www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

2.4.6 Arbeitsmoral versus Berufsethik

Mit der geschilderten Entwicklung stellt sich die Frage nach der Stellung, dem Sinn und auch der Zukunft der Arbeit von heute. Eine Basis für eine entsprechende Diskussion ist durch eine Studie des früher an der Universität Zürich tätigen Soziologen und Sozialpsychologen Gerhard Schmidtchen entstanden.117 Er führte eine Befragung bei Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Metallindustrie durch, um in Erfahrung zu bringen, welche Tugenden auch heute (80er Jahre) noch zählen. Dabei schälten sich zwei Dimensionen heraus, die er mit “puritanischen Tugenden” einerseits und “kommunikativen Tugenden” andererseits identifizierte. In einer Untersuchung über die Möglichkeiten von Telearbeit (Arbeit zuhause oder in einem lokalen Satellitenbüro mit elektronischer Vernetzung zum Hauptsitz des Unternehmens) greifen Carlo Jaeger, Lisbeth Bieri und Gregor Dürrenberger diese Gegenüberstellung auf und bringen sie mit der Unterscheidung von “Arbeitsmoral” und “Berufsethik” in Verbindung.118 Die erstere wird durch die folgenden Eigenschaften charakterisiert:
• Möglichst grosse Präzision,
• Pünktlichkeit,
• Möglichst umsichtig und intelligent arbeiten,
• Nichts Unnötiges tun ,
• Fleissig sein, möglichst viel leisten,
• Gut ausgeruht bei der Arbeit erscheinen,
• Nicht lange fragen, sondern tun, was gefordert wird.119
Die Arbeitsmoral orientiert sich also an Pflichten. Demgegenüber betont die Berufsethik Dinge wie praktische Fähigkeiten, Kompetenz, Autonomie und Verantwortung und betont damit den biographischen, identitätsstiftenden Charakter des Berufslebens.120 Es ist klar, dass die geschilderte Entwicklung der immer stärker arbeitsteiligen Gesellschaft ohne eine starke Arbeitsmoral der Beteiligten, ein Annehmen der Arbeit als Pflicht, “die es unter Schweiss und Mühsal zu erledigen gilt,”121 nicht möglich gewesen wäre. Heute allerdings wird diese Art von Arbeitsmoral immer mehr in Frage gestellt, sie klingt im Zuge eines Wertwandels ab, während umgekehrt die Berufsethik an Relevanz gewinnt.122
Die Rede von den “puritanischen Tugenden” bei Schmidtchen erinnert daran, dass wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das sich auf calvinistische Auffassungen über eine gottgefällige Lebensführung zurückführen lässt.123 In seiner berühmten Studie über die protestantische Ethik lokalisierte Max Weber hier den Ursprung dessen, was er den “Geist des Kapitalismus” nannte.124 Historisch aber noch weiter zurück, nämlich auf den Reformator Martin Luther (1483-1546), geht die Vorstellung des Berufs als etwas, das dem Menschen eigentlichen Lebenssinn vermitteln kann. In seiner Bibelübersetzung redet Luther von “Beruf”, wo andere wohl von Arbeit geredet hätten. Mit der Anlehnung dieses Wortes an “Ruf” und “Berufung” erhält der Begriff - der übrigens vor Luther nicht gebräuchlich war - eine religiöse Färbung. “Mit dem Berufsgedanken verknüpft Luther letztlich die Vorstellung einer göttlichen Fügung. Der Einzelne wird von Gott in seine berufliche Stellung gewiesen. Sein Beruf erhebt sich somit zu seiner Lebensaufgabe.”125 Der Calvinismus zeichnet sich durch eine Prädestinationslehre aus, in deren Mittelpunkt der Gnadenstand steht. Um Prädestination geht es, weil ein calvinistisch gläubiger Mensch nicht wissen kann, ob er zu den von Gott Auserwählten gehört; dies wird allein von dessen unerforschlichen Plänen bestimmt. Da gibt es auch keine Möglichkeit der Absicherung durch fromme Taten und Beichten. Trotzdem weiss die Lehre einen Ausweg, wie dieser Unsicherheit, die sonst unerträglich wäre, zu begegnen ist: Es ist die Pflicht jedes Menschen, sich für auserwählt zu halten - alles andere muss bereits als teuflische Einflüsterung gelten. Und um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, ist eine asketische Lebensführung mit rastloser Berufsarbeit empfohlen. Dass dabei Reichtümer angehäuft werden können, darf aber nie zum Ziel des Tätigseins werden, sondern nur Nebeneffekt einer religiösen Haltung sein, allerdings ein Nebeneffekt mit Indizcharakter, denn ein grosses Vermögen kann als Hinweis darauf gelten, dass die betreffende Person wirklich zu den Auserwählten gehört.126

Anmerkungen

117
Vgl. Gerhard Schmidtchen 1984.
118
Siehe Carlo Jaeger, Lisbeth Bieri und Greogr Dürrenberger 1987.
119
Schmidtchen 1984, 62, zitiert in Jaeger, Bieri und Dürrenberger 1987, 77.
120
Vgl. Franco Furger 1994, 210.
121
Furger 1994, 210.
122
Vgl. Jaeger, Bieri und Dürrenberger 1987, 81 ff.
123
Calvinismus: Die theologische Lehre des Johann Calvin (1509-1564) und die daraus entstehende Bewegung, die sich vor allem auch in den Niederlanden und in England (dort dann als “Puritanismus” bekannt) etablierte.
124
Vgl. Weber 1984.
125
Furger 1994, 211, vgl. mit Weber 1984, 71.
126
Nach Furger 1994, 212-213, mit Bezug auf Weber 1984, 128 ff. Vgl. auch Sée 1948, 49, 112-113.