographie abstellt.33 Tabelle 1 zeigt in einer Übersicht wichtige Beispiele von biologischen Forschungsgebieten, deren Ergebnisse herangezogen werden, um zu belegen, dass und wie eine Evolution stattgefunden hat. Welche Evolutionsfaktoren werden als wichtig betrachtet? Ungerichtete Variation (jetzt in Form der Mutation) und Selektion sind zwar immer noch hervorstechende Elemente der Theorie, aber diese werden jetzt ergänzt durch die Rekombination und die Isolation. Die erstere wird durch die geschlechtliche Fortpflanzung ermöglicht und hat eine grössere Bedeutung als die Mutation, da eine günstige Mutantenkombination u.U. viel rascher aufgebaut werden kann, als wenn die Gene an Ort und Stelle mutieren müssten.34 Die letztere ist meist durch unüberwindliche Umwelt-Hindernisse bedingt, also geographischer Art, und die häufigste Ursache der Artenbildung (die in diesem Fall als allopatrisch bezeichnet wird). Daneben kann es auch ökologische Isolationsmechanismen innerhalb eines gemeinsamen Raumes geben, wie z.B. das Vorkommen nahe verwandter Fischarten in einem grossen See demonstriert. Wie es zu diesem, sympatrisch genannten Typ der Artenbildung, d.h. zu den nötigen Bastardierungssperren kommen kann, ist nicht geklärt. Neue Arten entstehen aber jedenfalls vornehmlich durch den allmählichen Wandel ganzer Populationen und nicht durch die Mutationen eines Einzeldindividuums.35
Tabelle 1: Übersicht über wichtige biologische Forschungsgebiete, deren Ergebnisse für den Nachweis eines evolutionären Geschehens wichtig sind (nach Siewing 1982: 103-112)
Systematik
Sie erfolgt nach abgestufter Ähnlichkeit. Eine kausale Erklärung ist nur durch die Annahme einer gemeinsamen, historischen, also stammesgeschichtlichen Herkunft möglich, vorausgesetzt, es handelt sich bei den Ähnlichkeiten um homologe.
Vergleichende Anatomie
Beispiel für homologe Organe: Bei allen vierfüssigen Wirbeltieren haben die Vorderextremitäten immer den gleichen Bauplan, unabhängig davon, an welche Funktion (Laufen, Graben, Fliegen, Schwimmen) diese Extremitäten angepasst sind (vgl. Abbildung 3). Die Übereinstimmung lässt sich also nicht auf eine gemeinsame Funktion zurückführen, sondern sie kann durch die Annahme einer gemeinsamen, stammesgeschichtlichen Herkunft erklärt werden.
Paläontologie
Die fossil überlieferten Organismen können die Veränderungen im Laufe der Erdgeschichte darlegen.
Embryologie
Bereits anfangs des 19. Jh. lieferte die embryologische Forschung Zeugnisse für die Evolutionstheorie. Beispiel: Bei Hühnerembryonen treten Kiemenspalten und dazugehörige Blutgefässe auf, obwohl beim erwachsenen Hühnchen Kiemenspalten nicht vorhanden sind. Dies erklärt sich aus der stammesgeschichtlichen Vergangenheit: Es gibt eine übereinstimmende Embryonalentwicklung bei Hühnchen, Fischen und Amphibien.
Tiergeographie
Aus ihrem Bereich schöpften bereits Darwin und Wallace ihr Erfahrungsmaterial. Beispiel: Veränderung der Meisenarten bei ihrer Verbreitung von Zentraleuropa nach Osten. Es bilden sich verschiedene Rassen aus.
Haustiere
Darwin versuchte, seine Selektionstheorie mit Untersuchungen an Haustieren zu untermauern. Allerdings ist die Mannigfaltigkeit immer eine bloss intraspezifische. Beispiel: Unterschied zwischen der Widerristhöhe beim Bernhardiner (65-80 cm) und dem Zwergpinscher (26 cm). Mit anderen Worten: Aus keiner Züchtung ist bisher eine neue Art entstanden.
Verhaltensforschung
Diese hat Ergebnisse vorgelegt, die nur unter dem Gesichtspunkt der Evolution gedeutet werden können.
Rudimentäre Organe (evtl.
auch Verhaltensmuster)
Es handelt sich um Merkmale, die ihre ursprüngliche Funktion verloren haben. Beispiel: Funktionsloser Beckengürtel bei Walen durch die Reduktion der Extremitäten. Er bleibt aber in reduzierter Form erhalten.
Was im übrigen den Faktor der Selektion betrifft: Es hat bis jetzt einen gewissen Streit darum gegeben, auf welcher Ebene oder auf welchen Ebenen diese wirklich angreift.36 Viele nehmen an, dass sie mit Bezug auf Gruppen oder ganze Arten wirksam ist. Darwins Vorstellung hingegen kam dem nahe, was heute als Individualselektion bezeichnet wird. Die Antwort auf die Ebenenfrage, die heute in der modernen Evolutionstheorie favorisiert wird, heisst aber: Natürliche Auslese findet prinzipiell auf der Ebene der Gene statt. Das heisst, es kann nicht um die Frage gehen, ob bestimmte Merkmale oder Verhaltensweisen einem individuellen Organismus nützen, sondern ob sie den daran beteiligten Genen nützen. Die Gene sind potentiell unsterblich, natürlich nicht im buchstäblichen Sinne, aber in der Form von Kopien, und das entscheidende Kriterium ist also die Möglichkeit ihrer Replikation. Richard Dawkins ist ein Vertreter dieser Auffassung, der mit seinem Konzept des "egoistischen Gens" eine recht extreme Variante vorgelegt hat.37 Auf dem hinteren Deckel der englischen Ausgabe des gleichnamigen Buches lesen wir:
Our genes made us. We animals exist for their preservation and are nothing more than their throwaway survival machines. The world of the selfish gene is one of savage competition, ruthless exploitation, and deceit.
Abbildung 3: Homologe Merkmale an den Vorderextremitäten der Tetrapoden (Vierfüsser) (aus Siewing 1982: 106)
Abbildung 3: Homologe Merkmale an den Vorderextremitäten der Tetrapoden (Vierfüsser) (aus Siewing 1982: 106)
Da hatte der ausserhalb des Mainstreams der Biologie arbeitende Gregory Bateson, dem wir in 2.5 noch ausführlicher begegnen werden, doch eine weitaus friedlichere Vorstellung:38 Lebewesen sind Systeme, die gleichzeitig auf mehreren Ebenen funktionieren und in umfassendere Zusammenhänge eingebaut sind. Da geht es um Fragen nicht nur von Parasitismus, Konkurrenz und Autonomie, sondern ebenso sehr auch von Symbiose, Kooperation und Integration. Diese Bemerkung ist auch schon eine gute Überleitung zu den Fragen und Gegenstimmen im nächsten Kapitel.

Anmerkungen

30
Vgl. Ernst Mayr 1994: 171 ff.
31
Julian Huxley 1942.
32
Siehe Franz M. Wuketits 1981: 65-66.
33
Vgl. Wuketits 1981: 63 ff.
34
Vgl. Hasenfuss 1982: 313 ff.
35
Vgl. Günter Scholl 1982: 284 ff., und Redaktion Naturwissenschaft und Medizin des Bibliographischen Instituts 1983, Bd.1: 58.
36
Siehe dazu die Diskussion bei Richard Dawkins 1989b.
37
Siehe Dawkins 1989a.
38
Vgl. dazu die Diskussion in Gregor Dürrenberger 1989: 43-44.