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5.3 Das Unbewusste: Angst vor ihm und Angst mit ihm

Bei der Betrachtung von Aspekten der biologischen Evolution haben wir, der Vorstellung von Råberg folgend, für das Stadium der Fische eine "ökologische Orientierung" holistischer Art postuliert. Die biologische Evolution in der Entwicklungslinie der Fische - Amphibien - Reptilien - Säugetiere - Mensch gestaltet sich im wesentlichen so, dass neue Phänomene zu den alten dazustossen, wobei diese nicht verdrängt, sondern modifiziert werden - jedenfalls scheint dies für die uns hier interessierende Bewusstseinsentwicklung und ihre organische Basis, die Entwicklung der Nervensysteme und Gehirne, offensichtlich zu sein. Daher ist zu vermuten, dass in einem gewissen Sinne eine Art von "Fischbewusstsein" in uns noch mitspielt. Versuchen wir etwa, wenn wir uns in einem Samadhi-Tank einschliessen, dieses zu rekonstruieren? Wie Råberg betont, ist allerdings für uns die Erfahrung einer echten Einheit mit dem ökologischen Raum nicht mehr möglich, aber in Augenblicken eines ästhetischen Überwältigtseins oder eines mystischen Erlebnisses kann wenigstens die vorübergehende Illusion einer holistischen Verschmelzung erreicht werden.159 Aber auch wenn die Illusion nicht anhält, können derartige Erfahrungen unseren Bewusstseinszustand nachhaltig beeinflussen. Wir können im meditativen Umgang mit unserer inneren Natur und im kontemplativen Umgang mit der äusseren Natur solche Erfahrungen suchen. Allerdings können wir uns nicht darauf programmieren; wir werden nicht immer finden, was wir suchen, und umgekehrt können uns nicht gesuchte Eindrücke plötzlich überkommen. Entscheidend ist, dass wir dafür offen bleiben.
Eine vermutlich wichtige Voraussetzung dafür, dass wir eine derartige Offenheit entwickeln können, ist die Möglichkeit, immer wieder Ruhe zu finden. Offensichtlich steht die heutige Alltagshetze ihr im Wege. Wenn wir uns trotzdem die Zeit für beschauliche Perioden nehmen können, ist das nächste Hindernis klarerweise das, dass es die heutige Zivilisationslandschaft mit ihren Betonwüsten und Lärmkulissen schwer hat, unsere Sinne in einem positiven Sinne anzuregen. Und zum Teil haben wir auch verlernt, überhaupt uns von unsern Sinnen noch anregen zu lassen. Dies mag damit zusammenhängen, dass wir schon als Kinder wenig Gelegenheit dazu hatten. Damit ist ein äusserst kritischer Punkt unserer modernen Zivilisation angesprochen. Kinder sind gewissermassen ein Bioindikator für den Zustand unserer Aussenwelt. Für Kinder haben Naturerfahrungen - und sie können solche schon in frühem Alter ohne irgendeine pädagogische Beeinflussung machen160 - eine wichtige konstitutive Bedeutung. Mit Bezug auf H.F. Searles161 weist Gebhard darauf hin, dass das frühkindliche Einheitserleben nicht nur die primären Bezugspersonen betrifft, sondern alle Objekte, auch die der nichtmenschlichen Aussenwelt.162 Und er sagt: "Wenn es richtig ist, dass die Erfahrung, die das kleine Kind mit den primären Objekten macht, wesentlich die spätere Persönlichkeit, das Lebensgefühl, das Urvertrauen ... bestimmt, dann wird eben dieses Lebensgefühl auch von der Art und Qualität der nichtmenschlichen Umwelt geprägt sein, wobei wir freilich wenig darüber wissen, welche Art von nichtmenschlicher Umwelt die kindliche Entwicklung eher fördert."163 Negativ ausgedrückt sagt er dazu aber an anderer Stelle: "Es wird sich ... zeigen, dass Kinder aufgrund ihrer Sensibilität gegenüber der menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt sehr deutliche Hinweise geben, welche (seelischen) Folgen die Distanzierung und Entfremdung von der Natur hat."164 Ein gewisser Streitpunkt ist dabei die Frage, in welcher Weise Kinder Natur überhaupt wahrnehmen können. Gebhard verweist auf eine niederländische Studie, die zum Schluss kommt, dass eine schöne Landschaft Kindern nicht ein ästhetisches Vergnügen bereitet, sondern in erster Linie eine Einladung zum Spielen darstellt.165 Dies würde heissen, dass Natur in erster Linie für das praktische Bewusstsein von Kindern von Bedeutung ist und weniger deren Unbewusstes anspricht. Aus anderen Quellen stammt aber die Meinung, dass ästhetische Empfindungen durchaus auch bei Kindern an ihrem Interesse für Natur beteiligt sind.166
Mit der Tatsache, dass die zunehmende Urbanisierung unserer Lebensweise uns und unsere Kinder daran hindert, Natur aus erster Hand und täglich erfahren zu können, ist die eine Seite des heutigen Problems angesprochen, nämlich die zunehmende Absenz der Möglichkeit, natürliche Umwelt in positivem Sinn erleben zu können. Die andere Seite besteht in den negativen psychischen Auswirkungen, die das direkte sinnliche Gewahrwerden von Umweltzerstörung oder - heute fast häufiger, da viele Umweltprobleme, z.B. zirkulierende Schadstoffe, Radioaktivität, nicht mehr sinnlich wahrnehmbar sind - die indirekte Information über die Medien in uns bewirken kann. Dabei empfinden wir die zunehmenden Schäden als wachsende Bedrohung von uns selbst, ob zu Recht oder zu Unrecht macht keinen Unterschied, entscheidend sind die subjektive Wahrnehmung und ihre Auswirkungen; diese sind auf alle Fälle real.167
Das Gefühl der Bedrohung durch die sich verschlechternde Umweltsituation erzeugt Angstzustände. Nun gehört Angst stammesgeschichtlich zur normalen Lebensausstattung, ja sie hat, indem sie eben als Signal für drohende Gefahr dient, eine lebenssichernde Funktion.168 Dies mag nicht nur für unser vergangenes Wildbeuter-Dasein, sondern auch für unsere heutige Situation gelten.169 Diese Funktion ist damit zu respektieren, indem Angst zur kreativen Quelle von Veränderung werden kann. Unser Verhängnis scheint zu sein, daß wir uns genau dieser Chance begeben, solange wir uns von der in unserer Zivilisation dominanten Haltung überzeugen lassen, wonach nur das Mentale und Diskursive, nicht aber das der angeblichen Irrationalität des Unbewußten entspringende Gefühlhafte und Intuitive Vertrauen verdienen. Zwar gesellen sich zur Existenzangst wegen der äußeren Bedrohung auch Gewissensangst, weil wir uns als Mittäter bei der Naturzerstörung empfinden, und auch Versagensangst, weil wir gleichzeitig den Eindruck haben, daran doch eigentlich nichts ändern zu können, aber wir begegnen diesen Ängsten damit, daß wir sie leugnen.170 Bauriedl schildert die Situation so: „Politiker ... haben von Berufs wegen dafür zu sorgen, daß sie selbst nicht ängstlich erscheinen und daß die Bevölkerung beruhigt und zufrieden sein kann. Psychoanalytiker ... haben dagegen dafür zu sorgen, daß unbewußte Ängste beim Patienten ans Tageslicht gebracht, als ‚neurotisch' erkannt und dadurch aufgelöst werden."171
