www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

6.1 Einige dogmengeschichtliche Hintergründe

Die Entstehung der Ökonomie als Wissenschaft hängt mit der im Zuge der Aufklärung geschehenden Mobilisierung des politischen und wirtschaftlichen Denkens zusammen. Es ist dabei von der “klassischen Phase” die Rede, die mit Personen wie dem Schotten Adam Smith (1723-1790), dem Franzosen François Quesnay (1694-1774) und den Engländern Thomas Robert Malthus (1766-1834) und David Ricardo (1772-1823) verknüpft ist. Die Entwicklung lebte vom Kontakt mit der bürgerlichen Moralphilosophie, vertreten durch den Schotten David Hume (1711-1776), den englischen Begründer der philosophischen Richtung des Utilitarismus243, Jeremy Bentham (1748-1832), sowie andere Utilitaristen, und auch durch Smith selbst.244 Allen diesen Denkern war gemeinsam, dass sie “den Zeitgeist des materiell besitzenden, wirtschaftlich tätigen und sich gegen die alten Autoritäten auflehnenden Dritten Standes, des Bürgertums” artikulierten.245
Hier treten wir nur kurz auf die Vorstellungen von Adam Smith ein, der aufgrund seines 1776 erschienenen Werkes “An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations”246 als Begründer der modernen Nationalökonomie gilt. Während für die Merkantilisten der Handel eine zentrale Rolle spielte,247 sah Smith in der Produktionssphäre von Industrie und Gewerbe eine Hauptquelle nationalen Wohlstandes. Bedeutsam ist aber vor allem, dass er in seinem Werk die für die damalige Zeit höchst ungewöhnliche Idee eines “laissez faire” aufgriff,248 d.h. die Vorstellung, dass, wenn alle ihre Erwerbstätigkeit frei nach ihren Eigeninteressen ausrichteten, sich das wirtschaftliche Leben völlig selbst regulieren und zu allgemeinem Wohlstand führen würde. Dieser Vorschlag passte sehr gut zu den Bedürfnissen der Zeit: Das Bürgertum war damals im Begriff, seine wirtschaftliche Vorherrschaft anzutreten und dankbar für eine aus der Wissenschaft stammende Legitimation seines Tuns.249 Hinter der Selbstregulierung sah Smith ein Prinzip am Werk, das er die “unsichtbare Hand” nannte. Was darunter zu verstehen ist, schildert der St. Galler Ökonom Hans Christoph Binswanger so:
Ihr [der unsichtbaren Hand] gemäss wird jeder trotz seiner ausschliesslich auf den Eigennutz gerichteten Handlungsweise im Endeffekt dazu beitragen, dass nicht nur er, sondern alle - auch die unmittelbar Geschädigten - von seinem eigennützigen Streben, von seiner Habgier profitieren.250
Als Beispiel für das Wirken dieser unsichtbaren Hand führte Smith etwa den Fall des Bodens auf: Dessen gerechte Verteilung ist nicht notwendig, weil die Reichen, die Eigentümer des Bodens sind, dank der Konkurrenz gezwungen werden, ihre Produktion zu steigern und immer mehr und billiger zu verkaufen. Dadurch aber werden die Armen, die bei der Verteilung des Bodens leer ausgegangen sind, als Konsumenten begünstigt. Schlussendlich stehen alle fast gleich gut da (!).251 Wie Binswanger zeigt, lässt sich das hinter diesem mirakulösen Geschehen stehende Gedankengut auf die antike Philosophie der Stoa zurückführen, die sich als Alternative zum Christentum etabliert hatte. In der Lehre des letzteren stehen Gut und Böse im weltlichen Bereich in einem unüberwindlichen Gegensatz. Der stoischen Vorstellung zufolge gab es dagegen eine Weltvernunft, die dafür sorgte, dass, wie immer auch die Menschen sich verhielten - weise und tugendhaft oder töricht und lasterhaft -, Gutes daraus geschaffen wurde. Für die leitenden Figuren des römischen Imperiums diente sie als Rechtfertigung für ihre Expansionsbestrebungen. Für die modernen Ökonomen aber bedeutet die Übernahme dieser Art des Denkens, dass sie eine “Glaubensgemeinschaft” darstellen.252
