www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

2.4.2 Fabrikarbeit

Die Heimindustrie spielt eine Vorreiter-Rolle für die spätere, nach dem Fabriksystem der Grossindustrie (factory system) organisierte Textilverarbeitung (Seide, Baumwolle), die dann zum eigentlichen Motor der industriellen Revolution wird.92 Gleichzeitig läuft der Prozess der Einhegungen bis ins 18. Jh. weiter und führt zu einer fast völligen Ausschaltung des bäuerlichen Besitztums und zur Entvölkerung der ländlichen Gebiete.93 Insbesondere beraubt er auch viele Heimarbeits-Familien ihrer bisher noch übriggebliebenen landwirtschaftlichen Basis.
Solange die Heimarbeit ergänzt werden konnte durch die Erträge eines Kleingartens, eines kleinen Stück Bodens oder der Weiderechte, solange war die Abhängigkeit des Arbeiters vom Lohneinkommen nicht absolut. Ein kleines Kartoffelfeld, einige Gänse oder eine Kuh, oder auch nur ein Esel auf der Gemeinweide war hier entscheidend ...94
Jedenfalls: Die zunehmende Zahl von Landlosen wird zum Arbeitskraft-Reservoir für die industrielle Produktion. Die Erfindung von komplizierten, speziellen und damit kapitalintensiven Maschinen führt nun zur Etablierung des Fabriksystems (vgl. Abb.8), womit sich das Verhältnis des Kaufmanns zur Produktion ändert. Bisher war die industrielle Produktion ein Anhängsel des Handels, sie wurde vom Kaufmann im Rahmen seiner Kaufs- und Verkaufstätigkeit organisiert.95 Jetzt findet eine entscheidene Verschiebung der relativen Bedeutung von Handel und gewerblicher Wirtschaft zugunsten der letzteren statt, und diese Wirtschaftsform verlangt langfristige Investitionen, die mit entsprechenden Risiken verbunden sind.
Abbildung 8: Ein Eisenwerk im Jahre 1827, das offenbar als Energiequelle sowohl Wasser- wie Dampfkraft benutzt. Die Eisenbarren werden mittels Lastkähnen auf dem Fluss transportiert (aus Wright 1972, 27)
Abbildung 8: Ein Eisenwerk im Jahre 1827, das offenbar als Energiequelle sowohl Wasser- wie Dampfkraft benutzt. Die Eisenbarren werden mittels Lastkähnen auf dem Fluss transportiert (aus Wright 1972, 27)
Die Arbeitenden in den Baumwollspinnereien und -webereien bestanden, neben speziellen Arbeitern, die für die Betreuung der Maschinen und gewisse Behandlungen der Textilien zuständig waren, zu einem grossen Teil (bis zu zwei Drittel) aus Frauen und Kindern. Hatte unter den Bedingungen der Heimindustrie noch eine Arbeitsdisziplin im Verband der Familie etabliert werden können, war der Unternehmer nun mit dem Problem konfrontiert, zwecks reibungslosem Produktionsablauf Menschen in einer für sie völlig ungewohnten Situation zu einer geregelten Arbeit bringen zu müssen. Dazu wurden strenge Vorschriften aufgestellt:
... the codes developed the distinctive voice of the concentration camp:
1st. The door of the lodge will be closed ten minutes after the engine starts every morning, and no weaver will afterwards be admitted till breakfast time. Any weaver who may be absent during that time shall forfeit threepence per loom.
2nd. Weavers absent at any other time when the engine is working will be charged three-pence per hour each loom for such absence; and weavers leaving the room without the consent of the overlooker, shall forfeit threepence ...
9th. All shuttles, brushes, oil-cans, wheels, windows, etc., if broken shall be paid for by the weaver. ...
11th. If any hand in the mill is seen talking to another, whistling, or singing, he will be fined sixpence ...96
Ein besonders düsteres Kapitel dieser Zeit ist die Arbeit von Kindern, die von 7 oder 8 Jahren an 12-15 Stunden täglich in der Fabrik stehen, mit nur einer Stunde Pause für die Mahlzeiten. Zwar hatten sie schon vorher zu Zeiten der Heimarbeit zuhause streng arbeiten müssen, aber damals wenigstens unter der sorglichen Aufsicht der Eltern. Vom deutschen Demokraten und Sozialreformer Wilhelm Schulz (1797-1860) gibt es einen Bericht, in dem er schreibt:
In den von Dampf und Wasser getriebnen englischen Spinnereien arbeiteten im Jahr 1835: 20 558 Kinder zwischen 8-12 Jahren; 35 867 zwischen 12-13 und endlich 108 208 zwischen 13-18 Jahren ... Freilich wirken die weiteren Forschritte der Mechanik, da sie alle einförmigen Beschäftigungen den Menschen mehr und mehr aus der Hand nehmen, auf eine allmähliche Beseitigung des Missstandes hin. Allein diesen rascheren Fortschritten selbst steht grade der Umstand im Wege, dass sich die Kapitalisten die Kräfte der untern Klassen, bis in das Kindesalter hinein, auf die leichteste und wohlfeilste Weise aneignen können, um sie statt der Hilfsmittel der Mechanik zu brauchen und zu verbrauchen.97
Kein Wunder, dass sich die meisten Fabrikbesitzer, die von dieser Situation enorm profitierten, sich so lange wie mögliche gegen gesetzliche Regelungen der Arbeitszeit wehrten. Solche wurden dann aber vom Parlament in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. verschiedentlich erlassen, zunächst aber ohne gleichzeitig auch Mittel zu deren Durchsetzung zu sprechen, womit sie toter Buchstabe blieben. Erst 1833 gab es ein für die Textilindustrie geltendes Fabrikgesetz, das die Arbeitszeit von Kinder und Jugendlichen einschränkte: Zwar galt als Normalarbeitstag weiterhin einer von 15 Stunden, aber Kinder im Alter von 9-13 Jahren durften fortan nicht länger als 8, Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren nicht länger als 12 Stunden täglich arbeiten.98

Anmerkungen

92
Siehe Sée 1948, 134.
93
Vgl. Sée 1948, 176.
94
Polanyi 1977, 123.
95
Vgl. dazu Polanyi 1977, 101.
96
Aus einem Fabrikreglement von 1844, zitiert in Wright 1972, 28. Loom = Webstuhl, forfeit = verwirken, einbüssen.
97
Zitiert in Marx 1970, 103.
98
Nach Studer 1987, 111. Zur Kinder- und Frauenarbeit in der Industrie siehe auch Sée 1948, 184.