www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

2.4.3 Arbeit als Ware

Mit der Industrialisierung befinden wir uns auf dem Weg zu einem ausdifferenzierten, verselbständigten ökonomischen System in Form der Marktwirtschaft. Daran sind zweifellos eine ganze Reihe von Faktoren beteiligt, aber Polanyi ist der Meinung, dass die Entwicklung der maschinellen Produktion eine Schlüsselrolle spielte und zwangsläufig zur Idee eines selbstregulierenden Marktes führen musste. Der Grund: Komplizierte Maschinen sind teuer und müssen sich deshalb dadurch bezahlt machen, dass sie grosse Mengen von Gütern erzeugen. Es muss auch der Absatz der Waren gesichert sein und umgekehrt darf die Produktion nicht durch einen Mangel an den für sie benötigten Primärprodukten behindert werden. Für den in die Produktion einsteigenden Kaufmann bedeutet dies, dass alle beteiligten Faktoren in den benötigten Mengen käuflich sein müssen, sonst wird die Investition in teure Maschinen zu riskant. Die Folge: Nicht nur die produzierten Güter werden auf dem Markt angeboten, sondern auch die Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Geld. Auch sie haben ihren Preis, den Lohn für die Arbeit, die Rente für den Boden und den Zins für das Geld. Doch können diese, so Polanyi, keine Ware sein, sie so zu bezeichnen sei eine Fiktion.99 Er sagt:
... Arbeitskraft und Boden [bedeuten] nichts anderes, als die Menschen selber, aus denen jede Gesellschaft besteht, und die natürliche Umgebung, in der sie existiert. Sie in den Marktmechanismus einzubeziehen, das heisst die Gesellschaftssubstanz schlechthin den Gesetzen des Marktes unterzuordnen.100
Und er doppelt an anderer Stelle nach:
Die Arbeit von anderen Aktivitäten des Lebens zu trennen und sie dem Gesetz des Marktes zu unterwerfen, bedeutet alle organischen Formen des Seins auszulöschen und sie durch eine andere Organisationsform zu ersetzen, eine atomistische und individualistische Form.101
Dazu passt die mechanistische Vorstellung, die der englische Nationalökonom David Ricardo (1772-1823) für den Arbeitermarkt entwickelte: Er sah ihn als einen Strom von Menschenleben, deren Nachschub durch die Menge der ihnen zur Verfügung gestellten Nahrungsmittel geregelt wird. Zwar wird die Existenz eines allgemeinen Standards anerkannt, unter den der Lohn eines Arbeiters nicht sinken darf. Aber es herrscht die Meinung vor, diese Grenze würde nur dann wirksam, wenn die Arbeiter vor der Wahl stünden, entweder ihre Arbeitskraft auf dem Markt zu dem jeweils gebotenen Preis anzubieten oder aber nichts zu essen zu haben. Sie erklärt, wieso die klassische Nationalökonomie nur der Angst vor dem Hunger, nicht aber auch der Anziehungskraft eines hohen Lohnes die Fähigkeit zuschrieb, einen funktionstüchtigen Arbeitsmarkt hervorzubringen.102

Anmerkungen

99
Vgl. Polanyi 1977, 62, 99.
100
Polanyi 1977, 98.
101
Polanyi 1977, 209.
102
Nach Polanyi 1977, 210-211.