Zum Schluss eine Anknüpfung an Gedanken von Ashley Montagu und von Georg Picht. Die Rede von der "spontanen Erfahrung" bei Naess mag uns an die Spontaneität von Kindern erinnern. Tatsächlich sagt denn auch Fromm: "Das Gegenteil der entfremdeten, verzerrten, ... falschen und gedanklich gebildeten Empfindung ist das unmittelbare, direkte, vollkommene Erfassen der Welt, das wir am Kind beobachten, bevor die Macht der Erziehung diese Form des Empfindens
verändert."245Montagu 1984, 15.
Wäre es möglich, dass wir davon etwas in das Erwachsenenalter hinüberretten könnten? Ja, sagt Montagu in seinem Buch "Zum Kind
reifen"246Vgl. Montagu 1984, 156 ff.
, der Mensch zeichnet sich gegenüber den andern Primaten sowieso durch Neotenie aus, durch ein Behalten kindlicher und jugendlicher Merkmale, die sich nicht nur auf den Körper, sondern auch auf das Verhalten
beziehen.247Montagu 1984, 157.
Zu den wertvollen kindlichen Verhaltensmerkmalen gehören: "Wissbegierde, ... Phantasie, Freude am Spiel, Aufgeschlossenheit, Experimentierbereitschaft, Flexibilität, Humor, Energie, Empfänglichkeit für neue Ideen, Ehrlichkeit, Lernwilligkeit, ... Liebebedürftigkeit und
Liebebereitschaft,"248Montagu 1984, 162.
alles Eigenschaften, die wir beim Erwachsenwerden in Gefahr sind zu verlieren, bzw. zu unterdrücken, da in unserer Zivilisation die Erziehung zum "erfolgreichen Individuum" Trumpf
ist.249Fromm 1971, 165.
Diese beschwört Separatheit, "wo Separatheit gar nicht existiert - wo nämlich in Wahrheit ein Zustand der Bezogenheit und Verbundenheit
besteht."250Fromm 1971, 164.
Aus unserer evolutionären Geschichte ergibt sich, wozu wir eigentlich aufgerufen wären: "als Kinder zu wachsen und uns zu entwickeln, nicht aber zu der Art von Erwachsenen zu werden, die wir angeblich werden sollen. Damit soll nicht gesagt sein, dass wir auf einer kindlichen Stufe der Entwicklung stehen bleiben müssten. Wir sind aber ... dazu bestimmt, jene Merkmale, die das Kind so sichtbar zur Schau stellt, unser ganzes Leben lang zu Wachstum und Entfaltung zu
bringen."251Picht 1979, 106. Er spielt damit wieder auf den schon in Abschnitt 5.1 genannten Gegensatz von Welt und Umwelt an. Welt ist also hier im von uns konstruierten Sinne zu verstehen.
Fromm drückt dasselbe differenzierter aus, indem es bei ihm nicht um ein Beibehalten, sondern um einen Wiedererwerb geht: "Wir müssen wieder zu Kindern werden, um die Welt unentfremdet und schöpferisch zu erfassen; aber während wir zu Kindern werden, sind wir gleichzeitig keine Kinder, sondern vollentwickelte
Erwachsene."252Daisetz Teitaro Suzuki 1971, 26.
Damit wird auch sein paradox klingender Satz: "... die ... Rückkehr zur Unschuld ist nur möglich, nachdem man seine Unschuld verloren hat" verständlich.253
Würde dies uns gelingen, nämlich "erwachsene Kinder" zu werden, könnten wir damit rechnen, einer Dissoziation von Gefühl und Verstand zu entgehen, d.h. ein integratives Zusammenwirken unserer verschiedenen Bewusstseinsebenen beibehalten bzw. wiederbeleben zu können. Wissen und Identität wären dann auch nicht zwei voneinander getrennte Phänomene, sondern würden ineinander übergehen. Ein ausgleichendes Zusammenwirken von Geist und Natur in uns selbst und eine ausgewogene Orientierung an der Innen- und der Aussenwelt durch Vermittlung des praktischen Bewusstseins können zwischen dem Universellen und dem Besonderen vermitteln und das Tun so anleiten, dass dieses in Kunstwerken in einem ganz allgemeinen Sinne resultiert. Dazu Picht: "Kant und in seiner Nachfolge Hegel haben ein wesentliches formales Merkmal, durch das sich das Kunstwerk vom Gedankengebilde unterscheidet, entdeckt und auf ihre Weise ausgearbeitet: das Kunstwerk hat nicht die Struktur der 'Idee', sondern die Struktur des 'Ideals'. Das Wesen der Idee zeigt sich in ihrer Allgemeinheit. Im Ideal hingegen manifestiert sich die allumfassende Einheit 'in individuo'. ... Der Gegensatz von Umwelt und Welt, von Zeitlichkeit und Ewigkeit, ist aufgehoben. Wo Schönheit erscheint, befindet sich die Umwelt im Einklang mit der Welt."254 Erinnern wir uns doch noch einmal an das früher über die Harmonie traditioneller Landschaften und Siedlungen Gesagte, in denen dieses Prinzip offenbar noch Ausdruck gefunden hat. Wir alle sind damit angesprochen: "... wir sind von Natur aus so beschaffen, dass wir alle Künstler sein können - natürlich nicht bestimmte Künstler wie Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter usw., sondern Künstler des Lebens."255