Weniger bekannt ist, dass “Der Wohlstand der Nationen” nicht Smiths erstes Hauptwerk war, sondern dass ihm ein schon 1759 veröffentlichtes Buch mit dem Titel “The Theory of Moral Sentiments” vorausging.253 Zwischen den beiden Büchern gibt es einen Bruch, indem auf die moralischen Grundlagen menschlichen Tuns, die im ersten diskutiert werden, im zweiten kaum mehr Bezug genommen wird. Nach Hans-Peter Studer ist diese Diskrepanz geradezu zwingend notwendig, denn sonst hätte sich Smith in unüberwindliche Widersprüche verwickeln müssen. Im ersten Buch redet er davon, dass “Reichtum und Grösse blosser Tand sind, dass ihr Nutzen lächerlich gering ist”. Im zweiten Buch dagegen sieht Smith das Streben der Menschen nach Reichtum als einen gewissermassen naturgesetzlichen und damit moralisch nicht bewertbaren Vorgang.254 Sie sind mit einem natürlichen bzw. gottgegebenen Hang zum Feilschen und Tauschen ausgestattet; das möglichst gewinnbringende Kaufen und Verkaufen von Waren und im weiteren Sinne die sich daraus ergebende Marktordnung sind deshalb nichts Künstliches.255
Die mit der klassischen Phase des ökonomischen Denkens verbundene Aufbruchstimmung erhielt mit den im Zuge der Industrialisierung auftretenden Problemen einen Dämpfer. Es traten Kritiker wie Karl Marx auf den Plan. Verschiedene Aspekte seiner Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie haben wir schon in 3.2 in “Kulturelle Evolution”, in 7.1 in “Politisches”, sowie in 1.3 und 2.2.4 in diesem Skript kennengelernt. Eines seiner Hauptthemen waren die Konsequenzen des kapitalistischen Systems für den vierten Stand, die Arbeiterschaft. Ab etwa 1870 gab es dann einen Neubeginn der bürgerlichen Ökonomie, eine Entwicklung, die sich bis heute als vorherrschendes Denken (“Mainstream”) fortgesetzt hat und Neoklassik genannt wird. Ulrich Hampicke sieht die Neuerung als durch zwei entscheidende Standbeine gestützt:256
1
Die von den alten Autoren, auch von Marx, vertretene Werttheorie hatte einen objektivistischen Charakter, indem der Wert eines Produktes mit den für seine Herstellung anfallenden Kosten, insbesondere auch den Kosten der Arbeit, in Verbindung gebracht wurde. Demgegenüber führte nun die neoklassische Ökonomie eine konsequent subjektivistische Wertlehre ein, die den Wert einer Ware im Nutzen sieht, den sie für die einzelnen Individuen hat.
2
Nach dem Vorbild der Physik wurde versucht, die ökonomischen Aussagen einer immer stärkeren Formalisierung zu unterwerfen, d.h. sie in mathematischer Form auszudrücken. Nicht von ungefähr gilt deshalb die Ökonomie heute als “Naturwissenschaft” unter den Sozialwissenschaften, und manchmal scheinen die Ökonomen auch tatsächlich der Meinung zu sein, sie hätten es bei ökonomischen Zusammenhängen mit Naturgesetzlichkeiten zu tun.257
Zur Charakterisierung der heutigen Neoklassik nennt Hampicke fünf wichtige konstitutive Merkmale:258
1
Das zugrundeliegende individualistische Weltbild. Dabei gibt es Auffassungsdifferenzen darüber, ob der Individualismus rein empirisch (“Jedes Individuum weiss über seine Belange selbst am besten Bescheid”) oder aber normativ (“Jedes Individuum soll über seine Belange selbst entscheiden, auch wenn dabei Fehler passieren”) zu verstehen ist.
2
Die Verankerung im Utilitarismus: Der Sinn des Wirtschaftens liegt in der Nutzenstiftung und dieses zeichnet sich im Gegensatz zu gefühlsmässigen Einstellungen durch die Rechenhaftigkeit, das abwägende Kalkulieren aus.
3
Die Annahme der Rationalität individuellen Verhaltens, wobei “rational” nicht ausschliesslich egoistisch heissen muss, sondern auch altruistische Momente umfassen kann (vgl. 8.2).
4
Die einseitige Fixierung der Aufmerksamkeit auf den Tausch (die “Zirkulationssphäre”) und umgekehrt die Vernachlässigung der Aspekte der Produktion. Dies setzt eine Aufteilung der Welt in Eigentumsparzellen voraus, denn damit etwas getauscht werden kann, muss es zunächst besessen werden.
