www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

5.2 Redistribution in politischen Gesellschaften

Das wirtschaftliche Hauptprinzip, das in politischen Gesellschaften spielt, ist das der Umverteilung oder Redistribution, die insbesondere die Nahrungsmittel betrifft. Sie wird notwendig, weil jetzt infolge der gesellschaftlichen Differenzierung und Arbeitsteilung nicht-produzierende Klassen (Adlige, Priester, Soldaten, Handwerker) entstanden sind, die versorgt werden müssen. Dazu ist notwendig, dass die in der Landwirtschaft Tätigen einen Überschuss (Surplus), also mehr als sie selbst für ihre eigene Selbstversorgung brauchen, produzieren, und an eine zentrale Stelle abliefern, von der aus dann die Umverteilung organisiert wird (vgl. Abb.14). Sahlins meint, unter einem allgemeineren Gesichtspunkt fielen die in 5.1 betrachtete Reziprozität und die hier diskutierte Redistribution in die gleiche Kategorie, denn die letztere könne ebenfalls als ein System von Reziprozitäten verstanden werden. Er betont aber, dass die mit den beiden Typen verbundene soziale Organisation sehr unterschiedlich sei.190 Der Vorgang der Redistribution stellt auch noch keineswegs ein ausdifferenziertes ökonomisches System dar: “Wir sehen, dass der Prozess der Redistribution in der Regel einen Teil des vorherrschenden politischen Regimes bildet, ob es sich nun um einen Stamm, einen Stadtstaat, eine Despotie oder auf Vieh oder Boden gestütztes Feudalsystem handelt.”191 In “Politisches” haben wir gesehen, wie schon im Rahmen von Stammesgesellschaften eine noch wenig systematische und sporadisch auftretende Umverteilung über “big men” laufen kann (vgl. 2.3) und wie sich dann dieses Prinzip in Häuptlingstümern institutionalisieren kann (vgl. 2.4). Hier hat das System aber vorderhand immer noch einen vorwiegend sozialen Charakter, indem jemand, der Zugang zu Gütern hat, diese nicht als Reichtümer akkumuliert, sondern an andere verteilt, selbst sogar in relativer Armut lebt und damit Prestige erwerben kann. Es besteht aber immer die Gefahr, dass ein derartiges Umverteilungssystem zu einem Instrument der politischen Machtgewinnung pervertiert, bei dem nun umgekehrt Ansehen gewinnt, wer Reichtum und ein auffälliges Konsumverhalten demonstrieren kann. Spätestens hier wird die Umverteilung über ein zwangsweises Abgabensystem alimentiert. Wir haben dazu ein auffälliges Beispiel in Form der voreuropäischen hawaiianischen Gesellschaft kennen gelernt, in der eine Statusrivalität zwischen Häuptlingen eine bereits umweltschädigende Prestigeökonomie ankurbelte (siehe 3.4 in “Politisches”).
Abbildung 14: Schematische Darstellung der Prinzipien der Reziprozität und der Redistribution (nach Sahlins 1976, 188) /
Abbildung 14: Schematische Darstellung der Prinzipien der Reziprozität und der Redistribution (nach Sahlins 1976, 188)
Eine andere Form der Entartung eines Umverteilungssystems ist von den Indianern British Columbias, speziell den Kwakiutl bekannt. Es betrifft den sog. Potlatsch, festliche Versammlungen, bei denen Häuptlinge Geschenke verteilten - das Wort Potlatsch bedeutet denn auch “geben” - oder aber Güter (z.B. Kanus) zerstörten, um zu zeigen, dass sie es hatten und sich leisten konnten. Ähnlich wie im Falle von Hawaii spielte dabei die Rivalität zwischen Titelanwärtern eine Rolle. Jede Abstammungsgruppe verfügte über eine Anzahl von Titeln, die zu vergeben waren, und die eine Rangordnung etablierten. Die Demonstration besonderer Freigebigkeit bei Potlatsches diente dazu, eine höhere Stellung zu erwerben oder eine bereits erworbene Stellung zu festigen und dabei kam es zwischen Rivalen zu Statuskämpfen.192 Dabei
wurden enorme Mengen von Gütern verteilt, in einem belegten Fall aus den zwanziger Jahren allein über 30 000 Decken. Auf dem Höhepunkt solcher Auseinandersetzungen brachen die Kontrahenten wertvolle Kupferplatten in Stücke, übergaben sie dem Gegner oder warfen sie, Gipfel verschwenderischer Machtentfaltung, ins Meer. ... Für die Kwakiutl stellten sie den Inbegriff des Luxuriösen dar. Ihre Zerstörung war das letzte Mittel, um einen Rivalen zu demütigen und die eigene Überlegenheit zu zeigen.193
