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4.2 Holistisch-kontemplative Lebensweise

Die erste Stufe der Bewusstseinsentwicklung in der biologischen Evolution, die Stufe, bei der das, was wir heute als unbewusste Psyche bezeichnen, eine emergente Erscheinung darstellt, ist, so haben wir behauptet, durch eine Beziehung zur Welt im Sinne der Weltgebundenheit charakterisiert. Wie wir uns erinnern, sagt die Tiefenpsychologie mit Bezug auf das menschliche Unbewusste, der Zugang zur Welt, den es vermitteln könne, bestehe in abgespeicherten vielfältigen Erfahrungsmustern vergangener Generationen von Lebewesen. Es ist sogar denkbar, dass diese Muster jeweils nicht nur die einem bestimmten Lebewesen eigene Stammlinie betreffen, sondern die Fülle der irdischen Lebensformen überhaupt. Frederic Vester schliesst aus der Tatsache, dass Genome immer nur zum Teil aktiviert sind, auf diese Möglichkeit.103 Auf alle Fälle würde dies heissen, dass der Zugang zur Welt, den das Unbewusste vermitteln kann, auf die Welt der biologischen Evolution beschränkt ist. Demgegenüber gibt es nun aber auch Auffassungen, die eine weiter zurückreichende physisch-psychische Einheitswirklichkeit postulieren.104 Ist dann, sofern es mit einer solchen Spekulation etwas auf sich hat, hinsichtlich der Weltbeziehung sogar die Frage von Bedeutung, ob das Leben einen nur irdischen oder aber, wie Fred Hoyle glaubt, einen kosmischen Ursprung hat?105
So oder so: Unabhängig von der Möglichkeit einer kosmischen Dimension in der Innenorientierung der Lebewesen, haben sie eine Aussenverbindung zum Weltall in Form der grundlegenden Rolle, die die Sonnenstrahlung für sie spielt.106 Nur dank ihr ist Leben auf unserem Planeten möglich. Bezüglich dieser Art von Aussenabhängigkeit der Organismen spricht Råberg von der kosmo-ökologischen Stufe der Evolution, auf der sich eine allgemeine vegetative Lebenskraft der biologischen Zelle manifestiere, die auf die Sonnenstrahlung mit "an expansive growth toward the source of life"107 reagiere, und er sieht hier die Wurzel für den fundamentalsten Trieb der Lebewesen, den holistischen Trieb.108
In der nachfolgenden Phase der Evolution in tierischer Richtung109 kam es zu einer zunehmenden organischen Arbeitsteilung, zur Entstehung von speziellen Fortpflanzungs-, Verdauungs- und Erfolgsorganen (z.B. Tentakeln). In dieser Entwicklung liegen auch die Wurzeln für die Entstehung des Fortpflanzungs- und des Nahrungstriebes, die dann bei der Formierung der späteren Bewusstseinsstufen eine wichtige Rolle spielen. Allmählich wurden die träge und wenig selektiv funktionierenden direkten und indirekten Formen des Stoffwechsels, die letzteren auf der Basis autonom operierender Hormonhaushalte, durch ein rascher und gezielter arbeitendes Nervensystem ersetzt oder ergänzt; damit blieb eine Regulierung des Funktionierens und Zusammenwirkens der immer spezielleren Organe gewährleistet. In der Folge traten die ersten Formen von Reiz-Erregungs-Mechanismen auf. Solange eigentliche Sinnesorgane fehlten, kam aber noch keine Wahrnehmung in unserem Sinne zum Zuge, sondern die Aussenwelt griff in Form von Nahrungsmitteln, Giften oder Temperatur direkt am Organismus an.110 Mit andern Worten: Die Existenz aller frühen Lebensformen hatte einen vegetativen Charakter.111
Mit der Ausbildung von zentralisierten (im Gegensatz zu vorher diffusen) Nervensystemen wie auch der Entwicklung von Sinnesorganen wurden dann Grundlagen für erste Formen von primitivem psychischem Innenleben und umweltbezogenem Verhalten geschaffen.112 Damit ging die von Råberg "kosmo-ökologisch" genannte Frühphase der biologischen Evolution in eine fortan "bio-ökologische" Entwicklung über.113 Als erste Form eines zentralisierten Nervensystems kann der bei frühen mehrzelligen Lebewesen vorkommende Hirnstamm betrachtet werden.114 Bei den Sinnesorganen ist - wir haben dies schon besprochen - im Hinblick auf die Möglichkeit einer späteren Distanzierung und Abstrahierung der Sehsinn von besonderer Bedeutung.115
