www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

2.4.4 Arbeit als Quelle menschlicher Entfremdung

Auf dem Kontinent setzte die industrielle Revolution im Vergleich zu Grossbritannien um ein halbes Jahrhundert später ein. Hier gab es keine Einfriedungen und keine Vertreibung von Bauern vom Lande. Diese liessen sich erst durch die angebotenen Löhne und die Aussicht auf eine städtische Lebensweise dazu verlocken, ihren Gutsherrn zu verlassen. Hier wie dort war aber das Resultat dasselbe: Ein städtisches Proletariat, das sich nur unter misslichsten Bedingungen durchs Leben schlagen konnte. Polanyi hat die damalige Situation in England recht drastisch so geschildert:
Noch ehe der Prozess weit fortgeschritten war, waren die arbeitenden Menschen in neuen Stätten der Trostlosigkeit zusammengepfercht worden, die sogenannten Industriestädten Englands; die Leute vom Land waren entmenschte Slumbewohner geworden, die Familie war in Auflösung begriffen, und grosse Bodenflächen verschwanden rapide unter den Schlacken und Abfallhalden, ausgespien von den “Teufelsmühlen”, den Fabriken.103
Für Marx war dies der Anlass für eine immer schärfer werdende Kritik an den bestehenden Zuständen, worauf er der Reihe nach in Deutschland, dann in Frankreich und schliesslich in Belgien des Landes verwiesen wurde. 1849 gelangte er nach England, wo er sicher noch drastischeren Anschauungsunterricht erhielt und nun begann, seine Ansichten in ein umfassendes theoretisches Gebäude zu kleiden, das in einer Fundamentalkritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems mündete.104 Hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse ist seine These von der Entfremdung des Menschen von Belang, wobei er die Entfremdung als einen Zustand schildert, die es dem Menschen unmöglich macht, entsprechend seiner Natur zu leben, nämlich als eine Situation, in der “die eigne Tat ... ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt dass er sie beherrscht.”105 Diese Entfremdung hat verschiedene Aspekte. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren Marx’ Auffassungen darüber, dass sie sowohl die Arbeit als Tätigkeit selbst wie auch das Produkt der Arbeit betrifft.106 Zu einer Entfremdung von der Arbeit als Tätigkeit kommt es, weil die Arbeit dem arbeitenden Menschen äusserlich ist, d.h. sie gehört nicht zu seinem Wesen, er kann sich darin nicht finden, sich nicht bejahen, sich nicht selbstverwirklichen. Er kann nicht kreativ tätig sein und ruiniert sich physisch und psychisch dabei. Anders ausgedrückt: Die Arbeit im kapitalistischen System kann nicht selbst den Charakter der Befriedigung eines Bedürfnisses haben, nämlich des Bedürfnisses zu arbeiten, sondern sie kann nur ein Mittel sein, um Bedürfnisse ausserhalb von ihr zu befriedigen.107 Dazu Marx:
Die Arbeit der Proletarier hat durch Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein blosses Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird.108
Der arbeitende Mensch ist aber auch von seinem Produkt entfremdet, weil er es nicht frei nach seinen eigenen Ideen gestalten kann, sondern den Vorstellungen und Instruktionen eines anderen Menschen folgen muss. Zudem wird alles, was er produziert, zu einer käuflichen Ware mit der Konsequenz, dass er seine eigenen Produkte mit seinem Lohn zurückkaufen muss, wenn er sie besitzen will.109

Anmerkungen

103
Polanyi 1977, 60.
104
Vgl. Studer 1987, 135.
105
Aussage von Marx, zitiert nach Schmitz 1984, 83.
106
Darüber hinaus gibt es nach Marx auch eine Entfremdung des Menschen von sich selbst und eine solche der Menschen voneinander. Schliesslich sind aber auch die Kapitalisten einer Selbstentfremdung unterworfen (vgl. Schmitz 1984, 89 ff.)
107
Nach Schmitz 1984, 87.
108
Zitiert nach Schmitz 1984, 87.
109
Nach Schmitz 1984, 84.