www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

8.1 Eine Typologie wirtschaftsethischer Denkmuster (Ulrich Thielemann)

Wie gesagt, beansprucht die Standardökonomie, eine “wertfreie” Theorie zu sein, die keine Möglichkeit hat, sich zu ethischen Fragen zu äussern, da sie ja “natürliche” Gesetzlichkeiten auf objektive Weise darstellt. Es existiert aber eine davon getrennte Wirtschaftsethik. Diese hat insbesondere mit dem wachsenden Bewusstsein, dass ökologische Schäden die Folge wirtschaftlicher Handlungen sind, in neuerer Zeit Aufschwung erhalten. Ökologische Probleme sind ethische Probleme, weil ökologisch rücksichtsvoll gehandelt werden soll, im engeren Sinne zu unserem eigenen Nutzen (anthropozentrische Perspektive), im weiteren Sinne auch mit Rücksicht auf andere Lebewesen, denen ein eigener moralischer Wert zuerkannt wird (ökozentrische Perspektive). Wie soll in einer Marktwirtschaft berechtigten ethischen Ansprüchen nachgekommen werden? Der St. Galler Ökonom und Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann sieht den Ansatzpunkt beim Handeln von am Marktgeschehen mitwirkenden Akteuren, besonders von Unternehmern. Er operiert dazu mit einer Typologie von Denkmustern, deren wirtschaftsethische Qualität er unter die Lupe nimmt. Er unterscheidet diese Muster nach den zwei Dimensionen des Problembewusstseins und der Wahrnehmungsform, woraus sich die Darstellung in Tab.5 ergibt. Hinsichtlich des Problembewusstseins stellt sich die Frage, ob zwischen Handeln nach marktwirtschaftlichen Regeln und ethischen Ansprüchen eher ein harmonisches Verhältnis oder aber eine Konfliktsituation gesehen wird. Im ersteren Fall kann an den bisherigen Verhaltensmustern festgehalten werden, im letzteren hingegen ist eine Neuorientierung gefragt. Hinsichtlich der Wahrnehmungsform wird eine Auffassung, die die Wirtschaft als System sieht, von einer alternativen Auffassung, für die die Wirtschaft Kultur ist, unterschieden. “Wirtschaft als System” bedeutet, dass sie als anonym wirkender, seiner eigenen Sachlogik folgender systemischer Zusammenhang wahrgenommen wird. Die Konsequenz: Sachzwänge bestimmen den Gang der Wirtschaft. Bei der “Wirtschaft als Kultur” ist die Ökonomie eine Lebenssphäre, ein normaler Teil der Lebenswelt, in der gleiche Normen gelten wie überall sonst auch.305
Tabelle 5: Eine Typologie wirtschaftsethischer Denkmuster, unterschieden nach Problembewusstsein und Wahrnehmungsform (nach Thielemann 1994, 49)
Problembewusstsein
Wahrnehmungsform
Wirtschaft als System
Wirtschaft als Kultur
Harmonismus
Systemethik
Ökonomismus
Individualethik
Konventionalismus
Konfliktbewusstsein
Institutionenethik
Reformismus
Bewegungsethik
Idealismus
Betrachten wir der Reihe nach die Eigenschaften der vier so unterschiedenen Typen von Denkmustern:
1
Ökonomismus: Zwischen wirtschaftlichem Handeln und ethischen Ansprüchen gibt es keinen Konflikt, weil die “unsichtbare Hand” des Marktes garantiert, dass viele ökonomische Handlungen in ihrem Zusammenwirken zu einem ethisch richtigen Resultat führen. Der durch die Marktkräfte entstehende Systemzusammenhang wird also geradezu als eine un- oder überpersönliche Macht gesehen (vgl. dazu die Bemerkungen von Binswanger zur Wurzel dieser Auffassung in der stoischen Philosophie in 6.1); deshalb ist es durchaus angebracht, hier von “Systemethik” zu reden. Das heisst allerdings nicht, dass ein Marktteilnehmer sich verhalten kann, wie er will, sondern er muss sich, um seine eigene Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft verbessern oder mindestens konservieren zu können, den Zwängen des Marktes unterwerfen, und er tut dies, indem