Råberg sieht nun die aquatische Lebensweise der Fische vor 400-500 Mio. Jahren als beispielhaften Höhepunkt für die holistisch-kontemplative Existenz der ersten Entwicklungsstufe an. Der holistische Aspekt drückt sich darin aus, dass eine Raumwahrnehmung der lokalen Umgebung, die qualitative ästhetische Impulse aus der umgebenden chromatischen Reizwelt vermittelt - das Sonnenlicht spielt also auch hier eine wichtige Rolle -, ein Motivationszentrum anregt; die emotionalen Aspekte dieses Vorgangs ermöglichen den Fischen eine Art Erleben, das ist die Vermutung. Insofern hier also eine Beziehung zur Aussenwelt in ihrer wahrnehmbaren Gesamtheit besteht, und nicht zu bestimmten Einzelheiten von ihr, besteht eine Beziehung zur Welt. Was den kontemplativen Aspekt betrifft: Im Verein mit ihrem verbesserten Bewegungsvermögen können die Fische ein ausgedehnteres Milieu erkunden und nutzen als frühere Lebewesen.116 Aber die Einstellung zu diesem Milieu ist weiterhin eine reichlich passive und in diesem Sinne eben kontemplativ; es wird das genutzt, was sich anbietet, was allerdings nicht heisst, dass dies nicht ein selektiver Vorgang wäre.117 Vielleicht sollten wir auch gar nicht erst versuchen, für die Lebensweise der Fische die beiden Aspekte der Angewiesenheit und des Vermögens in dieser Weise analytisch auseinanderzuhalten; beide zusammen sind Ausdruck einer insgesamt sehr engen Bindung an den Lebensraum. Was an Einzelheiten in der Wahrnehmung auftaucht, ist alles Teil einer auf das Subjekt hin zentrierten Welt.118
Wie gesagt, die holistisch-kontemplative Lebensweise hat ihren Höhepunkt im Wasser. Sie setzt sich aber auch nach der Entstehung des Landlebens - womit letztlich die Basis zu einer neuen Entwicklung gelegt wird - zunächst noch fort, wenn auch unter gewissen veränderten Bedingungen. Zu diesen gehören auf der Seite der Aussenwelt die terrestrische Topographie, die eine weitaus differenziertere Reizwelt als die aquatische Umgebung darstellt, auf der Seite der Organismen die weitere Verbesserung der Sinnes- und Bewegungsorgane, so dass eine erste Art kommunikativer Beziehung zum Lebensraum entstehen kann. Die fraglichen Lebewesen (insbesondere Reptilien und Vögel) sind aber insgesamt noch ausgesprochen instinktgebunden. Von Ditfurth bezeichnet sie als "Zwischenhirnwesen"; die Entwicklung der Zentrale ihres Nervensystems hat eine mittlere Stufe zwischen dem Hirnstamm und dem später bei den höheren Säugetieren sich entwickelnden Grosshirn erreicht. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass Aussenreize ganze Verhaltensprogramme auslösen, die aus zum Teil recht komplizierten Folgen von einzelnen Elementen bestehen können. So sind die Organismen immer noch nach dem bisherigen Prinzip direkt an eine Welt gebunden, die für sie eine direkte und unmissverständliche Bedeutung hat: "Der Zugvogel, der bei einer bestimmten Tageslänge vom Wandertrieb erfasst und vom blossen Anblick des Sternhimmels geleitet seinem südlichen Winterquartier zustrebt, weiss nichts von Zweifeln und kann sich nicht irren."119 "Geborgen, aber unfrei,"120 ist diese Art von Leben.

Anmerkungen

103
Dabei ist die Bedeutung der Sonnenstrahlung zunächst indirekter Art: Die einzelligen Lebensformen, die auf der Erde vor 3 bis 4 Mia. Jahren erstmals auftraten, ernährten sich von organischen Stoffen, die in der Zeit vor der Existenz einer schützenden Ozonschicht in der irdischen Atmosphäre durch die Wirkung der ultravioletten Sonnenstrahlung aus anorganischen Molekülen entstanden. Vor 2,5-3 Mia. Jahren entwickelten dann Mutanten dieser frühen Organismen die Fähigkeit, die Sonnenenergie in Form der Photosynthese direkt zu nutzen, was ihnen nunmehr erlaubte, eigenständig eine Synthese organischer Moleküle vorzunehmen (vgl. Rudolf Eichmann 1982, 84 ff. und Reichholf 1992, 25 ff.).
