www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Einführung

2.4 Soziologie

Ab etwa 1915 bis 1940 gab es an der University of Chicago eine Gruppe von Soziologen, Robert E. Park, Ernest W. Burgess und Roderick D. McKenzie, die das Studium der “Humanökologie” in die Soziologie einführten und damit eine Richtung begründeten, die dann als “Chicagoer Schule” bekannt wurde.79 Mit Humanökologie meinten sie allerdings nicht die Wechselbeziehung des Menschen mit der biophysischen, sondern die mit der sozialen Umwelt, und zwar in städtischen Regionen, weshalb später auch etwa von der “Sozialökologie” die Rede war.80
Das Konzept der Humanökologie von Park, Burgess und McKenzie unterschied zwei grundlegende Ebenen:
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Die biotische oder subsoziale Ebene:
Auf ihr findet ein Kampf ums Dasein der Individuen in Form einer Konkurrenz hinsichtlich Lebensunterhalt und Status statt. Damit wird in der arbeitsteilig organisierten Gesellschaft der Wettbewerb zur grundlegenden Form der Interaktion der Individuen. Dieser Wettbewerb hat also eine natürliche Grundlage, spiegelt sich aber auch in der ökonomischen (kapitalistischen) Organisation wider;
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Soziale oder kulturelle Ebene:
Der als gegeben angenommene Wettbewerb muss durch eine moralische und politische Ordnung kontrolliert werden. Hier geht es um kommunikative und konsensuale Beziehungen.
Für beide Ebenen wird die Möglichkeit eines Gleichgewichtes unterstellt, das allerdings bei einem Bevölkerungszuwachs, speziell einem durch Immigration entstandenen, gestört werden kann. Dann findet ein Wandel statt, der in einem neuen Gleichgewicht endet. Es wird nun als Aufgabe der Humanökologie angesehen, die Prozesse zu untersuchen, die entweder ein Gleichgewicht aufrechterhalten oder aber ein solches stören und zu einem Wandel führen. Als grundlegender Prozess wird in Anlehnung an die biologische Ökologie die Sukzession betrachtet. In der Biologie versteht man darunter eine Abfolge von Veränderungen in der Zusammensetzung einer Lebensgemeinschaft. In der Humanökologie der Chicagoer Schule wird diese Vorstellung auf den schrittweisen Austausch von Bevölkerungsgruppen (oder auch Nutzungsarten) angewandt. Wenn eine solche Gruppe in ein städtisches Teilgebiet einzuwandern beginnt, in dem schon andere Gruppen ansässig sind, ändern sich die Bodenwerte und allenfalls auch die Gebäudestrukturen. Es kommt ein Wettbewerb in Gang, bis sich eine Gruppe durchgesetzt hat. Wenn sich diese ihrerseits gegen neue Invasionen halten kann, ist ein Klimaxstadium der Besiedlung erreicht. Räumlich gesehen geht der Impuls der Entwicklung vom Zentrum aus, so dass nach Burgess ein konzentrisches Muster von Zonen mit unterschiedlichen sozialen Gruppen (oder Landnutzungen) entsteht.81 Das alles tönt ziemlich biologistisch und ist in diesem Sinne auch kritisiert worden. Parto Teherani-Krönner zeigt aber, dass die Arbeiten der Chicagoer Autoren differenzierter betrachtet werden müssen; zum Teil operierten sie auch mit bewussten Distanzierungen zu biologischen Modellen.82
Ernster ist wohl die folgende Kritik zu nehmen, die auch an entsprechende Diskussionen in der Geographie erinnert: Die Sozialökologie macht keinen Versuch, einen Unterschied zwischen räumlich gebundenen Prozessen, die innerhalb gewisser geographischer Grenzen ablaufen, und räumlich nicht gebundenen gesellschaftlichen Prozessen allgemeiner Art herauszuarbeiten, da die Untersuchungen in räumlich vorab abgegrenzten Gebieten durchgeführt werden. Auch beruht sie zu stark auf einem Gleichgewichtsdenken, das die ständige Dynamik vernachlässigt.83 Diese räumliche Perspektive fand dann übrigens ihre Fortsetzung in quantitativen Gebietsbeschreibungen. Zunächst etablierte sich die sog. “Sozialraumanalyse” von Eshref Shevky und Wendell Bell, die versuchte, mittels der Bildung von drei Indizes, nämlich eines ökonomischen Status, eines Familien-Status und eines ethnischen Status, statistische Erhebungsgebiete zu klassifizieren.84 Mit dem Aufkommen des Computers als Arbeitsinstrument entwickelte sich daraus in den 60er und 70er Jahren die auch in der Geographie bestens bekannte “Faktorökologie”. Sie setzte sich zum Ziel, vorhandene Muster, sowohl die Indizes wie auch die räumliche Verteilung der Werte derselben betreffend, rein empirisch mit Hilfe von multivariaten, explorativen Faktorenanalysen abzuleiten.85
