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5.1 Diskursives Bewusstsein: Die Welt vergewaltigt die Umwelt146

Bei der Besprechung des diskursiven Bewusstseins haben wir festgestellt, dass die menschliche Sprache ein Mittel zur Versachlichung der Erscheinungen der Aussenwelt ist, womit sie, sofern damit ein Drang zur Praxis verbunden ist, ihrer Instrumentalisierung Vorschub leistet. Dies ist zunächst eine Grundtatsache und müsste nicht mit negativen Vorzeichen verbunden sein, wenn sich bei einer solchen Praxis die Kräfte der unteren Bewusstseinsebenen in einem ausgleichenden Sinne bemerkbar machen könnten. Gerade dies ist aber heute nicht mehr der Fall. Der höhere Status, der dem diskursiven Bewusstsein (als dem Rationalen im engern Sinn verstanden) zugesprochen wird, führt zur Abgehobenheit von der unmittelbaren Erfahrung der Aussenwelt und von der inneren Natur. Diese wird dadurch gefördert, dass die Möglichkeiten der systematischen Sprachmanipulation zur Angelegenheit kollektiver Unternehmen werden, die nach universalen Theorien streben. Diese werden dann ihrerseits, wenn sie zur Anwendung gelangen und also die Aussenwelt beeinflussen und umgestalten, einer Globalisierung äusserer Umstände Vorschub leisten. Irgendwann besteht dann das Problem darin, dass diese Konstellation nicht nur an sich zu zerstörerischen Folgen hat, sondern dass zusätzlich diese kollektiven Unternehmen einen systemischen Charakter mit Eigendynamik angenommen haben, der für die Teilnehmenden immer deutlicher zu einer Zwangssituation wird.
Das Paradebeispiel für ein derartiges kollektives Unternehmen bzw. System ist die Wissenschaft. Sie kann dem Menschen die Möglichkeit von Weltoffenheit offerieren, was ein ausschliessliches Positivum sein könnte, wenn das von ihr erzeugte Wissen bloss der spekulativen Neugier dienen würde. Wie wir aber wissen, hat die neuzeitliche Wissenschaft einen eminent technischen Charakter; sie möchte praktisch umgesetzt werden. Nach Georg Picht ist nun das Problem grundsätzlich darin zu sehen, dass das in der Wissenschaft repräsentierte menschliche Wissen ein Wissen ist, das aus der irdischen Natur herausgetreten ist und gewissermassen den Status einer göttlichen Vernunft angenommen hat. Diese Überhöhung hat ihren Preis: "Es besteht eine unüberbrückbare Antinomie zwischen dem Regelsystem, nach dem sich die Wissenschaft logische Konsistenz verschafft, und dem Gefüge eines offenen, sowohl nach aussen wie in sich selbst bewegten Ökosystems, ... Das Grundproblem der Humanökologie ist deshalb nicht die Ökologie des Menschen als 'zoon', sondern die Integration seines 'logos' in das Gefüge seines Ökosystems."147 Mit andern Worten, die Strukturen des wissenschaftlichen Denkens stimmen nicht mit den Strukturen der realen Lebensräume, von denen wir letztlich abhängen, überein; es besteht, wie Picht sagt, eine Diastase zwischen Welt und Umwelt, die von der Wissenschaft negiert wird: "... das naturwissenschaftlich-technische Denken der europäischen Neuzeit ... projiziert die Ordnung der Welt in die Umwelt und transformiert deren aus der Evolution hervorgewachsene Organisation nach den Prinzipien einer Rationalität, die sich der Diastase zwischen Umwelt und Welt dadurch entledigt hat, dass sie die Struktureigentümlichkeiten der Umwelt ausblendet und, soweit dies möglich ist, beseitigt."148
Die Existenz von Wissenschaft in moderner Form ist aber, wie schon angedeutet, nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Möglichkeit von ökologischer Zerstörung in globalem Ausmass. Damit es dazu kommt, braucht es den Versuch der praktischen Umsetzung von wissenschaftlichen Ergebnissen. Solche Ergebnisse stellen zunächst - theoretisch wenigstens - interesseloses Wissen dar. Dieses wird dann aber einem Ingenieurwesen (inkl. "social engineering") zur Verfügung gestellt, das daraus praktikable Techniken ableitet, die ihrerseits wiederum an das Wirtschaftssystem zur massenhaften Anwendung weitergereicht werden. Spätestens hier sind handfeste Partikularinteressen im Spiel. Und die Wissenschaft kann heute nicht mehr ihre grundsätzliche Unschuld beteuern, insofern sie selbst begonnen hat, mit einem Seitenblick auf Forschungsgelder und Prestige sich dem Sog der Wirtschaft auszuliefern. Das Wirtschaftssystem in seiner heutigen Form hat sich zum gefährlichsten der kollektiven Systeme entwickelt; es drängt ohne Ansehen von Erdregion und Kultur nach Globalisierung und entfaltet derart eine Art homogenisierende Zerstörung149. Dabei fühlen sich seine Vertreter auf sicherem Boden, da das Funktionieren des Systems durch einen wissenschaftlichen Unterbau, der Anspruch auf universelle Gültigkeit erhebt, legitimiert wird. Hat Picht oben bei seiner Kritik der Wissenschaft vor allem an die Naturwissenschaften gedacht, die, obschon sie Naturwissenschaften sind, nicht die Fähigkeit entwickeln, auf die Natur lokaler Ökosysteme gebührend Rücksicht zu nehmen, ist hier die Situation noch insofern schlimmer, als die wirtschaftswissenschaftliche Theorie für das Verhalten des Wirtschaftssystems (also eines sozialen Systems!) eine Naturgesetzlichkeit und damit eine Zeitlosigkeit suggeriert, die in seltsamem Kontrast zur Schnelllebigkeit unserer Zeit steht. Dass dann noch immer die Tendenz besteht, die Abhängigkeit dieses Systems von ökologischen Rahmenbedingungen zu ignorieren, vervollständigt das Bild der "splendid isolation", in der sich die Wirtschaftstheorie befindet.
Am Rande sei erwähnt, dass es, gewissermassen nach dem Vorbild der Wissenschaft, auch im Bereich der Moraltheorie einen Trend zum Universalismus gibt, der dann in Konflikt mit kontextualistischen Auffassungen geraten kann, die eine Einbindung in lokale kulturelle und soziale Bedingungen fordern. Ein solcher Konfllikt kommt z.B. in der bekannten Kontroverse zwischen Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan zum Ausdruck.150 Kohlberg hat eine angeblich universell gültige Theorie der ontogenetischen moralischen Entwicklung aufgestellt, bei der die Zielstufe einen Zustand repräsentiert, in dem Individuen fähig sind, in abstrahiertem Stil in einem theoretischen Umfeld von "verallgemeinerten Anderen" Gerechtigkeitsüberlegungen mit Reziprozitätscharakter anzustellen.151 Bei Gilligan dagegen handelt es sich um Entscheidungen im Rahmen einer Fürsorgemoral, die nicht losgelöst von den relevanten menschlichen Beziehungen vorgenommen werden können.152
Zusammenfassend: Das auf die Welt bezogene explizite Wissen kommt, insofern es in theoretischer und abstrakter Form von den unmittelbaren Lebenszusammenhängen losgelöst ist, einer lebensräumlichen Entfremdung gleich. Diese kann umweltzerstörende Auswirkungen haben, wenn aus solchem Wissen auf Einzelheiten der Umwelt gerichtete Handlungsweisen entstehen, die sich nicht in einen Sinnhorizont ökologischen Zuschnitts einordnen lassen.

