www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Einführung

2.3 Ethnologie (Kulturanthropologie)

In der Ethnologie (oder Kulturanthropologie) taucht der Begriff der “Kulturökologie” auf, der auf Julian H. Steward zurückgeführt wird.66 Er wollte damit in kritischer Distanzierung von der biologisierenden Humanökologie der sog. Chicagoer Schule und ihren Nachkommen (siehe 2.4) auf die Rolle der Kultur67 bei der Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt hinweisen. Diese wird dabei verändert, ist aber umgekehrt ihrerseits wiederum Anlass für kulturelle Innovationen und kulturellen Wandel. Die Mensch-Umwelt- oder die Kultur-Natur-Beziehung ist aber ein Thema, das in der Geschichte der Ethnologie weiter zurückreicht, ja diese Geschichte eigentlich von Anfang an durchzieht. In den traditionellen Ansätzen hat diese Beziehung dabei den Charakter einer Verbindung auf der strukturellen Ebene, d.h. die eigentlich mit der Umwelt kausal in Beziehung stehenden, handelnden Individuen bleiben im Dunkel. Im geschichtlichen Ablauf macht sich ausserdem der wechselnde Einfluss verschiedener weltanschaulicher Positionen bemerkbar: Einseitig linear-kausal gedacht wurde bei der Verbindung von Natur und Kultur der einen oder der anderen Seite der Primat zugesprochen; entsprechend konnte dann entweder von Natur- oder von Kulturdeterminismus geredet werden (siehe Abb.3). Diese beiden konträren Auffassungen wechselten immer wieder in einem reaktiven Sinne miteinander ab, so dass B.S. Orlove (1980) sagen konnte, die ökologische Anthropologie verdanke ihre Existenz “to a number of swings on intellectual pendulums”.68 Dieses Hin und Her sei mit der in Tab.2 gezeigten Abfolge von Richtungen der Kulturökologie illustriert. Dabei zeigt sich auch, dass anfänglich extremere durch später gemässigtere Auffassungen abgelöst werden, und dass die ursprüngliche Einseitigkeit bezüglich Ursache und Wirkung langsam einem Wechselwirkungsdenken Platz macht. Damit machte die Kulturökologie eine ähnliche Entwicklung wie die Geographie durch.69
Abbildung 3: Die beiden konträren Positionen bei der traditionellen kulturökologischen Fragestellung (nach Steiner 1992: 200)
Abbildung 3: Die beiden konträren Positionen bei der traditionellen kulturökologischen Fragestellung (nach Steiner 1992: 200)
Tabelle 2: Hauptsächliche Richtungen der Kulturökologie im Wandel der Zeit (nach Steiner 1992: 198)
Klassischer Kulturevolutionismus
Zeitepoche: Zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts.
Repräsentative Figur und Publikation: Lewis H. Morgan: "Ancient Society" (1877).
Hauptthese: Es gibt universelle Strukturen, die eine psychische Einheit der Menschheit bewirken und zur Folge haben, dass deren Kulturen sich überall parallel in festgelegter Reihenfolge durch gewisse Stadien hindurch entwickeln.
Klassischer Naturdeterminismus
Zeitepoche: Jahrhundertwende.
Repräsentative Figur und Publikation: Friedrich Ratzel: "Anthropogeographie", 1.Band (1882).
Hauptthese: In Anlehnung an die Darwinsche Interpretation der biologischen Evolution wird auch das Leben des Menschen als naturgesetzlich bestimmt angesehen. In unterschiedlichen Habitats sind deshalb unterschiedliche Kulturen anzutreffen.
Possibilismus und historischer Partikularismus
Zeitepoche: Erste Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts.
Repräsentative Figur und Publikation: Franz Boas: "The Mind of Primitive Man" (1911).
Hauptthese: Es gibt nur im negativen Sinne einen Umwelteinfluss, d.h. nur die regionale Absenz von anderswo sonst möglichen kulturellen Merkmalen ist allenfalls umweltbedingt. Ansonsten lässt eine bestimmte Umwelt immer verschiedene Alternativen von Kultur zu. Die Präsenz von kulturellen Merkmalen kann deshalb nur aus der kulturellen Entwicklung selbst, d.h. historisch erklärt werden.