Allerdings kann zu starke und andauernde Angst auch einen evolutionär gesehen dysfunktionalen Charakter annehmen, dann nämlich, wenn sie Handlungsmöglichkeiten lähmt oder verhindert.172 Hier ist entscheidend wie die Reaktion auf Angst ausfällt. Die Psychologie unterscheidet aktive von passiven Bewältigungsversuchen.173 Die ersteren sind nach aussen gerichtet, sie zielen auf die Modifikation oder Elimination der Quelle der Bedrohung; sie werden "Coping-Mechanismen" oder "problem-zentrierte Bewältigungen" genannt. Nun ist aber natürlich die Umweltsituation so, dass diese Art der Reaktion meist nicht möglich ist, jedenfalls nicht in sehr direkter Weise. Damit wird die passive Haltung wahrscheinlicher. Sie ist nach innen gerichtet, indem sie innerpsychische Abwehrstrategien aktiviert, im Fachjargon 'Defence-Mechanismen' oder 'emotionszentrierte Bewältigungen' genannt. Bei anhaltenden negativ getönten Emotionen ist aber die Psyche bald in Gefahr, ihre Balance zu verlieren. Gefühle von Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht können die Folge sein, eventuell aber auch ein Rückzug in Resignation, Apathie oder Depression, allenfalls sogar Selbstmord.174
Das Schlimme bei dieser Sachlage ist, dass wiederum Kinder, dann auch Jugendliche besonders darunter zu leiden scheinen. Klaus Boehnke und Michael J. Macpherson haben in den Jahren 1985 - 1992 in Form einer Befragung von jungen Menschen im Alter von 8 - 20 Jahren eine Längsschnittstudie "Leben unter atomarer Bedrohung" durchgeführt.175 Entsprechend der Entspannung in der globalen politischen Lage und der Verschlechterung der Umweltsituation, die in diesem Zeitraum stattgefunden haben, hat die Kriegsangst abgenommen (1985 wurde sie von 50,5%, 1992 nur noch von 12,2% der Befragten genannt), die Angst infolge der Umweltzerstörung jedoch zugenommen (1985: 4%, 1992: 21,7%).176 Petri weist darauf hin, dass von der jungen Generation häufig folgende Bilder zur Kennzeichnung der gegenwärtigen Situation genannt werden: "Beton, Hochhäuser, Plastik, Fabriken, Roboter, Computer und Technik allgemein." Und er fährt fort: "Soweit sie gefühlsmässig negativ besetzt sind, lassen sie sich als Symbole menschlicher Entfremdung deuten. Sie sind mit der Aufkündigung von Emotionalität, Wärme, Nähe und Zusammengehörigkeit verbunden und drücken darin ein Grundgefühl von Trennung und Getrenntsein aus."177
Im übrigen zeigen Frauen und Mädchen einen stärkeren Grad der emotionalen Betroffenheit infolge der Umweltsituation als Männer und Jungen,178 umgekehrt ist die Verantwortung für die Umweltsituation auf der männlichen Seite zu suchen: "Wir haben zu realisieren, dass das unaufhaltsam anwachsende destruktive Potential ... ausschliesslich von Männern ... inszeniert wird."179

Anmerkungen

159
Gebhard 1994, 21.
160
Gebhard 1994, 21.
161
Gebhard 1994, 13. Und er beruft sich auf eine Publikation des deutschen Bundesministers für Raumordnung von 1980, in der H. Zinn sagt: "Ein Mangel an primären Naturerfahrungen in der 'sensiblen' Altersphase, in der Kinder für Natureindrücke besonders empfänglich zu sein scheinen, kann wahrscheinlich durch keine noch so stimulierende Ersatzwelt kompensiert und später wohl auch nicht aufgeholt werden. Entwicklungsstörungen ... sind also bei Kindern, die keine Gelegenheit hatten, Naturerfahrungen zu sammeln, nicht auszuschliessen ..." (Gebhard 1994, 72).
162
Vgl. Gebhard 1994, 76.
