www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Lebensstil

3.2 Zur Möglichkeit eines Wertwandels

Insofern nun Lebensstile durch Werthaltungen entscheidend beeinflusst werden, können wir sagen, dass der grundlegende Wandel, der passieren muss, ein Wertwandel ist. Wie wir gesehen haben, können sich sozial anerkannte Werte nicht nur auf das individuelle Handeln, sondern auch auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auswirken, und tatsächlich müssen ja auch Veränderungen in beiden Bereichen stattfinden. Nun werden die Werte aber umgekehrt - wir haben es ja immer wieder mit Wechselwirkungen zu
tun - von den Erfahrungen, die Menschen bei ihrem Handeln im gegebenen Rahmen machen auch wieder beeinflusst. Wir haben einen Zirkel vor uns und es stellt sich die Frage, wo hier überhaupt ein Ansatzpunkt für einen Wandel sein kann. Gesellschaftliche Strukturen ändern sich sicher nicht von selbst, also ist es letztlich eine Sache des Bewusstseins. Es braucht eine bewusstseinsmässige Innovation, die Fuss fassen und sich ausbreiten kann, und eine solche ist möglich, da ja wie gesagt, die Einsicht in die Existenz unerfreulicher Bedingungen und die damit verbundene Betroffenheit Anstoss für eine Veränderung in Werthaltungen sein kann. So hat ja auch die Wahrnehmung von Umweltzerstörung zu immer mehr sozialen Bewegungen und Organisationen, darunter auch politischen Parteien, geführt, die sich dieses Problems annehmen wollen. Die entscheidende Frage ist wohl, ob die Veränderungswilligkeit mit all ihren Facetten insgesamt in absehbarer Zeit genügend Momentum kriegen wird. Das Haupthindernis dabei ist sicher die aus dem Ruder gelaufene Dynamik des globalen Wirtschaftssystems.
Sicher aber ist, dass ein Wandel grundsätzlich möglich ist:
Die verschiedenen historischen Epochen, die verschiedenartigen ethnischen Kulturen und die bereits innerhalb der westlichen Industriegesellschaft vorgelebten alternativen Lebensformen beweisen geradezu, dass der notwendige Wandel der bisher vorherrschenden Lebensform keineswegs durch angebliche ‘anthropologische Konstanten’ blockiert wird.1
Als Beispiel für eine derartige “anthropologische Konstante” haben wir in “Ökonomisches, Fortsetzung” (Fussnote 98) die Auffassung erwähnt, wonach der Mensch von Natur aus ein grundlegend egoistisches Wesen sei, was auch durch keine Kultur übertüncht werden könne. Wenn wir derartige Vorstellungen ablehnen, heisst dies umgekehrt natürlich nicht, dass unsere natürlichen Anlagen keine Rolle spielen. Wir haben ja z.B. oben in einer Darstellung von Kummer festgestellt, dass natürliche menschliche Bedürfnisse je nach kultureller Umwelt fehlgeleitet werden können. Ich glaube allerdings, dass es bei diesem Beispiel um einen Detailaspekt geht. Entscheidender ist diese Frage: Heisst die im obigen Zitat genannte kulturelle Flexibilität und Vielfalt, die wir zunächst als Indiz dafür verwenden können, dass ein Wandel möglich ist, andererseits nicht auch, dass wir bei der Suche nach einen neuen Lebensstil ermöglichenden Werten völlig auf uns allein gestellt sind, dass wir uns in einem argumentativen Diskurs auf etwas einigen müssen, das uns in der vorliegenden Situation richtig scheint? Ja und nein. Abgesehen von den Schwierigkeiten, zu einem Konsens zu kommen genügt die Rationalität eines Diskurses nicht. Wir können nicht ohne weiteres darauf vertrauen, dass wir auf diese Weise eine angemessene Orientierung finden, denn vieles wird davon abhängen, in welcher Art von Bewusstsein wir an der Debatte teilnehmen. Hier könnte eine wichtige Grundlage sein, dass unsere eigene Natur wieder zum Zuge kommen kann, aber nicht in der Form von etwas, das uns festnagelt. Ein bewusstes Achten auf unsere Gefühle und Intuitionen kann uns wieder in Beziehung setzen zu unserer inneren Natur, und diese kann in einer Art Resonanz in der äusseren Natur deren Werte entdecken.2
Im übrigen führt ja die bisherige zivilisatorische Entwicklung nicht nur zur Zerstörung der natürlichen Umwelt, sondern sie erzeugt auch gravierende Defizite in unserem unmittelbareren gesellschaftlichen Umfeld. Dies müsste uns eigentlich noch näher liegen und noch rascher einen Leidensdruck erzeugen, der uns dazu motivieren könnte, uns für einen Wandel einzusetzen. Bartelt u.a. geben eine beispielhafte Liste solcher Defizite und sagen, dass diese beliebig verlängert werden könnte:
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Zunahme der Zivilisationkrankheiten.
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Trotz verkürzter Arbeitszeit steigt die Anzahl der Frühinvaliden, die aus dem Arbeitsleben ausscheiden, weil sie nicht mehr das dort Nötige zu leisten vermögen.
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Die Anzahl der psychisch Kranken hat erheblich zugenommen. Sie ist aber nur ein Anzeichen für eine allgemeine Standortunsicherheit der Menschen.
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Städte veröden und werden zu Wohn- und Konsummaschinen und wirken mit ihrer Kälte vielfältig auf die Menschen ein, die einen Verlust an ‘Heimat’, an ‘Nähe’, an ‘Ruhe’ empfinden und oft beklagen.
