www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Biologische Evolution

3.2.3 Gibt es einen oder zwei Ursprünge des Lebens?

Nach den obigen weit herum akzeptierten Vorstellungen, insbesondere auch nach den Folgerungen von Eigen aus seiner Hyperzyklus-Forschung, ist die Reihenfolge der Entstehung der in 3.2.1 genannten grundlegenden Komponenten lebender Systeme die folgende:
1.
Nukleinsäuren bzw. Gene mit der Fähigkeit der Replikation,
2.
den Stoffwechsel ermöglichende Proteine (Enzyme) und schliesslich
3.
Zellen, die dem Ganzen einen physischen Zusammenhalt geben.
Es wird also angenommen, dass das Phänomen der Replikation demjenigen des Stoffwechsels voraus geht. Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Ereignisse relativ rasch aufeinander gefolgt sind, so dass im Grunde genommen von einem Ursprung des Lebens gesprochen werden kann. Dies wird vom amerikanischen Physiker Freeman Dyson, der sich getraut hat, als unvoreingenommener Aussenseiter sich kritisch mit den Vorstellungen der Biologen über die Entstehung des Lebens zu befassen, in Frage gestellt.135 Und zwar ist er der Meinung, dass erstens die Reihenfolge der Ereignisse falsch ist und zweitens Stoffwechsel und Replikation zwei voneinander getrennte Ursachen des Lebens darstellen.136 Hinsichtlich des ersten Problems neigt er der schon 1924 formulierten Theorie von Aleksandr Iwanowitsch Oparin zu, der die gegenüber Eigen genau umgekehrte Reihenfolge vertrat:137 Zuerst Zellen, die aus natürlich entstehenden Tropfen (ähnlich den in 3.2.2 genannten Eobionten) hervorgingen, dann Enzyme, die die zufälligen Populationen von Molekülen im Innern dieser Tropfen zu metabolischen Zyklen organisierten, und schliesslich Gene, von deren Funktion Oparin damals allerdings nur eine ungefähre Vorstellung hatte.138 In diesem Fall hat somit der Stoffwechsel den Vorrang vor der Replikation. Dyson sagt dazu: "Ich ... bevorzuge Oparins Theorie, und zwar nicht so sehr, weil ich glaube, dass sie richtig ist, als vielmehr deshalb, weil sie unmodern ist."139 (!) Er meint damit, alle hätten sich in der letzten Zeit zu stark auf die Theorie von Eigen konzentriert und andere Möglichkeiten vernachlässigt. Das zweite Problem betreffend findet Dyson es schlicht unwahrscheinlich, dass beide Ereignisse, die Synthese von sowohl Protein- als auch Nukleinsäurestrukturen, gerade zur selben Zeit erfolgte.140
Wenn es aber zwei voneinander getrennte Anfänge des Lebens gibt, dann muss der Stoffwechsel der Replikation logischerweise vorausgehen. Denn es ist möglich, sich autonome Organismen nur mit Stoffwechsel und ohne Replikation vorzustellen, aber nicht Lebewesen mit nur Replikation und keinem Stoffwechsel, es sei denn, sie wären Parasiten (wie z.B. die Viren), was dann aber voraussetzt, dass Proteinkreaturen bereits vorhanden sein müssen, deren Stoffwechselprodukte sie benützen können.141 Dyson denkt, dass solche Stoffwechsel-Lebewesen über längere Zeit unabhängig existieren konnten, wobei sie sich durch die Aufteilung einer Zelle in zwei Tochterzellen vermehrten, aber, weil ein Mechanismus für die Replikation von Molekülen ja fehlte, nicht exakt verdoppeln konnten.142 Irgendwann entstanden dann die Nukleinsäurewesen, die mit ihrer parasitischen Existenz für die Proteinwesen zunächst wohl Krankheitserreger darstellten. Mit der Zeit aber entstand daraus eine Kooperation: Die Schmarotzer verwandelten sich in Symbionten und es entstanden die Organismen, wie wir sie heute kennen, ausgestattet mit beiden Fähigkeiten, derjenigen zum Stoffwechsel und derjenigen zur Replikation.143