163
Vgl. Gebhard 1994, 168. Z.B. berichtet der norwegische Ökophilosoph Arne Naess über seine Kindheit folgendes: " From when I was about four years old until puberty, I could stand or sit for hours, days, weeks in shallow water on the coast, inspecting and marvelling at the overwhelming diversity and richness of life in the sea ... Feeling apart in many human relations, I identified with nature" (Naess 1993, 2). Ich selbst erinnere mich an ein Erlebnis, das ich mit 7 Jahren hatte. Die Familie ging nach Mürren im Berner Oberland in die Sommerferien. Auf der Fahrt mit der Seilbahn aus der Tiefe des Lauterbrunnentales nach oben tauchte das Panorama der schneebedeckten Berge auf. Ich sah diese zum ersten Mal - jedenfalls bewusst - und ich war von ihrer Schönheit schlicht überwältigt.
164
Dabei gilt sowieso: "Die Unterscheidbarkeit unsinniger und sinnvoller Ängste wird stark eingeschränkt durch die Grenzen wissenschaftlichen Wissens" (Fritz Gloede 1993, 251).
165
Vgl. Horst Petri 1992, 113, und Felix Tretter 1993, 293.
166
Hans Ruh weist auf das Paradoxe der Situation hin: „Der aufgeklärte Mensch, der auszog, die Natur zu besiegen, steht wieder dort, wo er als unaufgeklärter angefangen hat: umstellt von Angst vor der Natur"(Ruh, 1993).
167
Vgl. dazu Sigrun Preuss, 1993, 221-222.
168
Bauriedl, 1986, 29.
169
Vgl. Tretter 1993, 293.
170
Siehe dazu Petri 1993, 121, und Frank M. Ruff 1993, 97.
171
Vgl. Petri 1992, 125, 127. Als weitere Möglichkeiten einer Reaktion nennt Petri a) die Freisetzung aggressiver Triebkräfte; er weist in diesem Zusammenhang auf die heute unter Jugendlichen, ja schon unter Kindern eskalierenden Gewaltphänomene hin; b) psychosomatische Erkrankungen wie Allergien, Asthma, Hautkrankheiten und Magen-DarmStörungen (siehe Petri 1992, 124, 127).
172
Siehe Klaus Boehnke und Michael J. Macpherson 1993. Die Frage zielte auf die Nennung der drei Bereiche, die am meisten Angst einflössen.
173
Dabei ist zu beachten, dass die Bewertung der Umweltsituation stark kulturell geprägt zu sein scheint. Die genannten Zahlen gelten für Deutschland (Boehnke und Macpherson 1993, 169). Eine internationale Vergleichsstudie zeigt, dass die Umweltzerstörung z.B. in Österreich von 31,1% der Befragten als angstauslösend genannt wurde, in den USA dagegen von niemandem! (Vgl. Boehnke und Macpherson 1993, 170).
174
Petri 1992, 117-118.
175
Siehe Michael Hüppe und Wilhelm Janke 1993. Dieser Befund weist auf Zusammenhänge zwischen Bewusstseinsökologie und Geschlechterproblematik hin. Wie schon früher bemerkt, befasse ich mich hier damit nicht weiter, da ich diesem Thema einen separaten Artikel gewidmet habe (Steiner 1994).
176
Petri 1992, 140.
177
Im wesentlichen wären damit umweltpolitische und umweltökonomische Massnahmen angesprochen.
178
Damit ist also auch nicht eine Rückkehr zu den holistischen Weltbild-Varianten der Antike und des Mittelalters gemeint, bei denen von Ganzheiten ausgegangen wurde. Man könnte aber sagen, dass eine Simultaneität von Teilen und Ganzen postuliert wird. Zu den verschiedenen Typen von Weltbildern siehe Steiner 1996c.
179
Dies heisst natürlich nicht, dass das Unbewusste als Unbewusstes eine anleitende Funktion übernehmen soll oder kann, sondern nur dadurch, dass im Kontakt mit ihm Inhalte ins Bewusstsein gelangen können.