www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

5.3.1 Ökonomik versus Chrematistik

Die geschilderten Mechanismen der Umverteilung stellen ökonomische Aspekte von politischen Gesellschaften dar, die einerseits völlig in die politischen Strukturen eingebettet sind, andererseits diese Strukturen auch stützen. Wie steht es nun aber mit dem Handel, der in schwächerem Mass unter politischer Kontrolle stattfindet? Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass auch in diesem Sektor kaum Spuren von Marktmechanismen im heutigen Sinne gefunden werden können, d.h. Eigennutz und Wettbewerb waren im allgemeinen noch keine treibenden Kräfte. Ich sage im allgemeinen, weil es offenbar schon Ausnahmen gab, was Aristoteles zu seiner fundamentalen Unterscheidung von Ökonomik und Chrematistik veranlasste:
Ökonomik ist die Lehre vom Haus, von der Versorgung des Hauses, wobei Haus zu verstehen ist als Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft, und diese Vorstellung der Idee nach auch ein Dorf, eine Stadt, ein Kloster ... umfassen kann. Die Oikonomia ... basiert auf der Natur und ihren Produkten, auf jenen Gütern, die für das Leben notwendig und nützlich sind, und ist damit naturgemäss ... Ganz anders ... die Chrematistik, die Kaufmannskunst. Bei dieser ist es nicht so, dass der Handel der Selbstgenügsamkeit gerecht wird, sondern er geht weit über das hinaus, was an sich notwendig wäre - strebt nach Genuss in der Überfülle, dient der persönlichen Bereicherung und führt zu einem unersättlichen Reichtumsstreben, womit dann auch das Phänomen der allgemeinen Knappheit an Gütern überhaupt erst auftritt.200
Tatsächlich stellte ein so verstandener Handel für das Denken und die Moral der Zeit im Vergleich zu den landwirtschaftlichen und auch noch handwerklichen Tätigkeiten geradezu einen Skandal dar.201 Im grossen ganzen spielte er sich aber noch nicht marktmässig nach Profitgesichtspunkten ab, obschon sich im antiken Griechenland Geld als Wertmassstab und als Zahlungsmittel bereits etabliert hatte. Es waren eher traditionelle Richtlinien bezüglich relativer Austauschverhältnisse massgebend - z.B. betrug das Verhältnis von Gerste zu Weizen meist etwa 1 : 2. Getreide wurde in bestimmten Regionen und zu bestimmten Jahreszeiten zu “üblichen Preisen” gehandelt, was heisst, dass die Preise zwar nicht fix waren, aber doch um ein mehr oder weniger feststehendes Niveau schwankten. Worauf die Schwankungen zurückzuführen sind, ist nicht rekonstruierbar. Es scheint aber klar zu sein, dass sie kaum einen Einfluss auf Angebot und Nachfrage hatten, d.h. das Verhalten von Verkäufern und Käufern richtete sich wenig nach dem Preisniveau.202 Wie wenig noch in der Antike ein ökonomisches Denken im heutigen Sinne vorhanden war, zeigt auch die Tatsache, dass eine Buchführung weitgehend unbekannt war und dass es auch keine institutionalisierte Trennung zwischen einer privaten und einer betrieblichen Sphäre gab; handwerkliche Tätigkeiten und das Familienleben spielten sich unter dem gleichen Dach ab.203

Anmerkungen

200
Hans-Peter Studer 1987, 28-29. Zum Gegensatz von Ökonomik und Chrematistik siehe auch Furger 1994, 187 ff. Eine vergleichende Interpretation hinsichtlich der Gegenwartsbedeutung liefert Hans Immler 1990, 39 ff.
201
Vgl. Vernant 1973, 269.
202
Vgl. Furger 1994, 179 ff. Der Autor stützt sich auf A. Jardé 1979.
203
Nach Furger 1994, 182 ff.