Dyson glaubt, die Phänomene von Parasitismus und Symbiose stellten ein allgemeineres, die Evolution förderndes Muster dar. Er beruft sich dabei auf ein anderes Beispiel, die von der amerikanischen Mikrobiologin Lynn Margulis lancierte sog. Endosymbionten-Hypothese. Um zu verstehen, um was es hier geht, müssen wir kurz etwas ausholen. Die meisten Lebewesen (Pflanzen, Tiere, Menschen), so verschieden sie sonst sein mögen, bestehen aus Zellen gleicher oder fast gleicher Art, des sog. eukaryotischen Typs. Dieser ist kompartimentiert, d.h. er enthält verschiedene abgegrenzte Organellen wie einen Zellkern mit DNS enthaltenden Chromosomen, Mitochondrien, die als Träger von Atmungsenzymen und somit als Energiezentralen fungieren, und bei Pflanzen noch Plastiden, wobei insbesondere die der Photosynthese fähigen Chloroplasten wichtig sind.144 Eine Ausnahme machen die Bakterien und die Blaualgen. Ihre Zellen, prokaryotisch genannt, enthalten weder Zellkern, noch Mitochondrien, noch Plastiden. Die chemischen Vorgänge, die in den Zellorganellen der Pflanzen und Tiere vor sich gehen, laufen aber auch in ihnen ab, nur nicht in physikalisch abgegrenzten Reaktionsräumen.145 Die frühere Vorstellung war die, dass die eukaryotischen Zellen sich mittels der üblichen Evolutionsfaktoren (Mutation, Selektion, Isolation) aus ihren prokaryotischen Vorläufern entwickelt hätten. Es fehlen aber jegliche Zwischenstufen. Damit hat die schon zu Beginn des Jahrhunderts diskutierte, dann aber wieder verworfene sog. Endosymbionten-Hypothese neu an Glaubwürdigkeit gewonnen. Diese Hypothese ist also 1970 von Margulis mit neuen Argumenten wieder aufgegriffen worden.146 Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass es zwischen den Organellen der eukaryotischen Zellen und den prokaryotischen Lebewesen grosse Ähnlichkeiten gibt. Daraus ergibt sich die Vermutung, die Mitochondrien seien von bakterienähnlichen, die Plastiden von blaualgenähnlichen Prokaryoten ableitbar, und zwar ist die Vorstellung die, dass die letzteren zunächst als Parasiten in eukaryotische Zellen eindrangen, mit der Zeit aber in ein symbiotisches Verhältnis zur Wirtszelle eintraten. Ein starkes Argument für die ursprüngliche Selbständigkeit von Mitochondrien und Plastiden ist die Tatsache, dass sie über eigene genetische Information verfügen. Eine weitere Frage betrifft die Herkunft des Zellkerns. Die eine Meinung ist die, dass dies eine eigene interne Leistung der eukaryotischen Zelle war, die andere die, dass auch das genetische Material zunächst von aussen her in parasitischer Form, und zwar als RNS, auftrat. Trifft das letztere zu, dann wäre dies ein weiterer Punkt zur Unterstützung der Auffassung von Dyson über die zwei Ursprünge des Lebens, denn dann hätten zuerst Zellen existiert, die nur über Stoffwechsel verfügten.

Anmerkungen

135
Freeman Dyson 1988.
136
Deshalb der Titel seines Buches: "Die zwei Ursprünge des Lebens".
137
Aleksandr Iwanowitsch Oparin 1924.
138
Nach Dyson 1988: 60-61.
139
Dyson 1988: 65.
140
Siehe Dyson 1988: 25.
141
Dyson 1988: 21-23.
142
Siehe Dyson 19088: 19.
143
Nach Dyson 1988: 32.
144
Vgl. Carl-Gerold Arnold 1982: 155. Dazu gibt es noch weitere Bestandteile, die aber hier nicht von Belang sind.
145
Nach Arnold 1982: 156.
146
Lynn Margulis 1970. Vgl. auch Dyson 1988: 29 ff., Arnold 1982: 157-158 und Jantsch 1984: 175 ff.