Inzwischen hatte sich aber auch eine Richtung der Soziologie entwickelt, die dem schon bei der Besprechung der Ethnologie genannten Trend folgte, von Ansätzen auf der strukturellen Ebene wegzukommen und zu solchen auf der Ebene des individuellen Handelns vorzustossen. Dies wiederum veranlasste Amos H. Hawley, Otis Dudley Duncan und Leo F. Schnore zu einer kritischen Reaktion und zum Versuch eines neoklassischen Ansatzes, der sich wieder stärker auf strukturelle Merkmale von Bevölkerungsgruppen konzentrierte, d.h. einer rückgreifenden Anknüpfung an Ideen der klassischen Chicagoer Schule.86 Im Vordergrund steht dabei das POET-Modell, auch bekannt als “ökologischer Komplex”: Gesellschaftlicher Wandel entsteht aus der wechselseitigen Abhängigkeit von vier Variablenbündeln, nämlich Bevölkerung (P), soziale Organisation (O), Umwelt (E) (die biophysische Umwelt wird nun explizit einbezogen) und Technologie (T). Unter einem soziologischem Erkenntnisinteresse, das die Erscheinungsformen und den Wandel sozialer Organisation erklären möchte, wird dann das Bündel O zur abhängigen Variablen und die Frage ist, wie weit Unterschiede in O aus dem Zustand der unabhängigen Variablen P, E und T erklärt werden können (vgl. dazu Abb.5). Wir können diesen Ansatz als systemtheoretische Variante einer Humanökologie interpretieren, bei der menschliche Populationen als Ökosysteme betrachtet werden, die auf Umweltbedingungen reagieren und sich anpassen können. Brian J.L. Berry hat dieses Modell als umweltdeterministisch, mechanistisch und materialistisch kritisiert: “... humankind dances, but an external puppet-master pulls the strings; the dance can affect the environment, but reason cannot dictate the environmental changes. Adaptation is all.”87
Abbildung 5: Der “ökologische Komplex”, bekannt als “POET-Modell” mit P = Bevölkerung, O = soziale Organisation, E = Umwelt und T = Technologie, wobei O als abhängige Variable dargestellt ist (nach Hamm 1982: 173)
Abbildung 5: Der “ökologische Komplex”, bekannt als “POET-Modell” mit P = Bevölkerung, O = soziale Organisation, E = Umwelt und T = Technologie, wobei O als abhängige Variable dargestellt ist (nach Hamm 1982: 173)
In der Soziologie ist die Entwicklung einer aus Anlass der ökologischen Krise umweltbezogenen Fachrichtung zögernder verlaufen als in andern Disziplinen, jedenfalls in Mitteleuropa.88 In den USA wurde bei der American Sociological Association (ASA) schon 1970 eine Sektion “Umweltsoziologie” gegründet. In der Folge haben sich vor allem William R. Catton und Riley E. Dunlap dafür stark gemacht und einen Wechsel vom bisherigen “human exemptionalism paradigm” (HEP) zum “new ecological paradigm” (NEP) gefordert.89 Unter dem HEP gilt die Spezies Mensch als Ausnahme-Lebewesen, das sich dank seiner Kultur und der Möglichkeit kulturellen Wandels rasch und erfolgreich mit Umweltveränderungen auseinandersetzen kann. Dies im Gegensatz zu anderen Organismen, die auf einen genetischen Wandel angewiesen sind. Unter dem NEP wird dagegen anerkannt, dass die Kontrolle des Menschen über die Natur brüchig ist. Zum einen können auch physisch-biologische Faktoren einen Einfluss auf die soziale Struktur und das soziale Verhalten ausüben, d.h. die alte Grundregel von Emile Durkheim (1858-1917), wonach soziale Erscheinungen nur durch andere soziale Erscheinungen erklärt werden dürfen,90 wird explizit abgelehnt. Und zum anderen verursacht menschliches Handeln immer wieder nicht-beabsichtigte Nebenfolgen. Die Konsequenz, die Catton inzwischen aus diesen Erkenntnissen zieht, ist die, dass die Soziologie eine Subdisziplin innerhalb der Ökologie sein sollte.91 Für den deutschsprachigen Bereich liegt nun seit 1996 erstmals ein Sammelband zur Umweltsoziologie von Andreas Diekmann und Carlo C. Jaeger vor.92
Die Umweltsoziologie oder ökologische Soziologie ... ist jener Teil soziologischer Bemühungen, der sich mit sozial produzierten ökologischen Problemen und den gesellschaftlichen Reaktionen auf ökologische Probleme befasst,93
sagen die Herausgeber in einem einleitenden Artikel.