Anmerkungen

146
In Steiner 1996a habe ich zu diesem Phänomen ausführliche Stellung bezogen. Ich stelle dabei dem Trend zur Globalisierung die Notwendigkeit einer Regionalisierung entgegen. Im gleichen Band widerspricht Rolf Weder (1996a) als Vertreter der Mainstream-Ökonomie dieser Ansicht. Es sei im Gegenteil die globale Marktwirtschaft, die dank internationaler Arbeitsteilung und der Ausnutzung komparativer Vorteile einen effizienten Ressourcengebrauch und damit eine Lösung der ökologischen Probleme ermögliche. Zusätzlich zur Darstellung der eigenen Position liefern die beiden Autoren auch eine kurze gegenseitige Kritik derselben (Steiner 1996b und Weder 1996b).
147
Siehe dazu Steiner 1994, 219-227. Zu beachten ist, dass diese Kontroverse sehr grundlegend mit der Geschlechterproblematik in unserer Zivilisation verknüpft ist!
148
Hinsichtlich der Theorie von Lawrence Kohlberg siehe z.B. die Zusammenfassung bei Detlef Garz 1989, 154 ff.
149
Vgl. Carol Gilligan 1991, siehe auch Garz 1985, 177 ff.
150
Vgl. dazu Peter Weichhart 1990, der sich ausführlich mit dem Thema auseinandergesetzt hat.
151
Vgl. dazu den Hinweis auf menschliches, an Ökoregionen orientiertes Handeln bei Gerhard Bahrenberg und Marek Dutkowski 1993 und bei Steiner 1996a, 266-270.
152
Diana Paul 1984, 73, zitiert in Jeremy W. Hayward 1990, 282. Aspekten der buddhistischen Bewusstseinslehre werden wir uns im folgenden letzten Kapitel noch etwas ausführlicher zuwenden.