www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Lebensstil

3.1 Vom Haben zum Sein

Die Wahrnehmung einer ökologischen Krise macht uns darauf aufmerksam, dass der von uns in den entwickelten Ländern gepflegte Lebensstil umweltunverträglich und nicht-nachhaltig ist und dass wir ihn deshalb verändern, sprich vereinfachen müssen. Dabei hilft uns die Einsicht, dass wir uns ins eigene Fleisch schneiden, wenn wir die bisherige Entwicklung ungehindert im gleichen Stil weiterlaufen lassen. Pierre Fornallaz, Mitbegründer des Ökozentrums Langenbruck, hat die Tatsache, dass wir bei einer weiteren Steigerung unseres materiellen Lebensstandards sukzessive unsere Lebensqualität vermindern, figürlich skizziert und in der Begrifflichkeit des Psychoanalytikers Erich Fromm die Notwendigkeit eines Übergangs von der jetzigen Existenzweise des Habens zu einer Existenzweise des Seins postuliert (siehe Abb.4).
Abbildung 4: Haben und Sein: Materiell und immateriell bedingte Lebensqualität (nach Fornallaz 1995, 24)
Abbildung 4: Haben und Sein: Materiell und immateriell bedingte Lebensqualität (nach Fornallaz 1995, 24)
Was ist damit gemeint? Lassen wir Fromm selbst sprechen. Zum Haben:
In der Existenzweise des Habens ist die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens, eine Beziehung, in der ich jedermann und alles, mich selbst eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will.1
Das Subjekt bin nicht ich selbst, sondern ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet mich und meine Identität. ... In der Existenzweise des Habens gibt es keine lebendige Beziehung zwischen mir und dem, was ich habe. Es und ich sind Dinge geworden, und ich habe es, weil ich die Möglichkeit habe, es mir anzueignen. Aber es besteht auch die umgekehrte Beziehung: Es hat mich, da mein Identitätsgefühl bzw. meine psychische Gesundheit davon abhängt, es und so viele Dinge wie möglich zu haben.2
Wirkliche Gesundheit aber kann nur in der Existenzweise des Seins erlangt werden, die “Le¬bendigkeit und authentische Bezogenheit zur Welt”3 bedeutet:
Gesundheit bedeutet, affektiv mit den Menschen und der Natur völlig verbunden zu sein, die Isoliertheit und Entfremdung zu überwinden, sich mit dem Existierenden eins zu fühlen - und doch mich als die separate Ganzheit, die ich bin, als das In-dividuum, das Ungeteilte, zu erleben.4
Gesundheit bedeutet endlich, dass man sein Ich fallen lässt, seine Habgier abstreift, nicht mehr der Erhaltung und Mehrung des Ich nachjagt, dass man ist und sich selbst im Sein und nicht im Haben, Bewahren, Begehren, Benützen erlebt.5
Werden, Aktivität und Bewegung sind Elemente des Seins.6

Anmerkungen

1
Erich Fromm 1981, 34.
2
Fromm 1981, 80-81. Der Autor weist auch darauf hin, dass diese durch die gesellschaftlichen Bedingungen entstandene Art des Habens vom für das Überleben notwendigen Behalten, Benützen usw. als existentieller Form des Habens zu unterscheiden ist (vgl. Fromm 1981, 88).
3
Fromm 1981, 34.
4
Fromm 1971, 118.
5
Fromm 1971, 119.
6
Beachte in diesen Beschreibungen von Fromm die Parallele zu Auffassungen, die in der buddhi¬stischen Bewusstseinslehre vertreten werden, insbesondere zur Aufforderung, unsere Anhaftung an den äusseren Dingen und an unserem eigenen Ich aufzugeben (vgl. 6.2 in “Bewusstsein”).