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Selbstbestimmung

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Umwelterhaltung durch Selbstbestimmung

Dieter Steiner
Dieser Artikel ist erschienen in Hansjürg Büchi und Markus Huppenbauer (Hrsg.): Autarkie und Anpassung. Zur Spannung zwischen Selbstbestimmung und Umwelterhaltung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, S. 257-283.
Dieses Buch enthält die Vorträge, die im Rahmen einer gleichnamigen interdisziplinären Vortragsreihe an der Universität und der ETH Zürich im Sommer 1994 gehalten wurden.
1. Einleitung: Was heisst Selbstbestimmung?
2. Das ökologische Versagen der Systeme
3. Ökoregionen als Lebensräume
4. Herrschaftsfreie Gemeinschaften
Die Differenzierung in soziale Systeme mit verschiedenen Funktionen machte einen wachsenden Umfang gesellschaftlicher Zusammenhänge möglich; immer mehr Menschen wurden in solche Zusammenhänge eingebunden. Das heisst aber, dass mit zunehmender Grössenordnung gesellschaftlicher Gebilde die Systemzwänge wachsen, weil nur durch sie ein Zusammenhalt möglich ist. Zum Teil haben wir noch nicht erkannt, dass es sich tatsächlich um Zwänge handelt, und versuchen, uns der Illusion erhöhter Freiheit anheim zu geben.53
Ein gerade in seiner Banalität illustratives Beispiel dazu ist die Auffassung des Leserbriefschreibers R.J., der auf ein paar Tage vorher publiziertes Interview mit dem Verkehrspsychologen Armin Steinmann reagierte, in dem dieser sagte: "Wir beobachten eine gesteigerte Aggressionsbereitschaft bei allen Verkehrsteilnehmern" (Tages-Anzeiger von Zürich, 5. Mai 1994, 21). R.J. hat eine Erklärung für diese Aggressivität: "Die Autofahrer sind durch ... [die einschränkende] Verkehrspolitik derart frustriert, dass ihnen nur noch die Aggressivität bleibt. Wir leben im 20. Jahrhundert und da gehören halt Autos dazu, ob uns das nun gefällt oder nicht. ... gesunder Menschenverstand ist gefragt ..." (Tages-Anzeiger, 11. Mai 1994, 15). Meine Frage dazu: Verteidigt R.J. ein Recht auf freie Fahrt gegen die Behinderung durch unberechtigte Zwänge oder ist diese Verteidigung eine durch das System, das Autos im 20. Jahrhundert als normal erscheinen lässt, bedingte zwanghafte Handlung?
Wenn wir uns von den Fängen der Systeme und den damit verbundenen Illusionen befreien wollen, ist auch bezüglich der Reichweite der gesellschaftlichen Beziehungsnetze Kleinheit gefragt, weil, wie Arne Naess sagt: "... the greater the size of the units as a whole the less possibilities exist for individual creativity. There is less possibility for each member of the unit to have a comprehension of what is going on."54
Naess 1993, 143.
Umfangreiche Gesellschaften sind aber auch ineffizient, indem sie überproportionale soziale Kosten und Ressourcenverbräuche zur Folge haben. Leopold Kohr (seine Einheiten sind die Nationen) bringt dieses Problem mit einem Wachstum über eine kritische Grösse hinaus in Zusammenhang:55
Siehe Leopold Kohr 1986. Mit "Grösse" meint Kohr übrigens nicht einfach die Bevölkerungszahl, sondern eine "soziale Grösse", die sich aus vier Faktoren ergibt: Der effektiven Zahl der Menschen, der Dichte, dem Grad der verwaltungsmässigen Integration und der Geschwindigkeit (besser wäre vermutlich: Mobilität) der Bevölkerung. Dichtere, straffer organisierte, wie auch "schnellere" Gesellschaften sind alle effektiv grösser, als einfach durch die Bevölkerungszahl angegeben wird (Kohr 1986, 27). Wenn Kohr dann trotzdem eine Bevölkerungszahl von etwa 200'000 Menschen als optimal bezeichnet, ist dies als Richtgrösse zu verstehen (Kohr 1986, 42).
"Ist dieser Punkt überschritten, trägt das weitere Wachstum eines Gemeinwesens nicht zu dessen individualistischer Funktion bei, den Mitgliedern ein gutes Leben zu verschaffen, sondern nur zu seiner kollektivistischen Funktion, sich um seiner selbst willen zu erhalten."56
Kohr 1986, 59.
Die in sozialen Kosten gemessenen Aufwendungen, die von der Gesellschaft zur Aufrechterhaltung ihres politischen und wirtschaftlichen Apparates verbraucht werden müssen, scheinen dabei in geometrischer Progression zu steigen.57
Als Beispiel nennt Kohr die Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttosozialprodukt, die 1956 etwa für Luxemburg 3,9%, für Frankreich 8,1% und für die USA 11,6% betrugen (Kohr 1986, 66).