5
Die Behauptung, die “unsichtbare Hand” sei hinreichend wirksam, um zentrale Allokationsentscheidungen überflüssig zu machen. “Es wird in Analogie zu physikalischen Systemen angenommen, dass der Markt eine selbstregelnde Maschine und dass seine Mechanik immer ‘gut geölt’ sei.”259 In engem Zusammenhang damit steht das sog. Substitutionsparadigma. Dieses besagt, dass sich alles und jedes auf dieser Welt gegenseitig ersetzen kann. “Fehlt im Produktionsprozess ein Faktor, so nimmt man einen anderen, fehlt ein Konsumgut, so tröstet man sich mit einem anderen, erschöpft sich das Öl, wo wird es eine andere Energiequelle geben usw.”260
In Verteidigung der “Natürlichkeit” dieser Annahmen wird, in Übereinstimmung mit Smith, der Hang zum Tauschen und Feilschen als eine menschliche Konstante gesehen, die schon bei den archaischen Gesellschaften wirksam war. Wenn wir uns an das erinnern, was wir über diesen Gesellschaftstyp gesagt haben (vgl. 2.1, 3.1, 4.1, 5.1), wird uns klar, dass dies eine völlig unhaltbare Vorstellung ist. Interessanterweise bildet Friedrich August von Hayek (1899-1992), oft als einer der herausragendsten liberalen Denker dieses Jahrhunderts betrachtet, in dieser Beziehung eine Ausnahme.261 Er vertritt die Meinung, das Leben archaischer Menschen hätte sich nach einer instinkt-gesteuerten Solidarität gerichtet, und diese sei dem Fortschritt im Wege gestanden. Zu einem solchen konnte es erst durch die Überwindung dieses Zustandes kommen: In einem Lernvorgang wurde klar, dass das Verfolgen eigennütziger Interessen das Ausbrechen aus hemmenden sozialen Zusammenhängen und gleichzeitig auch eine Koordination des Handelns von sehr vielen Menschen ermöglicht. Es entstand eine extended order, wie von Hayek dies nennt - wir können uns darunter das vorstellen, was bei Anthony Giddens “System-Integration” heisst, also ein gesellschaftlicher Zusammenhalt, der durch weitgehend anonyme Beziehungen zustandekommt. Wie ist dies möglich? Das eigennützige Handeln der Einzelnen führt in der Form gewissermassen unbeabsichtigter Folgen zu Regeln, die einen Marktmechanismus steuern, und dieser Mechanismus ist anderen Prinzipien überlegen und setzt sich deshalb in einer darwinistisch operierenden Auslese durch. Von Hayek legt Wert auf die Feststellung, dass das Ganze ungeplant ist, dass sich aus einer unregulierten Selbstorganisation insgesamt etwas Gutes ergibt, ganz im Gegensatz zum Versuch einer vorausschauenden Planung, was stets schief läuft.262 Für die neuere Entwicklung haben die Überlegungen von Hayeks zweifellos etwas auf sich - wobei er allerdings nur über die positiven Seiten des Geschehens redet -, während seine Aussagen über die weiter zurückliegende kulturelle Evolution von wenig Verständnis zeugen. Insbesondere übersieht er mit seiner These, wonach die Ökonomisierung unmittelbar auf die Überwindung der archaischen Solidarität folgte, auch völlig die Stufe der politischen Gesellschaften.

Anmerkungen

243
Das Gedankengut des Utilitarismus gründet auf der Annahme, dass das Selbstinteresse des Menschen sich in einem Glücksstreben äussert, das den Antrieb zu jeglichem Tun darstellt. Es ist die Aufgabe des Staates, für eine Ordnung zu sorgen, die dem grösstmöglichen Glück für die grösstmögliche Zahl von Menschen förderlich ist.
244
Vgl. Ulrich Hampicke 1992, 23.
245
Hampicke 1992, 23.
246
Deutsche Übersetzung: Z.B. Adam Smith 1983. Für einen biographischen Abriss siehe Paul-Heinz Koesters 1986, 9 ff.
247
Zum Merkantilismus siehe 5.4.1.
248
Der Ausdruck “laissez faire” geht auf einen Ausspruch des Marquis de Mirabeau (1715-1789) zurück: “Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui même.”
249
Nach Hans-Peter Studer 1987, 79.
250
Hans Christoph Binswanger 1996, 49-50.
251
Vgl. Binswanger 1996, 53.
252
Siehe Binswanger 1996, 54 ff. Das Thema der Glaubensgemeinschaft wird von Binswanger ausführlich in seinem neusten Buch abgehandelt (Binswanger 1998).
253
Deutsche Übersetzung: Z.B. Smith 1949.
254
Vgl. Studer 1987, 81, 84.
255
Vgl. Koesters 1986, 37.
256
Siehe Hampicke 1992, 23-24,.
257
Der amerikanische, kritisch denkende Wirtschaftswissenschaftler Donald Nansen McCloskey schreibt: “Ökonomen halten sich für die Physiker der Sozialwissenschaften. Aber sie haben keine Ahnung vom Vorgehen auf dem Arbeitsfeld der Physik ...” Tatsächlich besteht zwischen Physik und Ökonomie ein grundlegender Unterschied: Die Physik interessiert sich für Mathematik in dem Ausmass, wie sie eine experimentell überprüfbare Welt zu beschreiben gestattet. Die Ökonomie hingegen baut auf die Logik der mathematischen Formulierung und die Stringenz der Beweisführung ohne Rücksicht darauf, wie die wirkliche Wirtschaft funktioniert. Und das ist ihr Verhängnis, denn “gewichtige soziale Probleme lassen sich nicht an einer Wandtafel lösen” (McCloskey 1991). Herman E. Daly, ein anderer Alternativ-Ökonom, sagt es noch krasser: “... my major concern about my profession today is that our disciplinary preference for logically beautiful results over factually grounded policies has reached such fanatical proportions that we economists have become dangerous to the earth and its inhabitants” (Daly 1993, 24).
258
Nach Hampicke 1992, 30-32, in Anlehnung an M. Fritsch 1983.
259
Hampicke 1992, 31-32.
260
Hampicke 1992, 32.
261
Friedrich August von Hayek erhielt 1974 zusammen mit Gunnar K. Myrdal den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften (vgl. Graham Bannock, R.E. Baxter und Ray Rees 1980, 209-210).
262
Von Hayek kann es nicht lassen, bei jeder Gelegenheit Seitenhiebe auf die Sozialisten als eben den “Planern” auszuteilen, deshalb auch der Untertitel seines Buches: “The Errors of Socialism”.