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Zunehmender Leistungsdruck ergreift alle gesellschaftlichen Bereiche und überlagert deren wichtigste Ziele, z.B. die Erziehung in der Schule.3
Es gibt Untersuchungen, die zu belegen versuchen, dass ein Wertwandel schon voll im Gang ist. Eine solche stammt vom amerikanischen Sozialforscher Ronald Inglehart, die er schon vor 20 Jahren unternahm.4 Er versuchte, die Ausprägung von materialistischen und postmaterialistischen Wertprioritäten - die letzteren können mit den Ebenen der sozialen und der Selbstverwirklichungs-Bedürfnisse von Maslow in Verbindung gebracht werden - von Bürgern und Bürgerinnen verschiedener Gesellschaften mit Hilfe von 12 Items zu erfassen, die unterschiedliche gesellschaftliche Ziele zum Ausdruck bringen. Die verbalen Bezeichnungen dieser Items werden als Indikatoren eingesetzt. Dazu zählen u.a.:5
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Es soll eine hohe wirtschaftliche Wachstumsrate unterhalten werden.
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Das Land soll zum Zwecke der Verteidigung über eine starke Armee verfügen.
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Die Menschen sollten in Entscheidungsvorgänge am Arbeitsplatz und in der lokalen Gemeinschaft mehr einbezogen werden.
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Stadt und Land müssen schöner werden.
Die Probanden wurden gefragt, welchen der 12 Items sie am wichtigsten halten, welchen am zweitwichtigsten usw. Aus den Ergebnissen schloss Inglehart, dass ein Wertwandel zu postmaterialistischen Werthaltungen stattfindet. Diese Studie hat heftige Kritik hervorgerufen; von verschiedener Seite wurde sie als unvertraubar eingestuft. Insbesondere wird der Untersuchung vorgeworfen, dass sie einen Wandel durch die Befragung von Angehörigen verschiedener Generationen zu einem Zeitpunkt zu erforschen versucht. Es wird moniert, dazu müssten Befragungen, die mit der gleichen Methode zu verschiedenen, nicht allzu nahe beieinander liegenden Zeitpunkten operieren, durchgeführt werden.6 Tatsächlich macht es ja den Eindruck, dass, selbst wenn der Befund von Inglehart stimmen sollte, in den 20 Jahren seither nichts Entscheidendes hinsichtlich Bewusstseinsveränderung geschehen ist. Tatsächlich ist der Befund einer Erhebung, die 10 Jahre später in Deutschland durchgeführt worden ist, ein ähnlicher (siehe Abb.5). Sicher sind zwar inzwischen weitere Kreise der Bevölkerung für die Krise sensibilisiert worden. Gleichzeitig aber scheinen auch die konservativen Gegenkräfte stärker geworden zu sein und es zeichnet sich immer mehr eine allgemeine Polarisierung ab.
Abbildung 5: Charakterisierung der materialistischen und der postmaterialistischen Einstellung nach Werthaltungen (aufgrund von Daten aus dem sog. Wohlfahrtssurvey in Deutschland 1988, aus Spellerberg 1992, 28)
Abbildung 5: Charakterisierung der materialistischen und der postmaterialistischen Einstellung nach Werthaltungen (aufgrund von Daten aus dem sog. Wohlfahrtssurvey in Deutschland 1988, aus Spellerberg 1992, 28)
Inglehart ist auch der Meinung, ein Wandel der materiell-wirtschaftlichen Lebensverhältnisse könne sich über den Sozialisationsprozess der Individuen besonders tiefgreifend verändernd auf die Wertprioritäten auswirken. Er sagt, es sei entscheidend, ob die formativen Jahre unter Unsicherheit und Mangel oder aber unter Sicherheit und Wohlstand verbracht werden. Im ersten Fall würden sich eher “materialistische Wertprioritäten”, im zweiten eher Wertprioritäten mit einem “postmaterialistischen” Charakter herausbilden. Hier zeigt sich eine Anlehnung an die Sättigungsthese von Maslow, und in Abhängigkeit davon, wie weit wir dieser trauen wollen, werden wir vermutlich auch der Aussage von Inglehart mehr oder weniger Kredit einräumen.7
Vermutlich ist es überdies auch nicht richtig zu sagen, die Werthaltungen müssten sich vom einem Pol (materielle Ebene) zum anderen (soziale und Selbstverwirklichungs-Ebene) verschieben. Eher muss es im Sinne einer Ausgewogenheit zu einer Integration der verschiedenen Ausrichtungen kommen. In diesem Sinne postuliert Pierre Fornallaz die simultane Beachtung von Nachhaltigkeit, Gemeinschaft und Spiritualität als Grundlage für eine zukunftsfähige gesellschaftliche Entwicklung:
Im nachträglichen Überdenken dieser Erkenntnis muss man sie eigentlich als selbstver¬ständlich bezeichnen. Im ganzheitlichen Sinne kann sich das Geistig-Seelische nur im sozialen Einklang entfalten und diese Entwicklung kann nur in materiell nachhaltiger Form gesund sein.8

Anmerkungen

1
Hillmann 1989, 47.
2
Ich verweise an diesem Punkt auf das Konzept der “Selbstrealisierung” von Arne Naess (siehe 6.1.5 in “Bewusstsein”).
3
Bartelt u,.a. 1978, 42.
4
Siehe Ronald Inglehart 1979.
5
Nach Hillmann 1989, 163.
6
Vgl. Hillmann 1989, 164.
7
Siehe Hillmann 1989, 116-117.
8
Fornallaz 1996, 34.