Eine Rückkehr zum menschlichen Mass der Gemeinschaft kann eine Befreiung von der Herrschaft der Systeme bewirken, verlangt aber umgekehrt die Selbstverwaltung dieser Gemeinschaft. Insofern diese ihrerseits herrschaftsfrei sein soll, sind anarchistische Konzepte angesprochen.58
Um Missverständissen vorzubeugen: "Anarchismus ist weder identisch mit Chaos und Unordnung noch mit Terror" (Rolf Cantzen 1984, 10).
Rolf Cantzen hat sich die Mühe gemacht, solche Ansätze zu rezipieren und auf ihre mögliche Bedeutung für ein "libertär-ökologisches Gesellschaftskonzept" zu überprüfen.59
Siehe Cantzen 1984.
Es gibt im wesentlichen zwei Traditionen, eine, die sich auf das Prinzip der Individualität, und eine, die sich auf das Prinzip der Solidarität beruft.60
Zur erstgenannten Tradition sind z.B. J.H. Mackay und Max Stirner, zur zweitgenannten Gustav Landauer und Peter Kropotkin zu zählen.
Nach der Auffassung der ersten Tradition stehen der wünschbaren Gesellschaftsordnung die staatlichen Institutionen entgegen, die die menschliche Freiheit einschränken. Mit der Abschaffung der Institutionen hätten wir die Systeme beseitigt. Aber die Freiheit wird verstanden als "egoistisches Konkurrieren aller gegen alle im ökonomischen und sozialen Bereich".61
Cantzen 1984, 28.
Das wäre ein Weg vom Regen in die Traufe: Das Systemische des Ökonomischen würde nicht nur nicht verschwinden, sondern in übersteigerter Form weiter existieren.62
Cantzen sagt denn auch: "Ein so verstandener Individualanarchismus ist auf die Formel zu bringen: Wirtschaftsliberalismus, auf alle Lebensbereiche ausgedehnt, minus Staat" (Cantzen 1984, 29-30).
Für die zweite Tradition "ist die Sozialität des Menschen, also das Miteinander, die Solidarität und Gegenseitigkeit, ... konstitutiv für Individualität und Freiheit".63
Cantzen 1984, 33.
Hier verhindert der Staat die Möglichkeit der Entwicklung von "gewachsenen" Bindungen der Menschen untereinander, die zu dieser Art von Freiheit führen können.
Cantzen plädiert nun für einen "konstruktiven Anarchismus", der die Einseitigkeiten der beiden Ansätze überwinden, d.h. das Positive von beiden Seiten miteinander kombinieren und das Negative eliminieren kann. Seine Lösung heisst Kooperation anstelle von Konkurrenz zwischen Individuen, aber in einer Form, die individualitätsfeindliche Tendenzen ausschliesst. Diese lokalisiert er bei den Vertretern des Solidaritätsprinzips, da unter Gemeinschaft hier ein Gebilde mit starker sozialer Kontrolle zu verstehen ist. Konkret schlägt Cantzen als politische Alternative zum Etatismus das Prinzip des Föderalismus und als ökonomische Alternative zum Kapitalismus das Prinzip der Genossenschaften vor.64
Vgl. Cantzen 1984, 49.
Die Grundlage der Selbstverwaltung einer Gemeinschaft sind soziale Regeln des Zusammenlebens, über die sich die Mitglieder entweder durch gegenseitiges Aushandeln explizit einigen, oder die sich aus wiederkehrenden Erfahrungen in impliziten, also nicht ausgesprochenen Regeln niederschlagen (wobei sich diese aber nicht in neuen unerkannten Zwängen auswirken sollten). In der heutigen Zeit der wachsenden Verunsicherung und der ständigen Veränderung kommt wohl der ersten Form eine besondere Bedeutung zu. Ihr widmet auch Dryzek seine besondere Aufmerksamkeit, indem er als zweite Forderung, die er aus seiner Analyse des Versagens der Systeme ableitet, die Verwirklichung eines Prinzips von "praktischer Vernunft" nennt.65
Dryzek 1987, Kap. 15 ("Practical Reason"), 200-215.
Damit ist die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas und das darauf aufbauende Konzept der Diskursethik angesprochen.66
Siehe Jürgen Habermas 1988 und 1991. Eine Einführung in das Denken von Habermas bietet Walter Reese-Schäfer1991.
Dieses Konzept sieht einen unbeschränkten Diskurs vor, der das demokratische Prinzip einer Mitsprache aller von einem Problem in irgendeiner Weise Betroffenen gewährleisten soll. Das Ziel des Diskurses ist, im Laufe eines Austausches von überprüfbaren Argumenten zu einem Konsens zu kommen, der sich am besseren Argument ausrichtet. Damit aber ist klar, dass nur verallgemeinerbare (also nicht partikuläre) Interessen eine Chance haben, sich schliesslich durchzusetzen. So gesehen müsste selbst oder gerade bei einer anthropozentrischen Sichtweise eine Erhaltung der Integrität natürlicher Systeme ein generalisierbares Interesse sein, weil diese ja eine Lebensgrundlage des Menschen darstellen. Allerdings wäre eine Voraussetzung dazu auch eine allseitige Einsicht in die Realität ökologischer Gefährdungen.67
Die Komplexität ökologischer Zusammenhänge könnte einer solchen Einsicht entgegenstehen, da ja heute auch die Wissenschaft keine verlässlichen Auskünfte geben kann.