Solche Potlatsches existierten bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts “bis die Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre und der Entschluss der kanadischen Regierung, dem so unprotestantischen Treiben ein Ende zu setzen und die indianische Bevölkerung zu ‘zivilisieren’, das System zusammenbrechen liess.”194 Der Zürcher Ethnologe Andreas Wimmer, von dem die obigen Zitate stammen, weist aber darauf hin, dass diese Art von Rivalitäts-Potlatsch erst in der Mitte des letzten Jahrhunderts entstand, und zwar als Folge des Kontaktes mit den europäischen Einwanderern - 1849 richtete die Hudson’s Bay Company ihren Handelsposten in Fort Rupert ein. Gewinne aus dem Pelzhandel und später Löhne der Fischer und der Arbeiterinnen in den Fischkonservenfabriken sowie Einkünfte von Prostituierten und Wäscherinnen ermöglichten immer grössere Aufwendungen für die Potlatsch-Veranstaltungen. Überdies konnten sich nun u.U. auch nicht-adlige Personen daran beteiligen, was die Rivalitäten noch verschärfte.195
In der voreuropäischen Zeit hingegen hatte, wie dies Stuart Piddocke ausführlich beschreibt, der Potlatsch einen anderen Charakter: Er wurde von den Häuptlingen der verschiedenen lokalen Verwandtschaftsgruppen (numayms) durchgeführt und diente zu einer ausgleichenden Umverteilung von Nahrungsmitteln und anderen Gütern, so dass der Lebensunterhalt der ganzen Bevölkerung gesichert war. Wenn im allgemeinen angenommen wird, dass die Nordwestküsten-Indianer in einer Gegend lebten, die reich an Ressourcen war, so ist dies eine zu optimistische Vorstellung. Es konnte durchaus vorkommen, dass in schlechten Jahren in gewissen Gebieten Nahrungsmittelknappheit und Hunger herrschten.196 Dabei ist zu beachten, dass die Umverteilung nicht nur durch das Abhalten von Potlatsches zustande kam, sondern in Kombination mit einem Tauschsystem. Piddocke gibt dazu die folgende Modellvorstellung:
Let us ... consider a simplified system made up of only two numayms, A and B. ... Let A suffer a severe failure in food supply. To feed themselves, the members of A sell blankets to B in exchange for food. This increment of wealth enables B to hold potlatches more frequently or to give bigger gifts in their potlatches. And B does so, giving wealth to A in batches larger than before and so gaining increased prestige in return. Thus through the potlatch A recovers its wealth in return for granting more prestige to B. With this wealth A can either hold a return potlatch and regain its prestige by giving equally large gifts or use the wealth to purchase more food. If A uses some of this wealth to purchase more food, it will not be able to give a return potlatch of generosity equal to B’s potlatch, and the increment in B’s prestige will be more firmly established. If, sometime later, B suffers a deficiency in food supply, it can buy food from A, and this cycle will be repeared with the roles reversed.197
Indem die bei einem im ursprünglichen Stil abgehaltenen Potlatsch verteilten Güter nicht zurückgefordert werden können und auch kein Anspruch auf eine Rückvergütung besteht, jedenfalls keine unmittelbare, enthält dieses Ritual noch Elemente einer positiven Reziprozität.198 Der Original-Potlatsch kann als Vorläufer einer zentralen Regelung der Versicherung gegen Lebensrisiken betrachtet werden, wie sie dann auf der Stufe der staatlich organisierten Gesellschaften auftritt. Herrscher bzw. Regierungen häufen mittels Ababensystem, Importen und Kriegsbeute Vorräte an. Z.B. wurde im alten Rom in Notzeiten Getreide aus Sizilien oder Ägypten eingeführt und an die Bevölkerung verteilt. Neben einer vielleicht echten Sorge um deren Wohlergehen spielte dabei sicher ein handfestes politisches Kalkül eine Rolle: Zur Sicherung der Macht gehörte es auch, das Volk mit Brot (und Spielen!) bei guter Laune zu halten.199

Anmerkungen

190
Siehe Sahlins 1976, 288.
191
Polanyi 1977, 76.
192
Nach Andreas Wimmer 1994, 57
193
Wimmer 1994, 58.
194
Wimmer 1994, 58.
195
Vgl. Wimmer 1994, 58.
196
Siehe Pidddocke 1969, 131, 148 ff.
197
Piddocke 1969, 149-150.
198
Siehe Edward S. Curtis 1915, 144, zitiert in Piddocke 1969, 144.
199
Vgl. Furger 1994, 185, der auf Weber 1989b, 254 ff. verweist.