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4.4.3 Die mythische Stufe140

Auf ihr wird nun das Bestehen einer Innenwelt in Form der Seele, des Unbewussten, bewusst. So kann die mythische Existenz als ein schweigendes Nach-Innen-Sehen verstanden werden, eine Art traumhafte Orientierung, die imaginative Bildvorstellungen produziert. Diese werden auf die Aussenwelt übertragen, auch, oder vor allem auch, auf die nichtmenschliche Aussenwelt. Dass hinter den Erscheinungen dieser Aussenwelt dann personenhafte, also menschenähnliche Gestalten, als agierende Kräfte vermutet werden, kann, wie Günter Dux vermutet, damit zu tun haben, dass die Urerfahrung eines neugeborenen Menschen seine Hilflosigkeit und damit Abhängigkeit von der Mutter als pflegender Person ist.141 Das würde aber heissen, dass bei der Gestaltung des mythischen Bewusstseins die praktische Bewusstseinsebene mit ihrer Ausrichtung an Erfahrung und Lernen eine wesentliche Bedeutung hat. Umgekehrt dienen mythische Vorstellungen zur Formierung des praktischen Bewusstseins, indem sie eine lebensumgreifende Bedeutung haben: Mythische Erzählungen, die immer auch auf Naturereignisse wie z.B. die Jahreszeiten bezogen sind, werden in kollektiven Ritualen nachempfunden, womit sie natürlich gleichzeitig auch auf die Gefühlsebene des Unbewussten zurückwirken. Entscheidend ist hier die Möglichkeit der Entstehung von Ich-Du-Beziehungen, zunächst hinsichtlich des Mitmenschen,142 dann aber auch in bezug auf andere Lebewesen, was sich z.B. in totemistischen Vorstellungen äussert. Insgesamt können wir für diesen Bewusstseinszustand sagen, dass das praktische Bewusstsein eine wichtige Rolle spielt, allerdings nur vordergründig und nicht dominierend: Es bekommt seine Anleitungen noch weitgehend vom Unbewussten. Dieses ordnet menschliche Erfahrungen in grössere Zusammenhänge ein. Damit liegt ein Zusammenwirken einer Orientierung an der Welt (im Sinne der Weltgebundenheit) mit einem solchen an der Mitwelt vor. Eine immer noch stark holistische Identität steht in Wechselwirkung mit einer Ausrichtung an sozial-kommunikativen Strukturen, wobei, dies ist zu betonen, sich diese Ausrichtung auch auf die nicht-menschliche Mitwelt erstreckt.

Anmerkungen

140
Vgl. Gebser 1949, 123 ff.
141
Gebser 1949, 163.
142
Gebser beschreibt es so: "Die heutige Situation zeigt einerseits einen ins Extrem gesteigerten Individualismus rein egozentrischen Charakters, der alles haben will, andererseits einen ins Extrem gesteigerten Kollektivismus vermassenden Charakters, der alles zu sein sich anmasst; hier herrscht eine vollständige Geringschätzung des Individuums, das nicht einmal mehr als Nummer bewertet wird, dort eine Überbewertung des Individuums, dem alles gestattet wird, wenn es nur dazu fähig ist" (Gebser 1919, 7). Und Portmann drückt sich ähnlich, wenn auch drastischer aus: "Die unabsehbare Steigerung des bewussten Lebens, der Ich-Funktionen... muss zu völlig krankem Menschsein führen, zu einseitiger Hypertrophie der Ich-Position, zu grauenvoller Vereinzelung und Vereinsamung und damit zum Umschlag, zu rauschhafter Preisgabe dieser Ich-Vorzüge in Massenpsychosen von ungeahnten Ausmassen, gegen welche die einstigen Epidemien harmlose Störungen waren" (Portmann 1963, 258).