www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

1.4 Kontroversen nach Darwin

Die Publikation von "The Origin of Species" bedeutete noch keineswegs einen Durchbruch für den Evolutionismus, obschon, wie berichtet wird, schon am Ende des Erscheinungstages die gesamte erste Auflage (1250 Kopien) ausverkauft war.26 In der Folge entspann sich eine länger dauernde Kontroverse, denn die Darwinsche Theorie stellte grundlegende Werte der viktorianischen Zeit in Frage, insbesondere im Hinblick auf die Frage der Position des Menschen in einer solchen Theorie.27 War nun wirklich anzunehmen, dass der Mensch nicht von Gott geschaffen war, sondern von affenartigen Vorfahren abstammte? Darwin getraute sich denn auch nicht, in seinem ersten Werk dazu klar Stellung zu beziehen; erst 1871 erschien dann das speziell diesem Thema gewidmete Buch "The Descent of Man" (Die Abstammung des Menschen).28 Zwar konnten sich viele nun langsam mit der Idee eines evolutionären Geschehens auf der Erde anfreunden, aber wenn schon, dann konnte dieser Prozess unmöglich ein zufälliger und ungerichteter sein, sondern musste in progressionistischer Manier einem göttlichen Plan entsprechen, der von primitiveren zu höher entwickelten Formen führte und schliesslich in der Entstehung des Menschen gipfelte. Ein solches regelmässiges, nicht-adaptives Fortschreiten auf einem geradlinigen Pfad wurde als "Orthogenese" bezeichnet. Es war vor allem der in den USA wirkende Schweizer Naturforscher Louis Agassiz (1807-1873), der im Anschluss an die Ideen von Cuvier (siehe 1.2) derartige Vorstellungen vertrat. Mit der Zeit bildete sich aber in England ein starkes darwinistisches Lager unter Führung des Zoologen Thomas Henry Huxley (1825-1895), während in Deutschland sein Kollege Ernst Haeckel (1834-1919) sich für die Verbreitung des entsprechenden Gedankengutes stark machte. Während damit die Darwinsche Theorie im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts als eine Theorie mit hoher Integrationskraft anerkannt wurde, geriet sie anschliessend im 20. Jahrhundert wieder in Misskredit, da nun die experimentelle biologische Forschung als "exakte, moderne Disziplin" sich in den Vordergrund drängte und sich gegen die "Spekulationen" der Evolutionstheorie abzugrenzen versuchte.29 Später gelang es dann aber, den Evolutionsgedanken mit neueren Ergebnissen der Biologie zu einer neodarwinistischen Synthese zu vereinen, die heute weitherum Anerkennung geniesst. Allerdings mehren sich auch die im Moment noch Aussenseiter-Positionen einnehmenden Gegenstimmen, die gewisse Annahmen dieser Theorie grundsätzlich in Frage stellen. Diesen neueren Entwicklungen wenden wir uns in den folgenden Abschnitten zu.

Anmerkungen

26
Birx 1984: 130.
27
Siehe dazu Peter Bowler 1986.
28
Darwin 1986 (1871).
29
Vgl. Siewing 1982: 95.