er seine eigenen Interessen und Selbstbehauptungschancen in strategischer Manier an den Interessen und Selbstbehauptungschancen aller anderen ausrichtet, und zwar langfristig kalkulierend. Natürlich ist dies angesichts der Anonymität des Marktgeschehens in einem konkreten Sinne unmöglich, aber hier ist nun das Schöne an diesem Geschehen, dass es automatisch für eine wechselseitige Kontrolle sorgt, solange die Teilnehmenden in ihrem Handeln der Marktlogik folgen.306 Konkret bedeutet dies etwa für einen Unternehmer - ganz im Sinne des Weberschen Kapitalismus-Geistes (vgl. 2.4.6) -, persönliche Konsuminteressen zurückzunehmen, mittels asketischem Sparen die Bildung von Kapital zu fördern und dieses wieder in die Unternehmung zu investieren.307 Aus dieser Sicht wird der Ausspruch des amerikanischen Ökonomen Milton Friedman: “The social responsibility of business is to increase its profits” verständlich.308
Zweifellos ist diese Art von Gesinnung angesichts der ökologischen Krise wenig hilfreich. Im Bewusstsein dieser Krise hat sich aber eine modifizierte Form des Ökonomismus herausgebildet, die behauptet, dass das Bestreben nach langfristiger Marktbehauptung und die Ausrichtung an ökologischen Kriterien zusammenfallen, z.B. weil ressourcenschonendes Wirtschaften effizienter ist, oder weil Angehörige eines zunehmend ökologisch sensibilisierten Publikums als Konsumenten und Konsumentinnen sonst abspringen. Ein Beispiel für diese Art von Denken ist der vom Unternehmer Stephan Schmidheiny propagierte “Kurswechsel”,309 der im wesentlichen einfach in einer Vertiefung und Intensivierung der unternehmerischen Erfolgs- und Wettbewerbsorientierung besteht. “Der Fortschritt in Richtung nachhaltige Entwicklung ist im wohlverstandenen Geschäftsinteresse begründet, da er Wettbewerbsvorteile und neue Chancen schaffen kann.”310 Dabei wird übersehen, dass damit eine Garantie für eine dauerhaft ökologisch verträgliche Ausrichtung nicht gegeben ist, weil z.B. eine ressourcensparende Effizienzsteigerung durch einen Mengenzuwachs der Produktion längst wieder kompensiert oder überkompensiert werden kann.311
2
Konventionalismus: Diese Bezeichnung erinnert an die konventionelle Stufe der moralischen Entwicklung bei der Theorie von Lawrence Kohlberg (vgl. 5.2 in “Bewusstsein”) und tatsächlich stützt sich das damit verknüpfte Denkmuster auch auf die Existenz von kulturell eingespielten Konventionen, die auch das Wirtschaftssystem betreffen: Die mit wirtschaftlichem Tun verbundene Moral ist nicht anders als bei allem Sonstigen, das in der Gesellschaft geschieht, und somit besteht auch kein Anlass, einen Konflikt zwischen diesem Tun und ethischen Ansprüchen zu sehen. Thielemann erläutert, wie sich aus dieser Vorstellung eine Unternehmerethik personalistischer Art ableitet, die sich auf das Konzept der Selbstverantwortung stützt - insofern können wir hier von Individualethik reden. Selbstverantwortlich handelt ein Unternehmer, wenn er bereit ist, die als selbstverständlich geltenden Normen wirklich zu befolgen. Dies setzt aber voraus, dass er weiss, was das Selbstverständliche und damit moralisch Richtige ist. Umgekehrt handelt nicht selbstverantwortlich, wer sich durch die Möglichkeit von Machtmissbrauch verführen lässt - im Gegensatz zur ökonomistischen Auffassung wird hier anerkannt, dass die Unternehmensführung über Macht verfügt.312 Auch im schon erwähnten Buch von Schmidheiny kommen personalistische Elemente vor; so beschwört er den Unternehmergeist:
Taten sind gefordert. Aber welche Taten zu welchem Zeitpunkt, angesichts der immensen Unwägbarkeiten? Unternehmer sehen sich solchen Problemen täglich ausgesetzt. Sie sind es gewohnt, unsichere, negative Trends zu analysieren, Entscheidungen zu fällen und zu handeln, Anpassungen vorzunehmen und Kosten in Kauf zu nehmen, um Schaden zu verhüten.313
Das Problem dabei: “Der Manager, der immer wieder emphatisch seinen unternehmerischen Geist betont, versteht sich offenbar als Mitarbeiter am Projekt der Nutzbarmachung und Rationalisierung ‘der Welt’.”314 Die Perspektive der Weltbeherrschung wird als zum selbstverständlichen Bestand unserer Kultur gehörend betrachtet, und somit löst sich das ökologische Problem mittels einer weiteren Verbesserung dieser Beherrschung.315
3
Reformismus: Hier wird nun also nicht mehr eine quasi von Natur aus oder aber durch die Kultur gegebene Harmonie zwischen Wirtschaft und Ethik behauptet, sondern es wird zugegeben, dass es gerade hinsichtlich der Umweltprobleme ein Marktversagen gibt. Mit dieser Einsicht wird allerdings nicht die Marktlogik an sich in Frage gestellt, sondern es wird nur der Bereich, in dem diese spielen kann, als ungenügend gross gesehen. Mit anderen Worten, es werden Korrekturmassnahmen von der Art der Internalisierung externer Effekte vorgeschlagen, wie wir sie im Abschnitt zur Umweltökonomie (siehe 7.1) besprochen haben. Damit diese durchgesetzt werden können, braucht es eine vom Markt unabhängige ordnungspolitische Instanz, die die notwendigen Rahmenbedingungen setzt. In diesem Sinne kann hier von Institutionenethik gesprochen werden: Die Beantwortung der ethischen Frage wird also an ein übergeordnetes, autonomes Rechtssystem delegiert. Aus der Perspektive der Marktwirtschaft ist dabei wichtig, dass dieser Rahmen neutral ist, d.h. zu keiner Wettbewerbsverfälschung führen kann. Hinsichtlich der internationalen Szene heisst dies natürlich, dass es eine derartige Instanz letztlich auf globaler Ebene geben muss, sonst werden ökologisch fortschrittliche Staaten für ihr Engagement ökonomisch bestraft. Tatsächlich gibt es ja im Gefolge der Rio-Konferenz von 1992 Anstrengungen, um zu einem international verbindlichen Plan zur Reduktion der CO2-Emissionen zu gelangen, angesichts der Tatsache, dass die moderne Marktwirtschaft eine “Verkehrswirtschaft” und ohne den Verbrauch fossiler Energieträger nur schwer vorzustellen ist, allerdings ein paradoxes Unterfangen, wie Thielemann bemerkt.316 Überhaupt wird eine ordnungspolitische Konversion der jetzigen zur ökologischen Marktwirtschaft das Problem nicht grundsätzlich lösen. Der Marktbehauptungszwang ist nach wie vor da, und es wäre deshalb zu befürchten, dass versucht würde, die Einhaltung ökologisch verbindlicher Standards mittels einer Verletzung anderer Wertgesichtspunkte, z.B. durch ein “soziales Dumping”317 zu kompensieren. Nach Thielemann bräuchte es hier einen grundlegenden weiteren Schritt, nämlich eine globale Strategie der Markt- und Wachstumsbegrenzung, die auch eine Befreiung von Marktbehauptungszwängen gewährleisten könnte. Dafür wäre aber eine passende Umformulierung der ökonomischen Theorie unerlässlich.318
4
Idealismus: Bei diesem letzten Denkmuster wird das Wirken eines kulturellen Hintergrundes anerkannt. Nicht eine mangelnde Bereitschaft, den damit zusammenhängenden Werten und Normen zu folgen, wird als Problem gesehen, sondern dass diese Werte und Normen selbst ökologisch unverträglich und deshalb durch neue abzulösen sind. Was es dazu braucht, ist ein grundsätzlicher Bewusstseinswandel - in diesem Sinne ist die Bezeichnung “Bewegungsethik” angebracht. Als Beispiel einer solchen Position nennt Thielemann das Manifest der sog. Beaulieu-Gruppe mit dem Titel “Aufbruch von innen”, das aufgrund einer Gemeinsamkeit