104
Råberg 1987, 83.
105
Vgl. Råberg 1987, 83-85.
106
Zuerst einzellige Protozoen, dann, ab der Zeit vor etwa 1 Mia. Jahren, mehrzellige Organismen. Nun spielt die Solarenergie wiederum nur eine indirekte Rolle, da eine tierische Existenz ja letztlich via Nahrungskette auf dem Verzehr von photosynthetisierenden Primärproduzenten aufbaut.
107
Vgl. von Ditfurth 1982, 80.
108
Der Begriff "vegetativ" bezieht sich - sofern die Auffassung akzeptiert wird, Voraussetzung für psychische Phänomene sei die Existenz von Nervensystemen mit einem bestimmten Grad von Komplexheit -, auf neurale Prozesse von noch vorpsychischer Art, die für die fraglichen Organismen noch keinerlei Erlebnischarakter haben.
109
Diese Aussage beruht auf der Annahme, dies sei die organische Vorausssetzung für die Entstehung des Psychischen als eines emergenten Phänomens (vgl. dazu Fussnote 15 und z.B. Searle 1994, 111 ff.). Die Emergenz-These ist aber nicht allseitig anerkannt, sie wird von Vertretern reduktionistischer Auffassungen (Beispiel: Jean-Pierre Changeux 1984) in Frage gestellt, die meinen, das Psychische sei aus seinen biophysischen (neuronalen) Grundlagen ableitbar.
110
Vgl. Råberg 1987, 65-67.
111
Vgl. von Ditfurth 1982, 50.
112
Wie von Ditfurth (1982, 136) bemerkt, endete aber die Sehbahn zunächst in einem archaischen Hirnteil, der bewusstes Erleben und so etwas wie optische Wahrnehmung einer gegenständlichen Umwelt noch nicht ermöglichte. In einem noch früheren Stadium hatte der Sehsinn einen diffusen Charakter, indem die Lichtsinneszellen noch über den ganzen Körper verteilt waren, so wie das heute noch z.B. bei den Regenwürmern der Fall ist (vgl. von Ditfurth 1982, 117).
113
Vgl. Råberg 1987, 67-71.
114
Tatsächlich mussten "vom ersten Augenblick ihrer Existenz an ... die lebenden Systeme in der Lage sein, zwischen verschiedenen Eigenschaften ihrer Umwelt zu unterscheiden. Lebensfähig waren sie nur insoweit und nur so lange, wie sie es fertigbrachten, die Umweltfaktoren zu erkennen, von denen sie zur Aufrechterhaltung ihres Stoffwechsels abhängig waren" (von Ditfurth 1982, 35).
115
Nach von Ditfurth handelt es sich "um eine Welt ..., in der nichts existiert, was ohne Bedeutung für das Subjekt wäre. Alles, was in dieser Wirklichkeit auftaucht, tut das ja dadurch, dass es auf den Organismus einwirkt. Deshalb ist jeder Teil, jeder Inhalt dieser Wirklichkeit, ohne jeden Rest, auf das Subjekt hin zentriert" (von Ditfurth 1982, 186).
116
Von Ditfurth 1982, 189.
117
Von Ditfurth 1982, 142.
118
Wie von Ditfurth illustrativ bemerkt, gleicht dies der Tastatur eines Klaviers, bei dem jede einzelne Taste nach Bedarf gedrückt werden kann. Dies im Gegensatz zur vorherigen Zwischenhirnexistenz, bei der gleichsam eine bestimmte Anzahl von Tonbandkassetten zur Verfügung stehen, die immer nur als Ganze abgespielt werden können (vgl. von Ditfurth 1982, 143).
119
Eine Fortpflanzung gab es natürlich schon bei den Einzellern, dort aber in vorwiegend vertikaler Form durch die fortgesetzte Teilung von individuellen Zellen. "Vorwiegend", weil bei Bakterien auch eine Vorform von Sexualität, "Konjugation" genannt, bekannt ist. Sie besteht aus einem direkten horizontalen Austausch von Erbinformation zwischen einzelnen Zellen (vgl. z.B. Jantsch 1984, 157 ff.). Nun aber kommt es zum horizontalen Genaustausch mit Hilfe der Verschmelzung von Keimzellen, die von Elterntieren geliefert werden.
120
Vgl. Hans Kummer 1992, 349.