www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Einführung

5.4 Der evolutionäre Aspekt

Eine evolutionäre Sichtweise versteht die (biologische und kulturelle) Evolution als eine sequentielle Entfaltung immer wieder neuer Erscheinungen, die nicht aufeinander reduzierbar sind. Daraus ergeben sich Überlegungen zur Koevolution von evolutionär verschieden alten Phänomenen und auch zu Hierarchien, die beachtet werden sollten. In einem stärker faktisch orientierten Bereich führt diese Sichtweise zum Versuch, aus einer Rekonstruktion der Vergangenheit die Gegenwart und deren Probleme besser zu verstehen. Schliesslich kann sie Licht auf die Zukunftsfrage werfen, wie weit evolutionäre Veränderungen gewissermassen ein Naturereignis sind oder aber vom Menschen mitgestaltet werden können. Die weitere Bedeutung einer derartigen Perspektive liegt nun darin, dass sie eventuell das obige Problem der Verständigung zwischen verschiedenen Disziplinen entschärfen kann, indem sie einen gemeinsamen Interpretationshorizont zur Verfügung stellt. Ein solcher Horizont wäre dann aber schon Teil eines umfassenderen Weltbildes, das auf mehr als nur wissenschaftlichen Vorstellungen beruht.
Heute ist, so lässt sich vermuten, tatsächlich ein Weltbildwandel im Gange: Das bisherige Weltbild der Physik wird durch ein Weltbild der Physis160, dessen Naturauffassung eine evolutionäre ist, abgelöst.161 Ein solcher Wechsel würde bedeuten, dass die paradigmatische Rolle, die das Nicht-Lebendige bis anhin gespielt hat, nun vom Lebendigen übernommen wird. Ein dabei wichtiges Thema ist das der Selbstorganisation, das am vorläufigen Ende einer Entwicklungsreihe steht, mit der "die Physik ... sozusagen immer biologischer geworden ist."162 Nicht zuletzt ist aber auch die Wissenschaft selbst ein evolvierendes, selbstorganisierendes System, woraus folgt: "... wenn unser Wissen der Evolution unterliegt, kann keine Gestalt des Wissens in Anspruch nehmen, sie enthalte eine Wahrheit, die zu allen Zeiten gilt."163 Schliesslich legt uns das Gedankengut zur Selbstorganisation nahe, dass die Zukunft offen ist. Dies ist tröstlich und beunruhigend zugleich, tröstlich, weil wir immer noch auf einen guten Ausgang hoffen können, beunruhigend, weil wir nicht mehr wissen, wo und wie wir noch einen zielgerichteten Einfluss ausüben können. Was tun? Statt Rezepten sollten wir uns einem vorsichtigen pragmatischen Vorgehen anvertrauen, das sich nach dem in der Evolution schon lange bewährten Prinzip der Fehlerfreundlichkeit ausrichtet.164

Anmerkungen

160
Das griechische Wort für Natur. Es "weist etymologisch ... auf die Vorstellung des Keimens, Gebärens und Wachsens zurück ..." (Andreas Graeser 1989: 13).
161
Vgl. Walther C. Zimmerli 1989: 391-392. Das evolutionäre Weltbild entspricht der relationalen Weltbild in 4.4.
162
Klaus-Michael Meyer-Abich 1992: 209.
163
Picht 1979, 21.
164
Vgl. Ernst U. von Weizsäcker und Christine von Weizsäcker 1986.