Nur dann könnte Nachhaltigkeit als oberster Wert auch zur Grundlage des besten Argumentes werden.68
Für eine ausführliche Behandlung der Frage, wie weit wir erwarten dürfen, uns mit Hilfe diskursethischer Verfahren auf umweltverträgliche Handlungsweisen einigen zu können, siehe Wolfgang Zierhofer 1994.
Ein kommunikativ rationaler Diskurs endet also nicht notwendigerweise in einem ökologisch rationalen Resultat. Das hat letztlich auch damit zu tun, dass er ein reines Verfahren ist, ohne irgendeine Vorgabe inhaltlicher Art, also auch nicht von Werten. Dies entspricht der von Habermas vertretenen modernen Position, wonach wir primär orientierungslos sind, und deshalb eine Orientierung immer wieder gemeinsam suchen müssen. Nun dürfte die Chance, dass die Teilnehmenden an einem Diskurs ökologisch verträgliche Werthaltungen in diesen einfliessen lassen werden, steigen, wenn der fragliche Diskurs innerhalb eines ökoregional-gemeinschaftlichen Umfeldes stattfindet. Wie wir schon festgehalten haben, sind dann einerseits die Beteiligten der Frage ökologischer Verantwortung sehr viel direkter ausgesetzt und andererseits sind sie auch in ein sozial vertrautes Milieu eingebunden, was die Wahrscheinlichkeit der Kooperationswilligkeit erhöht. Tatsächlich wurzelt ja die Vorstellung einer kommunikativen Rationalität im Verständigungswillen, den wir im alltäglichen Zusammenleben immer wieder aufbringen müssen. Dieser Willen steht im Gegensatz zum blinden Zwang, der von Systemregeln ausgeübt wird und sich in einer instrumentellen und strategischen Rationalität äussert.69
Ich erinnere noch einmal an das ökonomische System, das - wenigstens in der Theorie - für sein effizientes Funktionieren auf die Existenz eines degenerierten Menschentyps, des homo oeconomicus, angewiesen ist.
Und er kann auch die durch die genannte funktionale Differenzierung der Gesellschaft bewirkte Fragmentierung überwinden.
An der Wurzel der Tradition, die Gemeinschaften nach menschlichem Mass fordert, ist das klassische griechische Denken mit dem Konzept der Polis als einer ethischen Gemeinschaft auf der Grundlage von Gerechtigkeit, Bürgerbeteiligung und gegenseitiger Anteilnahme.70
Vgl. Bookchin 1988, 101 ff. Dabei ist nicht zu vergessen, dass Frauen und Sklaven vom politischen Leben ausgeschlossen waren.
Schon Aristoteles vertrat die Meinung, eine Gemeinschaft müsse eine Grösse haben, die allseitige persönliche Bekanntschaft erlaubt, sonst würden die Verwaltungs- und Rechtsgeschäfte schlecht ausgehen. Bookchin weist auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs "Autonomie" bei den alten Griechen hin, nämlich "Selbstverwaltung", und darauf, dass er für uns die blosse Bedeutung von Unabhängigkeit angenommen hat. Bei jenen bezog sich also "Autonomie" auf die Möglichkeit eines Individuums, sich direkt an der gemeinschaftlichen Selbstverwaltung zu beteiligen. Der Mensch findet seine Selbstbestimmung im sozialen Engagement. Das müsste auch heute noch so sein oder wieder so werden. Dazu Naess: "Being together with others is essential to the realisation of the Self."71
Naess 1993, 142. Eine Frage muss gestellt werden: Wie ist, bei der Verfolgung gemeinschaftlicher Prinzipien, die Gefahr regionalistischer Fundamentalismen mit hässlichen Konsequenzen einzuschätzen? (zum Thema Regionalismus siehe Werlen 1993). Dazu wäre zweierlei anzumerken. Erstens würden nach dem ökoregionalen Konzept Grenzen nach biophysischen und nicht nach völkischen Gesichtspunkten gezogen, und zweitens herrscht in der anarchistischen Theorie weitgehende Einigkeit darüber, "dass die Herrschaft des Mannes über die Frau, Herrschaft der sexuellen, religiösen, ethnischen etc. Mehrheiten über die Minderheiten beseitigt werden muss" (Cantzen 1984, 9).
5. Selbstrealisierung
6. Schluss: Der Weg nach Ökotopia beginnt unten
Literatur