www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

2.4.1 Transformation der Landwirtschaft und Heimindustrie

Betrachten wir den Fall England, wo ja die industrielle Revolution zuerst eingesetzt hat. Hier war ein wesentlicher Faktor ein relativ plötzlich einsetzendes Wachstum der Bevölkerung (dessen Ursache nicht klar ist), nachdem deren Grösse über Jahrhunderte mehr oder weniger stagniert hatte. Um 1700 hatte Grossbritannien 6,5 Mio. Einwohner, im Jahre 1801 (damals fand die erste Volkszählung statt) bereits über 10,5 Mio. Und in der darauffolgenden Zeit vergrösserte sich die Bevölkerung jeweils um fast 16% pro Jahrzehnt.88 Ein zweiter, spezifisch englischer Faktor war zwar mit einer Transformation der Landwirtschaft verknüpft, aber einer, die nicht so sehr eine Produktivitätssteigerung betraf, sondern vielmehr eine Änderung der Produktionsrichtung. Dieser Vorgang begann schon früh, nämlich in der Tudorzeit des 15. Jh., Fuss zu fassen: Offene Felder und Gemeindeland wurden zusehends eingehegt, d.h. durch Hecken abgegrenzt.89 Dort, wo der Ackerbau weitergeführt wurde, konnte dies zwar tatsächlich in Produktionsverbesserungen resultieren, aber dies war nur zum Teil der Fall, weil es bei diesem Vorgang hauptsächlich um eine von den Grossgrundbesitzern vorgenommene Umwandlung des Ackerlandes in Schafweide ging. Der Grund lag in den damals hohen Wollpreisen, die die Wollproduktion gewinnträchtig erscheinen liessen. Die sozialen Kosten dieses Vorgangs waren aber enorm: Viele Bauern verloren ihre Lebensgrundlage, ganze Dörfer verschwanden, es entstand ein landloses Proletariat. Dazu Karl Polanyi:
Die Einfriedungen sind zutreffend als eine Revolution der Reichen gegen die Armen bezeichnet worden. Die Lords und Adeligen erschütterten die soziale Ordnung, brachen altes Gesetz und Sitte, manchmal mit Gewalt, häufig durch Druck und Einschüchterung. Sie beraubten buchstäblich die Armen ihres Anteils am Gemeindeland, rissen die Häuser nieder, die die Armen nach bis dahin niemals gebrochenem Gewohnheitsrecht als ihr und ihrer Nachkommen Eigentum betrachtet hatten. Die soziale Struktur wurde zerbrochen, verwüstete Dörfer und die Ruinen menschlicher Behausungen bezeugten die Grausamkeit, mit der die Revolution wütete, ... die Bevölkerung quälte und sie von ehrlichen Landleuten in eine Horde von Bettlern und Dieben verwandelte.90
Allerdings hatte diese Entwicklung nicht sofort drastische Konsequenzen. Zunächst fand noch eine gewisse Kompensation statt, indem schon in der zweiten Hälfte des 15. Jh. eine Woll-Heimindustrie entstand, die neue Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Für deren Entwicklung waren kapitalkräftige Kaufleute verantwortlich, die sie als rein kommerzielles Unternehmen organisierten und dabei kein grosses Risiko eingingen, da ja noch keine teuren Fabrikanlagen notwendig waren. Das ganze funktionierte nach dem sog. Verlagssystem, bei dem vom Kaufmann die Rohstoffe und die Geräte zur Verfügung gestellt und die produzierte Ware abgenommen wurde, die Produktion selbst aber in den Händen von Bauern- oder Handwerkerfamilien lag. Hinsichtlich der Wirtschaftsführung war dies ein System, das sich schon der späteren eigentlichen Lohnarbeit annäherte. Es war in der Textilindustrie bis ins 19. Jh. hinein üblich, wurde aber auch in anderen Branchen praktiziert, in denen infolge technischer Innovationen grössere Geldmittel erforderlich waren, wie etwa bei der Metallwarenproduktion und dem Buchdruck.91

Anmerkungen

88
Siehe Christopher Wright 1972, 18-19.
89
Im Englischen spricht man von enclosures.
90
Polanyi 1977, 55.
91
Nach Boockmann 1981, 66. Dieser sagt: “Es ist kein Zufall, dass der Ausdruck ‘Verlag’ an der Buchproduktion haften blieb.” Vgl. auch Sée 1948, 26.