Klassische Kulturökologie
Zeitepoche: Ca. 1930-1960.
Repräsentative Figur und Publikation: Julian Steward: "Theory of Culture Change" (1955).
Hauptthese: Es gibt eine materialistisch interpretierbare Bestimmtheit menschlicher Kulturen, mindestens des Teils (des sog. Kulturkerns), der mit Technologie, wirtschaftlichen Arrangements, sozialer Organisation und Demographie zu tun hat. Andere Bereiche einer Kultur können das Resultat von autonomen Prozessen der kulturellen Geschichte sein.
Systemökologie
Zeitepoche: Jahrzehnte nach dem 2.Weltkrieg.
Repräsentative Figur und Publikation: Roy A. Rappaport: "Ecology, Meaning and Religion" (1979).
Hauptthese: In qualitativer Anwendung systemtheoretischer Ideen ist eine menschliche Gesellschaft beschreibbar als eine regulative Hierarchie, die aus verschiedenen Ebenen von Subsystemen besteht, wobei jedes Subsystem von einer übergeordneten Kontrollinstanz reguliert wird. Diese Struktur hat die Fähigkeit, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, wobei auch Verschiebungen in der Hierarchie auftreten können.
Kulturmaterialismus
Zeitepoche: Seit ca. 1960.
Repräsentative Figur und Publikation: Marvin Harris: "Cultural Materialism" (1980).
Hauptthese: Eine Kultur lässt sich dreiteilig beschreiben durch die Infrastruktur (Erscheinungen, die mit Produktion und Reproduktion zu tun haben), die Struktur (Ausprägungen der sozialen Organisation) und die Superstruktur (übergeordnete kulturelle Regeln i.e.S. und künstlerische Ausdrucksweisen). Die Infrastruktur hat eine kausale Wirkung auf die übrigen Komponenten, wobei allerdings Rückkopplungseffekte nicht ausgeschlossen sind
Zur Auflistung der Richtungen der Kulturökologie in Tab.2 noch einige Kommentare: Der klassische Kulturevolutionismus entspricht einer extrem kulturdeterministischen Einstellung: Es gibt eine “supremacy of mankind over earth”.70 Der klassische Naturdeterminismus dagegen nimmt eine ebenso extreme Gegenposition ein, d.h. eine Abhängigkeit der Kulturen von ihrer natürlichen Umwelt. Dabei ist aber näher zu prüfen, ob damit ein Einfluss auf die menschlichen Erbanlagen oder auf gesellschaftliche Traditionen gemeint ist. Offenbar ist, wie die von Derek Freeman ausführlich geschilderte, in biologischen und anthropologischen Kreisen in dieser Zeit geführte "nature or nurture"-Debatte zeigt,71 normalerweise das erstere der Fall. Auch der Titel der deutschen Übersetzung des in Tab.1 genannten Buches von Boas, “Kultur und Rasse”, deutet darauf hin. Der Possibilismus hinwiederum kann dann als kulturdeterministische Antwort darauf interpretiert werden, während die klassische Kulturökologie umgekehrt wieder einer (jetzt allerdings abgeschwächten) naturdeterministischen Position zuneigt. Auf alle Fälle möchte Steward der “fruitless assumption that culture comes from culture”72 entgegentreten. Bei den systemökologischen Ansätzen lässt sich streiten, ob diese eher zu den kultur- oder aber zu den naturdeterministischen Ansätzen gehören. Da bei ihnen viel von Kulturwandel als Anpassungsprozess bezüglich der Umwelt die Rede ist, könnte man sie, wie es z.B. von Thomas Bargatzki getan wird,73 den letzteren zuordnen. Es hängt aber auch davon ab, wie man die Vorstellung der Anpassung interpretieren will, d.h. ob man dabei eher an einen zwangsweisen Vorgang denkt oder vielmehr an eine kreative Eigenleistung des gesellschaftlichen Systems. Im letzteren Fall kommt man, mindestens wenn man geneigt ist, ein solches System als eine Art Superorganismus zu betrachten (was die Systemökologen tun) eher zu einer kulturdeterministischen Interpretation.74 Die kulturmaterialistische Richtung schliesslich zeigt undanks der eingeräumten Möglichkeit kultureller Modifikationen wieder eindeutig naturdeterministische Züge.
