www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

7.2.2 Das Konzept des Naturkapitals von Herman E. Daly

Im Gegensatz zur von der Standardökonomie vertretenen These der problemlosen Substituierbarkeit der Produktionsfaktoren (vgl. 6.1), die in einem Konkurrenzdenken beheimatet ist, geht Daly von einer Komplementarität aus, insbesondere einer Komplementarität von vom Menschen geschaffenen Kapital und von Naturkapital, die als Ausdruck eines Denkens in Begriffen von Kooperation verstanden werden kann. Das Naturkapital wird vom Bestand an natürlichen Ressourcen gebildet, die, jedenfalls wenn sie erneuerbar sind, wiederkehrende ökologische Dienstleistungen erbringen. Komplementär sind die beiden Kapitalformen, weil sie sich gegenseitig ergänzen. Insbesondere aber verliert das anthropogene Kapital an Wert, wenn es nicht durch Naturkapital unterstützt wird. “Welchen Nutzen haben Fischerboote ohne Fische, Sägemühlen ohne Wälder?”299 Daly propagiert nun eine steady-state economy, eine Fliessgleichgewichts-Ökonomie, deren Durchsatz konstant bleibt und auf einem Niveau ist, das weder die Regenerationsfähigkeit noch die Absorptionskapazität der Umwelt gefährdet, also den Bestand an Naturkapital im wesentlichen, d.h. mindestens von einem bestimmten Punkt an, intakt lässt.300
Die höchsten Kosten entstehen, wenn man bestimmte Ökosystemleistungen opfert, indem Naturkapitalbestände als Quelle für mehr Durchsatz statt als Quelle direkter Ökosystemleistungen genutzt werden. Durchsatz beginnt mit Entnahme und endet mit Verschmutzung - beides bedeutet Kosten in einer "vollen Welt". Deshalb ist es sinnvoll (d.h. ökonomisch), für jeden gegebenen Bestand den Durchsatz zu minimieren.301
Als Beurteilungsinstrument schlägt Daly ein ökologisch-ökonomisches Effizienzkriterium der Form m / n vor, wo m = Dienstleistungsmenge (Nutzen), die sich pro Einheit des vom Menschen geschaffenen Kapitals gewinnen lässt, und n = Dienstleistungsmenge, die dafür pro Einheit natürliches Kapital geopfert wird, weil dieses durch die Konversion zu anthropogenem Kapital verloren geht.302 Die Effizienz ist hoch, wenn das Verhältnis von m zu n gross ist. Bezeichnen wir weiter mit M den Bestand an anthropogenem Kapital, mit N denjenigen an natürlichem Kapital und mit D den Durchsatz durch das Wirtschaftssystem. Dann lässt sich das Effizienzmass als Produkt von vier Komponenten darstellen:
(m / n) = (m / M) • (M / D) • (D / N ) • (N / n).
Die erste Komponente, m / M, beschreibt die Dienstleistungseffizienz der Bestände an menschgemachtem Kapital. Sie hängt von den drei Faktoren Produktionstechnik, Ressourcenallokation und Einkommensverteilung ab. Die beiden ersten werden auch von der Standardökonomie in diesem Sinne behandelt, während der letzte im Zusammenhang mit einer Effizienzbetrachtung ungewöhnlich ist. Daly ist aber der Ansicht, dass dessen Berücksichtigung ganz im Sinne einer utilitaristischen Überlegung den Gesamtnutzen der Gesellschaft steigern kann, indem nämlich bei einer gleichmässigeren Verteilung Ressourcen vom niedrigen Grenznutzen der Reichen auf den hohen Grenznutzen der Armen umverteilt werden. “In einer 'vollen Welt' darf die Steigerung der Effizienz durch Umverteilung ... nicht länger negiert werden.”303
Die zweite Komponente, M / D, trägt in grossem Masse zur Gesamteffizienz bei, wenn aus einem gegebenen Durchsatz viel anthropogenes Kapital hergestellt werden kann, bzw. wenn für eine gegeben Kapitalmenge nur wenig Durchsatz benötigt wird. Sie bezieht sich somit auf die Unterhaltseffizienz oder Dauerhaftigkeit der Kapitalbestände, die durch die Herstellung von langlebigen, reparaturfähigen und rezyklierbaren Produkten gesteigert wird.
Mit der dritten Komponente, D / N, ist die Wachstumseffizienz angesprochen, d.h. der vom natürlichen Kapital erbrachte Zuwachs, der in den Durchsatz einfliessen kann, in seinem Verhältnis zum gesamten Bestand an natürlichem Kapital. Dieser Zuwachs hängt von der biologischen Reproduktionsrate der genutzten Populationen des Ökosystems ab. Eine Bevorzugung von schneller wachsenden gegenüber langsamer wachsenden Ressourcen würde also die Effizienz steigern. Aber Vorsicht: Die Erfahrungen der grünen Revolution haben gezeigt, dass speziell auf eine erhöhte Reproduktionsrate hin gezüchtete Kulturpflanzen (z.B. Weizen, Reis) u.U. unter einem Mangel an Stabilität, Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft leiden.
Die vierte Komponente schliesslich, N / n, bezeichnet die ökologische Leistungseffizienz, ausgedrückt durch die Bestände an Naturkapital, die durch ihre Verwendung als Ressourcen für die Produktion oder als Senken für Abfälle verloren gehen, gemessen an den Dienstleistungen, die sie dadurch nicht mehr erbringen können. Dabei ist folgendes zu beachten: Auch ein hinsichtlich des Holzertrags nachhaltig, aber maximal genutzter Wald verliert an Dienstleistungskapazität, weil z.B. durch die praktizierte Wirtschaftsweise wild lebenden Pflanzen und Tieren Lebensräume verloren gehen. Relation vier wird üblicherweise völlig ignoriert, ist aber für das Ziel einer steady-state economy äusserst wichtig. Sie zeigt, dass kritisches Naturkapital unversehrt gelassen und überhaupt die Substitution von Naturkapital durch menschgemachtes Kapital über einen bestimmten Punkt hinaus vermieden werden sollte. Genau genommen würde dies die Nutzung nicht-erneuerbarer Ressourcen ausschliessen, aber die würde bedeuten, dass sie nie für irgendwen einen Nutzen haben könnten. Daly schlägt deshalb die Regel der “Quasi-Nachhaltigkeit” vor: Nicht erneuerbare Ressourcen sollen nicht schneller verbraucht werden als ein erneuerbarer Ersatz entwickelt werden kann.
Insgesamt kann diese Art von analytischer Betrachtung mithelfen, ein optimales Niveau für die Wirtschaftstätigkeit zu finden. Allerdings wäre dann noch zu diskutieren, was “optimal” heissen kann oder soll. Mit der vorgeschlagenen Analyse wird die Situation ausschliesslich aus anthropozentrischer Perspektive begutachtet, d.h. alles im Hinblick auf seinen Wert für das menschliche Wohlergehen beurteilt. Würden wir dagegen einen Eigenwert der Natur anerkennen, müsste sich dies wesentlich auf die betrachteten quantitativen Grössen auswirken und das, was wir als optimales Niveau des ökonomischen Tuns ansehen könnten, beträchtlich erniedrigen.304

Anmerkungen

299
Daly 1994, 148.
300
Siehe dazu ausführlich Daly 1991.
301
Daly 1994, 150-151.
302
Vgl. Daly 1994, 151-154.
303
Daly 1994, 152.
304
Vgl. Daly 1994, 154.