Was bisher nicht existiert, ist eine ausgereifte, ökologisch fundierte Handlungstheorie. Ein erster Versuch liegt von Parto Teherani-Krönner mit einem kulturökologischen Handlungsmodell vor.94 Neben den anerkannten Kategorien des Handelns, kommunikativ gegenüber der sozialen und mittels Technologie instrumentell gegenüber der natürlichen Umwelt, führt sie zusätzlich den Begriff des “akkomodativen Handelns” als Interaktionsform zwischen den beiden Umwelttypen ein (siehe Abb.6). Damit knüpft sie bei Park an, der zwischen der Adaptation als einem biologischen Anpassungsprozess und der Akkomodation als der Herstellung eines Gleichgewichtes zwischen Natur und Kultur unterschied. Problematisch erscheint mir, dass im Modell von Teherani-Krönner das akkomodative Handeln den Status eines gesellschaftlichen Handelns hat, während mit dem instrumentellen und dem kommunikativen Handlungstpy die Ebene individuellen Handelns angesprochen ist. Was aber heisst das? Die Autorin sagt, Akkomodation könne zwar auch das Handeln auf der individuellen Ebene beeinflussen,95 - dazu würde dann auch die Bemerkung passen: “Mit ‘akkomodativem Handeln’ ... ist eine Dimension des Handelns bzw. eine Handlungsorientierung gemeint”96 - sei aber sonst vor allem auf der kollektiven Ebene wirksam. Das Ganze bleibt hier etwas im Dunkeln.
Abbildung 6: Das kulturökologische Handlungsmodell (nach Teherani-Krönner 1992: 142)
Abbildung 6: Das kulturökologische Handlungsmodell (nach Teherani-Krönner 1992: 142)
Aufbauend hauptsächlich auf der handlungstheoretischen Begründung einer Sozialgeographie von Benno Werlen97 und der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas hat Wolfgang Zierhofer erste Ansätze einer ökologisierten Handlungstheorie entwickelt, Handeln jetzt eindeutig verstanden als etwas, das Subjekten zugeschrieben werden kann.98 Der Autor plädiert für eine Revision des Gesellschaftsbegriffs: Dieser soll nicht nur auf Interaktionen zwischen Menschen aufbauen, sondern auch auf solchen zwischen Menschen und “Dingen” der Umwelt (vgl. Abb.7). Sicher wirken auch die letzteren konstitutiv einerseits für die Bildung der gesellschaftlichen Strukturen und andererseits für diejenige persönlicher Identitäten. Dazu gehört dann auch die Vorstellung, dass der Begriff der Kommunikation, üblicherweise auf die Sphäre des Menschen beschränkt, auch auf den Umgang mit Entitäten der Umwelt, mindestens anderen Lebewesen, allenfalls auch abiotischen Elementen, anwendbar sein sollte, wenn auch in modifizierter Form. In gewissem Sinne geht es darum, die Grenze zwischen Soziologie und Ökologie durchlässig zu machen. Zierhofer macht seinen Vorchlag auf dem Hintergrund eines relationalen Weltbildes (vgl. 4.4).
Abbildung 7: Die ökologische Erweiterung des Gesellschaftsbegriffs. A: Traditioneller Begriff: Gesellschaft als “Gefäss” für menschliche Aktivitäten; B: Relationaler Begriff: Gesellschaft als Qualität von Beziehungen unter allen Lebewesen und zu der unbelebten Welt (nach Zierhofer 1997: 96)
Abbildung 7: Die ökologische Erweiterung des Gesellschaftsbegriffs. A: Traditioneller Begriff: Gesellschaft als “Gefäss” für menschliche Aktivitäten; B: Relationaler Begriff: Gesellschaft als Qualität von Beziehungen unter allen Lebewesen und zu der unbelebten Welt (nach Zierhofer 1997: 96)

Anmerkungen

79
Ein erster wegweisender Artikel von Robert E. Park erschien 1916.
80
Für eine ausführlichere Würdigung der Konzepte der Chicagoer Schule siehe Jürgen Friedrichs 1977 und Teherani-Krönner 1992a: 16 ff. und 1992: 61 ff.
81
Siehe dazu z.B. Roger Hartmann u.a. 1986: 47 ff. und Brian J.L. Berry und Frank E. Horton 1970: 306 ff.
82
Siehe Teherani-Krönner 1992a: 19 ff. und 1992b: 87 ff.
83
Vgl. Friedrichs 1977.
84
Eshref Shevky und Wendell Bell 1955. Siehe dazu Berry und Horton 1970: 314 ff.
85
Siehe z.B. Robert A. Murdie 1969.
86
Siehe Amos H. Hawley 1986 und Otis Dudley Duncan und Leo F. Schnore 1959.
87
Berry 1988: 138.
88
Vgl. Glaeser 1994.
89
Siehe William R. Catton und Riley E. Dunlap 1980.
90
Siehe dazu Gabor Kiss 1977: 27 ff.
91
Siehe Catton 1993.
92
Andreas Diekmann und Carlo C. Jaeger 1996a.
93
Diekmann und Jaeger 1996b: 13.
94
Siehe Teherani-Krönner 1992: 140 ff.
95
Vgl. Teherani-Krönner 1992: 158.
96
Teherani-Krönner 1992: 141 (Fussnote 4).
97
Vgl. Benno Werlen 1987.
98
Siehe Wolfgang Zierhofer 1997. Obschon der Ansatz als ein humangeographischer verstanden wird, erwähne ich ihn hier im Abschnitt “Soziologie”, weil er da, seiner logischen Ausrichtung entsprechend, eher hineinpasst.