der Wurzeln von Ökologie und Spiritualität die Möglichkeit der Entwicklung einer ökospirituellen Kultur postuliert, die dann auch die Praxis im Bereich von Politik und Wirtschaft passend verändern würde.319 Man hätte sich vorstellen können, dass ein solches Anliegen an die sog. tiefenökologischen Vorstellungen des norwegischen Ökophilosophen Arne Naess (vgl. 6.1.5 in “Bewusstsein”) anknüpfen würde, was nicht der Fall ist, aber zweifellos geht es in einer entsprechenden Richtung. Thielemann wirft der Beaulieu-Idee ein gewisse Naivität vor: Sie gehe von der Vorstellung einer autonomen Lebenswelt aus, die imstande sei, die Marktgesellschaft unter die Fittiche sozial-integrativer Zusammenhänge und lebenspraktischer Werte zu bringen. Als konkretes Beispiel für diese naive Haltung erwähnt er die Vorstellung einer KonsumentenInnen-Souveränität, die den jetzigen Markt in eine ökologische “Volksbewegung” zu transformieren vermag. Diese Auffassung verkenne völlig den schon von Max Weber diagnostizierten unpersönlichen und eigengesetzlichen Systemcharakter der Marktgesellschaft, der gerade durch das anonyme Zusammenspiel der am Markt Teilnehmenden, und zwar über eine funktionale Verflechtung ihrer Handlungsfolgen (nicht der Handlungsabsichten!) zustande komme, so Thielemann.320
Das Fazit: Wenn ich Thielemann richtig verstehe, sieht er einzig mit dem Hintergrund eines reformistischen Denkmusters eine Chance, eine Ökologisierung der Wirtschaft bewirken zu können. Dazu braucht es aber institutionelle Innovationen, und zur Frage, wie es zur genannten notwendigen Milderung der Wettbewerbszwänge kommen soll, sagt Thielemann nichts. Hier, so scheint mir, ist eben doch ein weitreichender Bewusstseinswandel die Voraussetzung dafür, dass die nötigen politischen Weichenstellungen wie auch die Formulierung einer modifizierten ökonomischen Theorie überhaupt zustande kommen können. Im folgenden Abschnitt betrachten wir das konkrete Konzept einer kulturellen Ökonomie, das wohl Elemente der beiden letzten Denkmuster, des Reformismus und des Idealismus, in sich vereinigt.

Anmerkungen

305
Vgl. Ulrich Thielemann 1994, 49-50.
306
Dazu Lothar Mayer (1992, 44): “Das ist der diskrete Charme der Marktwirtschaft. Sie hält alles von uns fern, was das schöne Gefühl, dass man ein guter und anständiger Mensch ist, trüben könnte.”
307
Nach Thielemann 1994, 51-53.
308
Milton Friedman 1970.
309
Siehe Stephan Schmidheiny 1992.
310
Schmidheiny 1992, 14.
311
Vgl. Thielemann 1994, 53-55.
312
Siehe Thielemann 1994, 55-56.
313
Schmidheiny 1992, 30.
314
Thielemann 1994, 56.
315
Vgl. Thielemann 1994, 56-57.
316
Thielemann (1994, 62) weist darauf hin, dass Max Weber schon zu Anfang dieses Jahrhunderts erkannte, dass das “stahlharte Gehäuse” der modernen Wirtschaft “den Lebensstil aller Einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren sind ... mit überwältigendem Zwang bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist” (Weber 1984, 188).
317
Ein soziales Dumping liegt z.B. vor, wenn eine Situation mit beträchtlicher Arbeitslosigkeit durch die Bezahlung tiefer Löhne ausgenützt wird.
318
Nach Thielemann 1994, 62-64.
319
Siehe Beaulieu-Gruppe 1992. Zu dieser Gruppe gehören u.a. Thomas Imboden, heute Leiter der Schweizer Sektion des “Global Action Plan” (GAP), der mit Haushalten Versuche zur Lebensstil-Vereinfachung durchführt, und Elisabeth Stern, heute Verwaltungsratspräsidentin der Versicherungs Treuhand Zürich AG (VTZ), die Investitionsmöglichkeiten in Anlagefonds fördert, die aus Papieren von nach bestimmten ökologischen Kriterien operierenden Firmen bestehen.
320
Nach Thielemann 1994, 58-61.