Aus einer Kritik an diesen traditionellen Ansätzen heraus, die immer Umweltfaktoren mit ganzen menschlichen Kollektiven in Beziehung gesetzt haben, hat sich seit dem 2. Weltkrieg das Schwergewicht der Kulturökologie von der strukturellen auf die individuelle Ebene verschoben. Somit stehen nun das Individuum und die Frage im Blickfeld, wie dieses in bestimmten Situationen handelt, und dementsprechend kommt es zur Beschäftigung mit “actor-based models”.75 Was dabei die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt betrifft, müsste man sagen, dass jetzt noch eine intensivere Beschäftigung mit der ergänzenden kulturpsychologischen Fragestellung fehlt (siehe Abb.4). Diese wäre von Interesse obschon oder vielleicht gerade weil sich die klassische Ethnologie fast ausschliesslich mit vorindustriellen Gesellschaften befasst hat. Viele davon haben doch in beeindruckender Weise in einem gewissen Gleichgewicht mit den natürlichen Bedingungen gelebt,76 und die Frage stellt sich, welcher Art dabei die leitenden kulturellen Werte waren.
Abbildung 4: Die umwelt- und die kulturpsychologische Fragestellukng in der Kulturökologie
Abbildung 4: Die umwelt- und die kulturpsychologische Fragestellukng in der Kulturökologie
Mit dem Gewahrwerden einer ökologischen Krise hat sich aber auch eine Ausweitung des Denkens in Richtung einer kritischen Analyse der ökologische Unordnung schaffenden modernen Gesellschaft entwickelt. Das Buch “Ecology, Meaning and Religion” von Roy A. Rappaport ist dazu ein Beispiel.77

Anmerkungen

66
Julian H. Steward 1955.
67
Kultur wäre dabei in einem weiteren Sinne zu verstehen, d.h. nicht nur Geistiges (z.B. religiöse Gebote) umfassend, sondern auch Soziales (Organisationsformen) und Materielles (technische Artefakte).
68
B.S. Orlove 1980, 236.
69
Für einen Abriss kulturökologischer Konzepte siehe auch Parto Teherani-Krönner 1992a, 32 ff. und 1992b, 106 ff.
70
Lewis H. Morgan 1877, 19.
71
Siehe Derek Freeman 1983.
72
Steward 1955, 36.
73
Siehe Thomas Bargatzki 1986.
74
Dies schliesst aber die Möglichkeit nicht aus, dass bei zu grossem Stress eine Anpassung nicht mehr gelingt. Karl Butzer 1980 gibt in diesem Sinne eine systemökologische Interpretation der zyklisch auftretenden Blüte- und Zerfallserscheinungen der altägyptischen Hochkulturen.
75
Vgl. Orlove 1980; hier auch ausführliche Literaturhinweise.[7f] Sie beruhen auf der Annahme, das Menschen nicht Wesen sind, die einfach in passiver Weise strukturell definierte Handlungsanweisungen befolgen, sondern entscheidungsfähige Individuen, die das, was sie wirklich tun, aus einer Reihe von möglichen Alternativen auswählen. Man kann davon reden, dass hier in einem kulturökologischen Rahmen eine psychologische Fragestellung angegangen werde (vgl. Abb.4). Dabei zeigen einige der verwendeten Ansätze gewisse behavioristische Züge, etwa dann, wenn individuelle Antworten auf Umweltveränderungen studiert werden. Andere wiederum neigen, wie sich an der Verwendung des Menschenbildes des Homo oeconomicus zeigt, einer ökonomistischen Geisteshaltung zu: Individuen haben Präferenzen, ordnen knappe Ressourcen Zielen und Zwecken zu und maximieren ihren Nutzen. Insofern nach dieser Vorstellung das Individuum die Einheit ist, die von einer Handlung profitiert, wird auch vom “Individuum-Vorteil-Ansatz” geredet.[f]Siehe Thomas Bargatzki 1986, wo?
76
Siehe z.B. Bernard Campbell 1985.
77
Rappaport 1979.